T. Gerstung: Stapellauf für ein neues Zeitalter

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Titel
Stapellauf für ein neues Zeitalter. Die Industriemetropole Glasgow im revolutionären Wandel nach dem Boom (1960–2000)


Autor(en)
Gerstung, Tobias
Erschienen
Göttingen 2016: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
439 S., 15 Abb., 5 Grafiken und 5 Tab.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elfie Rembold, Berlin

Tobias Gerstungs Dissertation bietet eine Kulturgeschichte der Stadt- und Regionalplanung am Beispiel Glasgows. Der Autor arbeitet sich auf mehr als 400 Seiten durch die komplexe Struktur-, Handlungs- und Entwicklungsgeschichte der Stadt vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. „Stapellauf für ein neues Zeitalter“ ist im Rahmen der Forschergruppe um Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael entstanden. Ihr Fokus richtet sich auf die Zeit „nach dem Boom“, das heißt die 1960er- und 1970er-Jahre, die sie als Epochenschwelle begreifen. Diesen „Strukturbruch“, der mit einem „sozialen Wandel von revolutionärer Qualität“ einhergehe (S. 24), will der Autor in seiner Mikrostudie über die Hafenstadt Glasgow konkret nachweisen. Der Begriff des revolutionären Wandels verweist auf die Notwendigkeit einer Radikalkur. Betrachtet man Glasgow aus dieser Perspektive, wird schnell klar, dass die kommunalen Akteure die Stadt nach dem Boom neu erfinden mussten, sollte sie nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken.

Die Gliederung des Buches folgt dem Konzept des Strukturwandels: Im ersten Teil beschreibt Gerstung die „Entwicklungslinien, […] die Glasgow als ökonomische, soziale und urbane Entität des westschottischen Industriereviers geformt und beeinflusst haben“ (S. 42). Den Höhepunkt und gleichzeitig das Ende dieser Phase identifiziert er in den 1960er-Jahren. Wirtschaftlicher Niedergang, städtische Brachen und Verelendung einzelner Stadtviertel waren sichtbare Zeichen einer schrumpfenden Stadt. Im zweiten Teil behandelt Gerstung die Phase des Strukturbruchs in den 1970er-Jahren, die er als eine Inkubationszeit auf der Suche nach einer neuen ökonomischen Grundlage für die Stadt und einem neuen Selbstverständnis seiner Bewohner bezeichnet. Die Zeit nach dem Strukturbruch erfasst er in den Begriffen der „physischen Rehabilitation“ und Erfindung neuer „Stadtimages“ (S. 43f.). Am Ende steht ein neues Glasgow, mit den inhärenten Möglichkeiten einer „kreativen Stadt“.

Der erste Teil des Buches behandelt die Charakteristika des alten Glasgow der viktorianischen und Nachkriegsära – eine schnell wachsende Industrie- und Hafenstadt und die damit verbundenen sozialen Probleme. Glasgow verdankte seinen Aufstieg zu einer Metropole der Schwerindustrie den Kohle- und Eisenerzvorkommen in der Region und seiner Lage an der Flussmündung des Clyde. Aus Eisen und Stahl wurden Schiffe und Lokomotiven, aus in die Stadt strömenden Bauern wurden Industriearbeiter. Diese Ressourcen in Verbindung mit dem Hafenausbau und der räumlichen Expansion waren nicht nur Faktoren, die Glasgow zur wirtschaftlichen Blüte verhalfen, sie implizierten zugleich die Fehlentwicklungen, an denen die Stadt in der Nachkriegszeit krankte: industrielle Monostruktur, mangelnder und schlechter Wohnraum sowie Zersiedlung.

Gerstungs kulturgeschichtlicher Ansatz lenkt den Blick über das Ökonomische hinaus und widmet sich auch der architektonischen Entwicklung Glasgows zur Kulturstadt. Neben Fabrikhallen, Häfen und Geschäftshäusern prägten Theater, Galerien, Parkanlagen, aber auch Waschhäuser und vor allem Bahnhöfe die Stadt. Diese bauliche Struktur einer Stadt nennt Gerstung den „Inbegriff des Urbanen“ (S. 77). Gestalt und Arrangement solcher öffentlicher Gebäude erzählen von dem Arbeits- und Alltagsleben sowie der Festkultur seiner Bewohner. Es war ein Bestreben der kommunalpolitisch engagierten Mittelschicht in Glasgow und anderswo, die Lebensqualität in ihren Städten kontinuierlich zu verbessern. „Municipal socialism“ und „city improvement“ charakterisieren dieses stadtpolitische Engagement.

Die Mainstream-Geschichtsschreibung betrachtet die 1920er-Jahre als Krisenjahre und den Zweiten Weltkrieg als Zäsur. Im Konzept der „Nach-dem-Boom“-Forschergruppe findet der entscheidende Bruch freilich erst viel später statt, so dass Tobias Gerstung die Zwischenkriegsjahre in Glasgow zwar durchaus als krisenhaft und von ökonomischer Stagnation geprägt erkennt, sie im Ganzen aber lediglich als die „mageren Jahre“ bezeichnet. Diesen Begriff leitet er aus den „fetten Jahren“ ab, die die Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg den Glasgower Werften bescherte (S. 91). Der erste Teil des Buches schließt folglich mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats in der Nachkriegszeit und dem Ende des Booms in den 1960er-Jahren.

Die Boomjahre zeichnen sich durch die aktive Rolle des Staates und ein vorherrschendes Machbarkeitsdenken in Wissenschaft und Politik aus. Die Stadtplanung spiegelte zugleich einen zentralistischen politischen Ansatz. Die gesamtpolitisch kaum umstrittenen „planerischen Leitbilder der Stadterneuerung“ hießen „Dezentralisierung“ und „Diversifikation“ (S. 130ff). Mit dem Eindringen des Staates in die Bebauungsplanung verlor jedoch die Stadt als „Grundeinheit des Handelns“ (S. 137) an Relevanz und an ihre Stelle trat die regionale Strukturförderung. Im schottischen Fall waren „Glasgow und das Clyde-Becken […] eines der großen Experimentierfelder der Regionalplanung“ (S. 135). Die Wirtschaftsförderung der Londoner Zentralregierung wies jedoch eine durchwachsene Bilanz auf. Weder gelang es den schottischen Bergbau zu retten, noch war der Versuch, westlich von Glasgow eine Automobilindustrie zu etablieren, von Erfolg gekrönt. Ab Mitte der 1960er-Jahre steuerten auch die Werften in die Krise. Die Konflikte in den von Streiks geprägten Arbeitsbeziehungen wurden erst durch die marktradikale Politik Margret Thatchers beendet. In der Stadterneuerung wählten die Planer ebenfalls eine radikale Top-Down-Lösung, die Abriss vor Sanierung setzte und die Wünsche der Bewohner unberücksichtigt ließ.

Methodisch bewegt sich Gerstung konzentrisch auf den Werte schaffenden und identitätsstiftenden Kern Glasgows zu und erörtert schließlich das „Verschwinden des Hafens aus der Stadt“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Der städtische Hafen verlor durch die Umorientierung in der Verkehrswirtschaft auf Transportmittel der Straße und der Luft, die Erfindung des Rollcontainers und die Ausrichtung der Handelsrouten von Nordamerika nach Südostasien seine Bedeutung als Industrieraum und Ort schwerer körperlicher Arbeit. Während Hafenstädte wie Hamburg sich den neuen Erfordernissen beispielsweise durch Flussvertiefung anpassten, entschied man sich in Glasgow, den Hafen westwärts, in Richtung Meer zu verlegen. Wie „nach dem Boom“ die Uferzone des Clyde mit modernster Architektur neu gestaltet und für die Stadt ein neues Image geprägt wurde, ist Thema des zweiten Teils.

Schließlich untersucht Gerstung eine Reihe von Imagekampagnen und Kulturevents, mit denen die Stadt experimentierte. Von einer gewissen Nachhaltigkeit zeugten das Garden Festival von 1988 und die Aktivitäten als Kultur(haupt)stadt Europas von 1990. Diese Zeit des Umbruchs in Glasgow fiel mit der Geburt des neuen Leitbilds der „Kreativen Stadt“ zusammen. Dieses, so Gerstungs These, entwickelte sich in dem Laboratorium Glasgow und trat von hier aus „seinen Siegeszug in alle Welt an“. Eng verbunden mit diesem stadtplanerischem Paradigmenwechsel war Charles Landry, der „Städteforscher und Politikberater mit starkem Glasgow-Bezug“ (S. 371). Mit der Erörterung der Rolle Landrys in dem verwobenen Prozess des Imagewandels der Stadt und der Entstehung des Leitmotivs der creative city schließt die Untersuchung ab.

Insgesamt bietet dieses Buch eine gründlich recherchierte und sehr gut lesbare kulturhistorische Mikrostudie. Studierenden verschiedener Fachrichtungen bietet es Einsichten in die komplexen Zusammenhänge des ökonomischen, stadtplanerischen und kulturellen Wandels einer Stadt. Es beschreitet neue Wege in der Periodisierung und legt die Entstehungsgeschichte eines neuen Forschungskonzepts, der creative city, offen. Nur wenige, gut aufbereitete Tabellen unterbrechen den Lesefluss (leider aber auch etliche Druckfehler), während die ausgewählten Bilder die Befunde des Autors treffend illustrieren. Durch die Einbeziehung von Filmmaterial gelingt es Gerstung zudem, die Stadt vor den Augen des Lesers gleichsam lebendig werden zu lassen. Die Studie besticht in der methodischen Aufbereitung eines komplexen Themenfeldes und durch neue Perspektiven auf den städtischen Wandel.

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