J. Erdelmann: »Persilscheine« aus der Druckerpresse?

Cover
Titel
»Persilscheine« aus der Druckerpresse?. Die Hamburger Medienberichterstattung über Entnazifizierung und Internierung in der britischen Besatzungszone


Autor(en)
Erdelmann, Jessica
Reihe
Hamburger Zeitspuren 11
Erschienen
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Vollnhals, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Neben der normativen Abgrenzung zum Nationalsozialismus, die den politischen Neuanfang in allen Besatzungszonen prägte, bildete sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft schon bald ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens zugunsten einer großzügigen Rehabilitierung der nationalsozialistischen Parteigänger heraus. Die prägnante Studie von Jessica Erdelmann untersucht am Beispiel der Hamburger Tagespresse die Berichterstattung über Entnazifizierung und Internierung und analysiert die Argumentationsmuster, die letztendlich die populäre Schlussstrichmentalität beförderten.

Als zonenweites Organ erschien seit April 1946 in Hamburg „Die Welt“, die unter direkter Kontrolle der britischen Militärregierung stand und erst 1952 von Axel Springer als Flaggschiff seines Verlages übernommen wurde. Während die amerikanische Besatzungsmacht die Presselizenzen jeweils an ein Herausgebergremium aus Mitgliedern unterschiedlicher politischer Couleur vergab, favorisierte die britische die Vergabe an Personen, die einer Partei nahestanden, und förderte damit das erneute Entstehen einer Parteirichtungspresse, wie sie schon in der Weimarer Republik bestand: das „Hamburger Echo“ (SPD), die „Hamburger Volkszeitung“ (KPD), die „Hamburger Freie Presse“ (FDP) und die „Hamburger Allgemeine Zeitung“ (CDU). In der „Welt“ waren die meisten Remigranten, die meisten Frauen und die jüngsten Journalisten tätig, gleichwohl hatte auch in diesem auflagenstarken Aushängeschild der Militärregierung die Mehrheit der Redakteure zuvor für die gleichgeschaltete Presse im Nationalsozialismus gearbeitet.

Wie die Studie Erdelmanns ausführlich belegt, war Hamburg in weitgehend abgeschottete Kommunikationsräume unterteilt, die mit Ausnahme der „Welt“ weniger von übergreifenden Debatten, sondern vielmehr durch den Ausschluss der Äußerungen des politisch gegnerischen Lagers geprägt waren. Ähnlich in der Argumentation und Berichterstattung über die Internierung von NS-Belasteten, der politischen Entnazifizierungspraxis und der juristischen Ahndung durch die Spruchgerichte (nicht zu verwechseln mit den Spruchkammern) waren das „Hamburger Echo“ (HE) und die „Hamburger Volkszeitung“ (HVZ) sowie auf der anderen Seite das bürgerliche Lager um die „Hamburger Freie Presse“ (HFP) und die „Hamburger Allgemeine Zeitung“ (HAZ).

Letztere sahen in der Internierung und Entnazifizierung vornehmlich eine Wiedergeburt nationalsozialistischer Praktiken zur Ausschaltung politischer Gegner. Dementsprechend setzten sich beide Zeitungen bereits 1946 vehement für eine großzügige Rehabilitierung auch politisch stärker belasteter Personen und weitgehende Amnestien ein. Die Forderung, wirklich Schuldige müssten jedoch bestraft werden, war in diesem Kontext mehr ein Lippenbekenntnis, um die gewünschten Amnestien zu legitimieren. HE und HVZ kritisierten dagegen die mangelhafte Durchführung der Entnazifizierung, die vielfach die kleinen Mitläufer härter treffe als die wahren Wegbereiter, Träger und Nutznießer des Nationalsozialismus. Lediglich die „Welt“ bot den Stellungnahmen beider politischer Lager ein Forum und zeichnete sich durch eine tiefere analytische Betrachtung aus.

Im Verlauf des Jahres 1947 gewannen die HFP und HAZ zunehmend die Deutungshoheit. Sie stellten nun nicht nur die politische und moralische Berechtigung des Entnazifizierungsverfahrens grundsätzlich infrage, sondern auch die juristische Sanktionierung politisch-krimineller Straftatbestände, „so dass letztendlich auch NS-Täterinnen und NS-Täter von den Auswirkungen dieser“, wie Erdelmann urteilt, „geschickt inszenierten Diffamierungskampagnen profitierten“. Beliebt war nun die Argumentationslinie, Entnazifizierung und Strafverfolgung führten zu einer mentalen Renazifizierung und stellten somit eine Bedrohung des demokratischen Neuanfangs dar. „Je höher der Belastungsgrad der Redaktion, desto vehementer bekämpfte sie die Entnazifizierung und Internierung, desto gleichgültiger zeigte sie sich gegenüber der Milde der Spruchgerichtsurteile und desto pauschaler fielen ihre Integrationsangebote aus.“ (S. 154)

Alle parteinahen Zeitungen plädierten für eine weitgehende Amnestie der Mitläufer, was angesichts der überdehnten Entlassungsbestimmungen auch durchaus geboten war. Dieser Punkt kommt bei Erdelmann etwas zu kurz. Denn das verfehlte Konzept rigider Massenentlassungen war nicht praktikabel und musste im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens revidiert werden. Die moralische Entschuldung der Mitläufer kam zugleich dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach kollektiver Entlastung entgegen. Auch die linken Presseorgane, die die Kooperationsbereitschaft der konservativen Machteliten immer wieder thematisierten, vermieden eine kritische Auseinandersetzung mit der tiefen Verstrickung der deutschen Gesellschaft in den Nationalsozialismus und schonten so nicht zuletzt ihr eigenes Klientel.

Der Kreis der NS-Täter, die zur Verantwortung gezogen werden sollten, verengte sich im Zuge der Debatte immer stärker auf herausgehobene NS-Funktionäre und das Personal der Konzentrationslager. „Letztendlich“, so das Fazit der lesenswerten Studie, „ebneten alle untersuchten Redaktionen mit ihrer Berichterstattung der Rehabilitierung den Weg“ (S. 157f.). Das Verdienst der Studie liegt in der genauen Nachzeichnung der Verschiebungen und Verschränkungen der Argumentationsmuster in ihrem zeitlichen Kontext und Ablauf.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension