A. Linsenmann u.a. (Hrsg.): Die Zentrumspartei im Kaiserreich

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Titel
Die Zentrumspartei im Kaiserreich. Bilanz und Perspektiven


Herausgeber
Linsenmann, Andreas; Raasch, Markus
Erschienen
Münster 2015: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Henkelmann, Katholisch-Theologische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum

Die Geschichte der Zentrumspartei im Kaiserreich ist mittlerweile auf vielen Feldern intensiv untersucht worden, ohne dass eine neuere Gesamtdarstellung vorliegt. Umso erfreulicher ist es, dass mit dem vorliegenden Band eine Sammlung von 18 Artikeln vorliegt, der damit einen guten Zugang zum aktuellen Wissensstand vermittelt. Die Herausgeber möchten aber, wie sie in ihrer Einleitung erläutern, nicht nur Bilanz ziehen, sondern neue Forschungsperspektiven eröffnen und verstehen ihren Band vor dem Hintergrund des cultural turn in der Politikgeschichte auch als „Dialog zwischen Vertretern und Kritikern einer Kulturgeschichte der Politik“ (S. 14). Dass dies allerdings nur bedingt gelungen ist, wie die Herausgeber offen zugeben, überrascht insofern nicht, da eine kulturgeschichtliche Perspektivierung bislang zu selten in der Erforschung der Zentrumspartei eingenommen worden ist.

Der Band eröffnet mit drei Beiträgen zur Zentrumspartei und ihrer Beheimatung im katholischen Milieu. Der erste Aufsatz beschäftigt sich ausschließlich mit dem katholischen Milieu. Darin wiederholt Wilfried Loth seine Kritik an der Theorie eines homogenen katholischen Milieus, das über die Kraft der Religion soziokulturelle Unterschiede auszugleichen vermochte. Stattdessen plädiert er dafür, das katholische Milieu über das Kriterium „ähnlicher [und nicht gleicher] Lebensweisen“ zu verstehen und „zugleich das Phänomen unterschiedlicher Integrationsdichte mit in den Blick zu nehmen“ (S. 36). Dem Anspruch, „Bilanz“ (so der Untertitel) zu ziehen, wird der Beitrag freilich nur bedingt gerecht, da wesentliche neuere Literatur nicht rezipiert und die Frage nach der Wandlungsfähigkeit des katholischen Milieus nicht ausreichend berücksichtigt wird.

Es folgt ein Beitrag von Karsten Ruppert zu den Katholikentagen im Kaiserreich. Diese werden in der Literatur oft als eine Art von Parteitagen der Zentrumspartei dargestellt, ohne dass diese These bislang eingehend untersucht worden ist. Ruppert tut dies über die Auswertung der umfänglichen Verhandlungsprotokolle und gelangt zu einem ambivalenten Ergebnis: Einerseits waren die Katholikentage hoch politische Veranstaltungen mit der Zentrumspartei als alternativloser politischer Interessensvertretung. Andererseits „standen die Anliegen der Konfession wie des Laienkatholizismus […] immer eindeutig im Vordergrund. Daher mutierten die Generalversammlungen […] nie zu Parteitagen“ (S. 60). Die Sektion wird von einem Beitrag von Markus Raasch und Tina Eberlein zu der soziokulturellen Herkunft der adeligen Zentrumsmänner der Bismarckära abgeschlossen, der ihr Kapital (im Sinne Bourdieus) „in ökonomischer, sozialer, kultureller und symbolischer Hinsicht“ (S. 63) bestimmt.

Die folgenden zwei Aufsätze beschäftigen sich mit zwei zentralen Politikfeldern der Zentrumspartei. Zunächst schildert Winfried Becker kenntnisreich am Beispiel von Georg Hertling die Entwicklung ihrer Sozialpolitik. Anschließend analysiert Ingo Löppenberg die Kritik der Zentrumspartei am Kolonialismus und Militarismus.

In der dritten Sektion geht es um regionale Prägungen der Zentrumspartei. Michael Kitzing untersucht mit Pfarrer Theodor Wacker eine der Führungsgestalten der badischen Zentrumspartei. Es folgt ein Blick auf die Entwicklung in Schlesien. Arne Thomsen schildert, wie es der dortigen Zentrumspartei während des Kulturkampfs gelang, deutsche und polnische Katholiken zu mobilisieren, diese Koalition aber nach der Jahrhundertwende zerbrach und sich die Mehrheit der polnischen Katholiken eigenständig zu organisieren begann. Weniger aufschlussreich ist der Beitrag von Gerhard Trautmannsberger zur bayerischen Zentrumspartei, der eine kurze Annäherung an den Politiker Maximilian Freiherr von Soden-Fraunhofen gibt.

Die nächste Sektion trägt die Überschrift „Die Zentrumspartei und die Anderen“. Die Überschrift ist nicht nur mit Blick auf den ersten Aufsatz von Christoph Nonn missverständlich, der Bismarcks Verhältnis zum politischen Katholizismus überblicksartig zusammenfasst. Erst der zweite Aufsatz nimmt wieder die Perspektive der Zentrumspartei ein. Stefan Gerster geht darin auf die Geschichte der Zentrumspartei in Thüringen ein, um ihren Selbstanspruch einer reichsweiten Mittelpartei zu untersuchen, der Beitrag ist aber vor allem als einer der seltenen Organisationsgeschichten der Zentrumspartei in der katholischen Diaspora lesenswert. Es folgt ein Gang durch die Geschichte der Zentrumspartei in der Pfalz (Ernst Otto Bräunche), der besonders ihre Koalitionsfähigkeit fokussiert, und eine wichtige Perspektivierung auf die kontrovers diskutierte Frage nach einem katholischen Antisemitismus im Kaiserreich. Markus Raasch gelangt für die adeligen Mitglieder der Zentrumsfraktion zu dem Ergebnis, dass sich „Judenfeindschaft“ und „selbst rassistische Töne“ (S. 355) nachweisen lassen, die Adeligen aber nicht zuletzt aus Parteiräson die insgesamt gesehen „judenfreundliche Politik“ (S. 354) der Zentrumspartei unterstützten.

Die beiden nachfolgenden Beiträge geben der Geschichte der Zentrumspartei eine transnationale Wendung. Dies gilt vor allem für Olaf Blaschke, der seinen Aufsatz als Experiment bezeichnet und skizzenhaft andeutet, wie sich die Geschichte der Zentrumspartei transnational in den religionshistorischen Kontext des 19. Jahrhunderts einbetten ließe. Eine Konkretisierung von Blaschkes Thesen liefert Andreas Linsenmann, indem er das Frankreichbild Bischof Kettelers untersucht, das von der Denkfigur der „deux France“ geprägt war, „einem [positiv bewerteten] katholisch-konservativen [Frankreich] einerseits und einem [negativ bewerteten] revolutionär-progressiven [Frankreich] andererseits“ (S. 381).

Die letzte Sektion verlässt den zeitlichen Horizont des Kaiserreichs. Christopher Dowe schildert im ersten Beitrag detailliert die Formen der Erinnerung an Adolf Gröber und Matthias Erzberger innerhalb der Zentrumspartei. Joachim Kuropka deutet anschließend die Familie von Galen als „Zentrumsfamilie“, deren Mitglieder seit den 1860er-Jahren kontinuierlich die Partei unterstützten oder als Parlamentsmitglieder dienten. Christiane Hoth geht in einer bewusst kulturalistischen Perspektivierung auf die Machtergreifung in der katholischen Hochburg Eichstätt ein, wobei nicht zuletzt mit Blick auf die von ihr besonders hervorgehobene performative Ebene ein Blick auf die Fülle an vergleichbaren Lokal- und Regionalstudien sinnvoll gewesen wäre. Barbara Jahn weitet abschließend den zeitlichen Horizont des Bandes und untersucht die Entwicklung des katholischen Adels nach 1945 insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland.

Den Band beschließen zwei Kommentare der Politiker Norbert Geis und Wolfgang Thierse zur Frage, ob es heute noch einen politischen Katholizismus gibt, die nicht nur des zeitlichen Abstands zur Zentrumspartei im Kaiserreich wegen wie ein Fremdkörper wirken.

Beiden Herausgebern ist es gelungen, in einer beeindruckenden Breite zentrale Stränge des aktuellen Wissensstands zur Zentrumspartei im Kaiserreich zusammenzuführen und zugleich an wichtigen Stellen auch Anregungen zur methodischen Erweiterung zu geben; hervorzuheben ist vor allem der transnationale Zugang. Zu fragen ist allerdings, ob das Bild der Zentrumspartei nicht etwas verzerrt für eine Bilanz ist: weniger Adel und mehr Arbeiter in christlichen Gewerkschaften hätten dem Band gut getan. Auch Katholikinnen nehmen nur eine Randstellung ein. Das, was zudem fehlt, ist ein auswertender Beitrag als Quersumme der vielen Aufsätze, der zugleich eine Gesamtbilanz zur Zentrumspartei im Kaiserreich zieht. Nicht zuletzt deswegen ist zu hoffen, dass der Band dazu anregt, sich an eine solche Gesamtsichtung zu wagen und die Erforschung der Zentrumspartei besonders in einer kulturgeschichtlichen Perspektivierung weiter voranzutreiben.

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