G. Seelentag: Das archaische Kreta

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Titel
Das archaische Kreta. Institutionalisierung im frühen Griechenland


Autor(en)
Seelentag, Gunnar
Reihe
Klio. Beihefte zur Alten Geschichte. Beihefte N.F. 24
Erschienen
Berlin 2015: de Gruyter
Anzahl Seiten
623 S.
Preis
€ 119,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Ganter, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Wie ein Motto stellt Gunnar Seelentag seiner überarbeiteten Habilitationsschrift ein Zitat seines ersten akademischen Lehrers Hans-Joachim Gehrke voraus: „So spiegelt die Geschichte Kretas die Geschichte Griechenlands insgesamt wie in einem Hohlspiegel wider: Alles ist da, nur größer und deutlicher.“ (S. 33)1 Das Zitat selbst ist ein Hohlspiegel dafür, in welcher Tradition die Monographie steht und welcher Stellenwert ihr zukommt: Inspiriert wurde sie durch Seelentags akademische Sozialisation in Freiburg und Köln. Denn sie stellt einerseits einen gewichtigen Beitrag zum ‚Dritten Griechenland‘2 dar und genügt somit der Tendenz der Forschung, jenseits etablierter Meisternarrative insbesondere zur athenischen Geschichte regionale Diversität zu betonen. Zugleich bleibt Seelentag nicht bei der Beschreibung regionaler Phänomene stehen, sondern bettet seine Ergebnisse in einen bemerkenswert weiten Rahmen der griechisch-römischen Antike ein, um Kreta als ein Beispiel bzw. Sonderfall für griechische Institutionalisierungsgeschichte zu deuten. Andererseits tragen seine Terminologie, so etwa die „Prominenzrollen“ der Aristoi (S. 77) oder die Gelzersche „Gehorsamstiefe“ (S. 506 u. S. 522), das Konzept von Staatlichkeit und Institutionalisierung3 sowie die Vergleichsfolie des römisch-republikanischen Senats die Handschrift seines zweiten akademischen Lehrers, Karl-Joachim Hölkeskamp: Simmels soziologisches Begriffspaar von Konkurrenz und Konsens vermag nicht nur das Agieren der römischen Nobilität zu beschreiben, sondern dient auch als Brille, um kretische Bürgerstaatlichkeit zu charakterisieren (wie schon die Überschrift zu Kapitel XIII „Konsens über die Konkurrenz“ verdeutlicht).

Ein „Hohlspiegel“ ist die Arbeit auch wegen ihrer bedeutsamen synthetischen Leistung. Gerade vor dem Hintergrund, dass Kreta in den letzten Jahren in den Fokus verschiedenartiger altertumswissenschaftlicher Forschung gerückt ist, markiert die Studie einen Meilenstein. Ausgehend von den archaischen kretischen Inschriften diskutiert sie aus althistorischer Perspektive mit Hilfe von Modellbildung, wie der Gesamtbefund im Hinblick auf Institutionalisierungsprozesse im archaischen Kreta verstanden werden kann. Eine solche Synthese wird in Einzelergebnissen Widerspruch herausfordern, unter anderem auch deshalb, weil die mannigfaltigen archäologischen Zeugnisse Kretas ob ihrer Fülle im Einzelnen nicht einbezogen werden konnten. Damit ist die Modellbildung als solche – die wohlgemerkt bei intensiver Diskussion der Inschriften stattfindet – keineswegs diskreditiert, im Gegenteil: Erst Synthesen ermöglichen es, übergreifende Fragestellungen in den Blick zu nehmen.

Kreta stellt insofern ein Beispiel für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dar, als die archaische Periode der Insel später anzusetzen ist als in anderen Regionen Griechenlands. Viele der hier behandelten Inschriften stammen aus einer Zeit, die in der Regel als „klassische“ Epoche der griechischen Geschichte bezeichnet wird. Aber da die Inschriften „Werden, nicht Ausgereiftheit“ und „die Prekarität von Institutionen, nicht deren Blüte“ (S. 19) zeigen, lässt sich die kretische Archaik mit Seelentag überzeugend vom 7. bis zum 4. Jahrhundert v.Chr. datieren, womit dann auch literarische Quellen als zeitgenössische Zeugnisse gelten können (S. 16f.). Es geht um einen akteurszentrierten Ansatz der Institutionalisierung, um die Einordnung entstehender Ämter, Ratsgremien, Versammlungen und Verfahren vor dem Hintergrund der Frage, ob Druck aus dem Demos auf die Aristoi Institutionalisierungsschübe veranlasste oder ob primär die Einhegung von Konkurrenz der Aristoi untereinander dafür verantwortlich war.

Die Studie untergliedert sich in drei Einheiten mit insgesamt dreizehn Unterkapiteln. Ausführliche Register sind angesichts des monumentalen Werks ebenso hilfreich wie eine ausführliche Zusammenfassung der zentralen Gedanken zu Beginn der Monographie (S. 21–33). Der Block „Zur Methode“ (S. 11–128) behandelt nach einer Einführung („I. Das archaische Kreta im Kontext unserer griechischen Geschichte“) zunächst „II. Materielle Kultur und kulturelle Praktiken“. Seelentag interpretiert die kretischen Dark Ages im 6. Jahrhundert v.Chr. mit ihrem Rückgang des Votivaufkommens und des materiellen Befunds überhaupt als Wandel kultureller Praktiken, in dem sich eine Besonderheit Kretas manifestiere: Ein Grund dafür, dass auf Kreta „die wohl einzige griechische Gesellschaft, in der es den Aristoi gelang, eine stabile, da institutionalisierte Adelsherrschaft auf Dauer zu stellen“ (S. 57), auszumachen sei, liege darin, dass kretische Aristoi darauf verzichteten, ihre Überlegenheit in materieller Form zur Schau zu stellen. In Kapitel III „Institutionalisierung und Bürgersstaatlichkeit – Eine epische Perspektive“ wendet sich Seelentag gegen die Meistererzählung einer teleologischen Entwicklung zur klassischen Polis oder gar athenischen Demokratie; als Folie für die Deutung des kretischen Befunds werden die Epen herangezogen. Zu einer Leitfrage der Studie positioniert Seelentag sich bereits hier: Die Initiative zur Ablösung personengebundener Leitungsfunktionen durch eine Versachlichung von Kompetenzen schreibt er der sozial überlegenen Schicht zu (S. 92). Das Kapitel IV „Politeia – Die strukturelle Ähnlichkeit kretischer Politien“ exponiert die Quellengrundlage und zeigt auf, dass alle kretischen Poleis mit ähnlichen Problemen befasst gewesen seien, nämlich schwach ausgeprägter institutioneller Macht und Bemühungen, eine heterogene Bürgerschaft über Alteritätskonzepte zu einer Gruppe mit gemeinsamer Identität aneinander zu binden.

Im zweiten Block, „Institutionen der politischen Entscheidung“ (S. 129–268), befasst sich Seelentag zuerst mit der Etablierung von Ämtern im Sinne der Einhegung von Macht einzelner Personen („V. Kosmos – Institutionen konturieren“). Erneut kommt er zu dem Schluss, dass sich die Eliten des abstrakten Konzepts der Polis angenommen und so Institutionalisierung vorangetrieben hätten (S. 143): eine plausible, aber nicht absolut zwingende Annahme. Drei Kapitel zu politischen Entscheidungsprozessen schließen sich an: „VI. Agora – Die Versammlungen der Bürger“ stellt Inschriften vor, welche auf die Bürgerversammlung als Akteur hinweisen, und betont das Prinzip der Dissensvermeidung sowie die Dominanz der Ratsorgane. Diese werden in „VII. Bola – Ratsversammlungen“ analog zum römischen Senat beschrieben: Es werde deutlich, dass „die eigentliche Macht dieser Gremien gerade im Fehlen festumrissener Kompetenzen lag. Damit geht die Beobachtung einher, dass der große Einfluss der Bouleuten wohl weniger aus der institutionellen Macht dieser Gremien resultierte, sondern eher auf die gesammelte persönliche Macht ihrer Mitglieder zurückzuführen war“ (S. 27). Schließlich befasst sich Seelentag in Kapitel VIII „Polis – Autorität in kretischen Inschriften“ mit den Beschlussformeln der Inschriften, aus denen sich ein mehrstufiger Entscheidungsprozess herauskristallisiere: Die Bürger hätten den Entscheidungen zugestimmt, welche die Elite im Rat bzw. als Amtsinhaber getroffen habe. Da alle Instanzen für die Verbindlichkeit der Entscheidung bedeutsam gewesen seien, habe hier ein integratives Konzept der Polis vorgelegen.

Soziopolitische Organisationsformen werden im dritten Block, „Integrationskreise der Politen“ (S. 269–552), diskutiert. Das Kapitel IX „Eleutheros – Der ‚Bürger‘ und die ‚Anderen‘“ definiert den Bürger archaischer kretischer Politien über kulturelle Praktiken. Die entscheidenden Trennlinien seien zwischen den an der Polis teilhabenden Politen und den heterogenen „Anderen“ (Unfreie und Fremde) verlaufen. Dabei seien verschiedene Integrationskreise auch jenseits der politischen Partizipation für das Selbstverständnis und den Status Einzelner bedeutsam gewesen, insbesondere die Phylen („X. Pyla – Unterabteilungen der Polis“) – Seelentag erweist sich hier als Konstruktivist, insofern er beispielsweise Monatsnamen als Ergebnis intentionaler Geschichte versteht –, die Mahlgemeinschaften („XI. Andreion – Die Aristokratisierung des Demos“) und die Erziehung („XII. Paideia – Die Sozialisation des Guten Bürgers“).

Abschließend führt Seelentag die Ergebnisse unter der weiterführenden Fragestellung, wie die Politien Kretas zu charakterisieren seien, in Kapitel XIII „Hetairoi des Hybrias – Aristoi und Demos in kretischen Bürgerstaaten“ zusammen. Seelentag sieht einen Primat der Eliten unter Betonung der Gleichheit aller Bürger. Durch ethische Homogenisierung in verschiedenen Sozialisations- und Integrationskreisen und identifikationsstiftende Abgrenzung gegen Fremde und Unfreie sei gesellschaftliche Stabilität erreicht worden. Herrschaftssoziologisch habe sich bei Elementen eines Konsens- und eines Mehrheitssystems eine Aristokratie festigen können, weil deren Protagonisten ihr Aristiestreben weitgehend auf den politischen Bereich beschränkt hätten. Insofern dieser Wettbewerb ab dem 7. Jahrhundert allen Bürgern offenstand, könne man von einer Aristokratisierung des Demos sprechen. Nimmt man hinzu, dass mit Seelentag eine generelle Schwäche der Institutionen, also Machtbildung jenseits dieser Institutionen zu beobachten ist, dann scheinen die Parallelen zu römisch-republikanischen Phänomenen offensichtlich. Oder ist dies der Modellbildung geschuldet? Sicher würde niemand mit Polybios argumentieren, dass Kreta aufgrund der hier skizzierten Tatsachen groß geworden sei. Vielmehr hat Seelentag eine beeindruckende Studie vorgelegt, die viele neue Diskussionsfelder eröffnet.

Anmerkungen:
1 Das Zitat stammt aus Hans-Joachim Gehrke, Gewalt und Gesetz. Die soziale und politische Ordnung Kretas in der archaischen und klassischen Zeit, in: Klio 79 (1997), S. 23–68, hier S. 67.
2 Hans-Joachim Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta. Das dritte Griechenland und seine Staatenwelt, München 1986.
3 S. 69–71 ist ein Referat von Karl-Joachim Hölkeskamp, Institutionalisierung durch Verortung. Die Entstehung der Öffentlichkeit im frühen Griechenland, in: Karl-Joachim Hölkeskamp u.a. (Hrsg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, S. 81–104, hier S. 82–87.

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