N. Wachsmann: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager

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Titel
KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager


Autor(en)
Wachsmann, Nikolaus
Erschienen
München 2016: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
984 S.
Preis
39,99 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien

Nun liegt Nikolaus Wachsmanns lang erwartete große Studie der Geschichte der Konzentrationslager auch auf Deutsch vor, nachdem ihr Erscheinen auf Englisch letztes Jahr schon großes Aufsehen hervorgerufen hat. Wer in den frühen 1980er-Jahren im deutschsprachigen Raum begann, sich mit dem Thema Konzentrationslager zu beschäftigen, der griff wohl zunächst zu Büchern von Überlebenden, mit Sicherheit zu Eugen Kogons SS-Staat oder Hermann Langbeins Menschen in Auschwitz. Wer sich intensiver auf das Thema einließ, las auch die wenigen, aber umso wichtigeren exzellenten geschichtswissenschaftlichen Studien der 1960er-und 1970er-Jahre, allen voran das Gutachten von Martin Broszat für den Frankfurter Auschwitz-Prozess oder Falk Pingels Studie über Häftlinge unter SS-Herrschaft.

Ein etabliertes Forschungsfeld war die Geschichte der Konzentrationslager nicht. Erst die in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald Ende 1995 gemeinsam mit der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg veranstalte Konferenz zu Entwicklung und Struktur der Lager1 etablierte einen Forschungszusammenhang, in dem sie die bisherige, vor allem in den 1980er-Jahren sich rasch intensivierende Forschung einer jüngeren Generation bilanzierte. Zugleich wurde sie zum Referenzpunkt für einen bis heute anhaltenden Forschungsboom vor allem im deutschsprachigen Raum, der auch durch die Zugänglichkeit zu lang verschlossenen Archiven befördert wurde und nicht zuletzt von einer ausgebauten KZ-Gedenkstättenlandschaft profitierte.

Zwei Großprojekte versuchten nach der Jahrtausendwende, alle bis dahin vorhandenen Erkenntnisse über die nationalsozialistischen Orte des Terrors in enzyklopädischer Form zusammen zu tragen, wobei die Arbeiten zum Teil weit über die Konzentrationslager hinausgriffen.2 So beeindruckend in diesen wichtigen Nachschlagwerken die immense Fülle mittlerweile vorhandener empirische Detailergebnisse dokumentiert ist, so analytisch unverbunden blieben die faktenreichen Darstellungen nebeneinander stehen. So enthält zwar die Reihe „Der Ort des Terrors“ informative bilanzierende Überblicksartikel im ersten Band, die in den Folgebänden zusammengetragenen Ergebnisse konnten auf Grund der zeitlichen Abfolge aber keine Berücksichtigung in der Analyse finden. Monographische Arbeiten, die den Anspruch haben, sich analytisch wie deskriptiv der Gesamtgeschichte der Konzentrationslager zu widmen, blieben bis heute die Ausnahme, zu nennen ist hier an erster Stelle Karin Orths 1999 publizierte Studie.3

Angesichts der enormen Menge empirischer Detailergebnisse, aber auch der Vielzahl analytisch gehaltener Monografien zu Teilaspekten der Konzentrationslagergeschichte war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand das Projekt einer Gesamtdarstellung aufgriff. Nikolaus Wachsmann hat diese Aufgabe übernommen und, nach einigen Vorstudien, ein knapp 1000seitiges Überblickswerk (davon fast 200 Seiten kleingedruckte Fußnotenbelege) vorgelegt. Es ist nicht nur eine exzellente Monographie geworden, nüchtern im Stil, ohne falsches Pathos oder einem moralisierenden Duktus. Wachsmann kann für sich beanspruchen, als erster einen umfassenden Gesamtüberblick zur Geschichte der Konzentrationslager vorgelegt zu haben, der unterschiedliche Perspektiven und Narrative miteinander verbindet. Mehr oder weniger alle bekannten Aspekte der KZ-Geschichte werden von ihm aufgegriffen, auch lange vernachlässigte Themen, wenn auch nicht immer in gleicher Intensität.

Der gewählte Titel „KL“, wie er zeitgenössisch von der SS verwendet wurde anstelle des gebräuchlichen „KZ“ kann als Plädoyer für jenes genaue Quellenstudium gelesen werden, das Wachsmanns Studie auszeichnet, die nun wohl für längere Zeit als das „Standardwerk“ zur Geschichte der Konzentrationslager gelten wird. Nicht zu Unrecht wurde das Werk bereits nach seiner englischsprachigen Erstveröffentlichung hymnisch gelobt. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn gegen alle geschichtswissenschaftliche Methodik davon zu lesen ist, dass diese Erzählung „wohl nicht mehr übertroffen wird“4. Man sollte bedenken, dass derartige Studien in ihrer Qualität, wie Wachsmann selbst klar betont, ohne den vorausgegangenen Forschungsboom und den Rückgriff auf die mittlerweile vorliegenden unzähligen Aufsätze, Monographien, Quelleneditionen, Ausstellungskataloge und Fotobände nicht möglich wären. Ohne Wachsmanns Leistung auf die exzellente Zusammenschau dieser unzähligen Ergebnisse reduzieren zu wollen, auch das wäre für sich genommen schon zu würdigen, bildet sich selbstverständlich auch in seiner Studie der rezente Forschungsstand ab. Auch wenn Wachsmann nicht nur eine immense Fülle an Literatur verarbeitet, sondern auch ein aufwändiges Studium von Primärquellen betrieben hat, bleibt diese Studie, um den Autor zu zitieren, „eine, nicht die Geschichte der KL“.

Nicht alle Forschungslücken sind einfach zu schließen. Sie sind zum Teil auf eine schwierige Quellenlage zurückzuführen. So fehlen etwa weitgehend die Dokumente der Inspektion der Konzentrationslager in den Kriegsjahren; bestimmte Opfergruppen haben keine Zeugnisse ihrer KZ-Haft hinterlassen können, weil sie die Lager nicht überlebt haben, andere, wie die als „kriminell“ oder „asozial“ kategorisierten Gefangenen sahen sich auf Grund ihrer Stigmatisierung nicht in der Situation, Erinnerungsberichte zu verfassen und wurden auch lange nicht befragt. Aber auch die systematische inhaltliche Erschließung vorhandener Quellen, etwa von Überlebenden-Berichten, die allein schon auf Grund der Sprachenvielfalt mit enormen Aufwand verbunden ist und von einer Einzelperson gar nicht erledigt werden kann, ist noch wenig weit fortgeschritten. Auch bei den Forschungen zum Lagerpersonal oder zum Umfeld der Lager sind heute noch viele Fragen nicht ausreichend beantwortet, um nur einige Desiderata zu nennen.

Unabhängig davon ist Wachsmanns Studie ein Meilenstein der KZ-Geschichtsschreibung. Die entscheidende Qualität seiner Darstellung ist in dem breiten Ansatz einer „integrierten Geschichte“ zu sehen, den er nach dem Vorbild von Saul Friedländer gewählt hat: Perspektiven von Tätern, von Opfern und der die Lager umgebenden Gesellschaft, Makro- wie Mikrogeschichte, Ereignisgeschichte und Struktur, synchrone Entwicklungen und diachrone Verläufe werden gekonnt in einer Erzählung verbunden. Methodische Zugriffe wie Vergleich, Verflechtung und Transfer lassen sich bei Wachsmann immer wieder finden.

Der Autor sieht sich in seinem Umgang mit dem Material in der Situation eines Fotografen, der zwischen seinen Objektiven wechselt: extreme Nahaufnahmen, beschrieben aus der Perspektive einzelner Personen, von Häftlingen wie von Lagerpersonal, zeigen den Mikrokosmos Lager, die Existenzbedingungen der Gefangenen, die Zwangsarbeit, Gewalt und Tod, aber auch die Interaktion unter SS-Angehörigen und mit dem Lagerumfeld. Dabei geht Wachsmann im Unterschied zu manch anderen Darstellungen von Handlungsräumen auch auf Seiten der Gefangenen aus und verleiht ihnen damit den Status von Akteuren, mochte diese Möglichkeit zur Handlung auch noch so minimal sein. Konsequent beginnen alle seine Kapitel mit mikrohistorischen Erzählungen von und über Gefangene oder SS-Angehörige. Wachsmann zieht durch diese Nahsicht das lesende Publikum immer wieder von neuem in den Bann, wie es mit einer reinen Institutionen- bzw. Strukturgeschichte kaum möglich wäre.

Mit seiner zweiten Perspektive auf die Lagergeschichte, vergleichbar mit dem Wechsel auf ein Weitwinkelobjektiv, stellt Wachsmann die Lager in den größeren Kontext der Entwicklung des NS-Staates, der Geschichte seiner Gesellschaft, seiner Ökonomie und des Zweiten Weltkrieges. Zugleich werden die Konzentrationslager als Teil eines breiten institutionellen Netzes des NS-Terrors aufgefasst und dargestellt, in der die Konzentrationslager nur ein, wenn auch ein zentrales, Repressionsinstrument waren. Wie gelingt es Wachsmann, mit der enormen Fülle des Materials zurechtzukommen? Zum einen durch einen formal strengen Aufbau: ein angesichts des riesigen Themas erstaunlich kurz gehaltener Prolog von knapp 25 Seiten, der dennoch den Eindruck hinterlässt, dass das Wichtigste wie Forschungsstand, Fragestellung, Quellen und Struktur der Studie ausreichend erörtert werden.

Zwar ist das Forschungsfeld Konzentrationslager nicht durch gravierende Debatten in der scientific community charakterisiert, dennoch gibt es selbstverständlich in vielen Detailfragen unterschiedliche Ansichten. Generell werden divergierende Auffassungen bei Wachsmann nicht ausgespart, im Text wird aber meist nur kurz darauf verwiesen („manche Historiker vertreten die Auffassung“), alle weiterführenden Hinweise, die den Lesefluss unterbrechen könnten, sind knapp aber prägnant in die Fußnoten verbannt. Dem Prolog folgen elf inhaltliche Kapitel, keines länger als 60 Seiten, in sich geteilt in je drei Unterkapitel, die wiederum etwa sechs thematische Abschnitte enthalten.

Angesichts der banalen Tatsache, dass sich die Darstellung historischer Geschehnisse in ihrer unterschiedlichen Bedeutung und Komplexität nicht einfach in ein strenges Ordnungssystem pressen lässt, ist zu fragen, ob es sich hier nicht um einen Ästhetizismus handelt, eine zwingende Notwendigkeit für so ein rigides Konzept ist jedenfalls schwer begründbar. Vielleicht ist das der Grund, warum sich die inhaltliche Anordnung nicht in allen Kapiteln als naheliegende aufdrängt. Auch die Wahl der oft nur aus einem Wort bestehenden Überschriften und Zwischenüberschriften, die zweifellos Wachsmanns literarische Qualitäten belegen, aber sich oft erst bei der Lektüre des jeweiligen Abschnitts logisch erschließen, tragen in ihrer Gesamtheit nicht immer zu einer Orientierung bei. Dennoch ist der Vorteil dieses Ordnungssystems evident. Der Autor setzt sich dabei für die jeweiligen Themenfeldern selbst enge Grenzen, die Rezeption wird damit enorm erleichtert.

Die zweite grundlegende, damit wohl zusammenhängende Entscheidung, die Wachsmann getroffen hat, ist eine enorme Reduktion des empirischen Materials. So werden bestimmte Themen oft nur an Berichten von ein oder zwei Personen bzw. Fallbeispielen, kombiniert mit anderen Quellen veranschaulicht, trotzdem gelingt es Wachsmann, durch eine exzellente Auswahl die Fälle so zu präsentieren, dass ihr exemplarische und manchmal auch ihre exzeptionelle Bedeutung immer klar wird.

Die dritte Entscheidung ist die zu einem fast durchgehenden chronologischen Aufbau, der im Wesentlichen mit den bisherigen Darstellungen der Entwicklung des KZ-Systems zwischen 1933 und 1945 übereinstimmt. Auch Wachsmann unterscheidet zwischen frühen Lagern ab 1933, den staatlichen KLs ab 1936, und generell zwischen der Vorkriegs- und Kriegszeit. Der Expansion parallel zum deutschen Vormarsch in Europa nach 1939, der Eskalation der Gewalt und der Implementierung des Massenmordes 1941 folgen die Funktionsveränderungen zur Mitte des Krieges, gekennzeichnet von Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft und der Entstehung eines Außenlageruniversums. Auch die apokalyptische Schlussphase der Lager wird, wie in der Forschung Konsens, als eigenständige Etappe der Geschichte der Konzentrationslager behandelt. Dieser gut nachvollziehbare Aufbau erlaubt es auch einem Publikum außerhalb der engeren scientific community, trotz des komplizierten Verhältnisses von permanenten Veränderungen und Konstanten in der KZ-Geschichte, den roten Faden zu behalten.

Ausgehend von den „frühen Lagern“, ein Begriff, den auch Karin Orth schon für die Anfänge des KZ-Systems verwendet hat, widmen sich die ersten drei der elf Kapitel der Vorkriegszeit zwischen 1933 und 1939. Gerade für die Schilderung der Anfangsjahre kann Wachsmann noch einmal deutlich machen, was in jüngerer Zeit mit der Fokussierung auf Krieg und Holocaust mitunter zu kurz kam: die frühe Funktion der Lager als politisches Repressionsinstrument. Deutlich wird herausgearbeitet, dass die Geschichte und Dynamik der Konzentrationslager keiner vorgezeichneten linearen Entwicklung folgte und auch andere Abläufe denkbar gewesen wären. So bestand 1934/35 durchaus auch die Möglichkeit, dass dieses Repressionsinstrument nach Etablierung der NS-Herrschaft aufgelöst worden wäre. Auch die sozialpolitische Funktion der Lager, die sie im Lauf der 1930er-Jahre mit der Einweisung sozialer Randgruppen erfüllten, war nicht von Anfang an vorgesehen.

Nach den 1930er-Jahren wendet sich Wachsmann in zwei Kapiteln der Entwicklung in der ersten Kriegshälfte zu, gekennzeichnet von der Expansion des Lagersystems, von neuen, rasch die Zusammensetzung der Gemeinschaft der Gefangenen verändernden, Häftlingsgruppen aus besetzten Gebieten und einem, wegen der Aufstellung von SS-Kampfverbänden, neu zusammengesetzten Lagerpersonal. Die Nutzung der Lager für Exekutionen, sowie die tödliche Verknüpfung von Lagerhaft mit schwersten Arbeitsbedingungen, insbesondere im Bereich der Baustoffproduktion, verweisen auf eine generelle Eskalation der Gewalt.

Wachsmann sieht hier vor allem 1941 als ein Schlüsseljahr im endgültigen Durchbruch zum Massenmord. Zum einen in der systematischen Massentötung kranker und abgearbeiteter Häftlinge durch Giftgas, ausgelagert im Rahmen der Aktion 14f13 an die NS-Euthanasieanstalten. Zum anderen in der Tötung abertausender sowjetischer Kriegsgefangener ab dem Herbst 1941 in den Konzentrationslagern als Folge von Kommissarbefehl und generell des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, bei denen erstmals auch mittels Zyklon-B getötet wurde. Damit wurden logistisch jene Instrumentarien bereitgestellt, die insbesondere in Auschwitz im Mord an den europäischen Juden in den folgenden Jahren zur Anwendung kommen sollten.

Die daran anschließenden Kapitel 6 und 7 stellen daher Auschwitz ins Zentrum, wenn es um die Frage von KZ-Geschichte und Holocaust-Geschichte geht. Nachgegangen wird aber auch der Frage von Verbindungen zwischen Konzentrationslagern und den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“, auch wenn diese logistisch ihre Wurzeln mehr in der NS-Euthanasie als im Massenmord in den Konzentrationslagern des Jahres 1941 hatten. Generell werden darüber hinaus die Verhältnisse in und um die Lager im besetzten Osteuropa behandelt, wie das Lebensgefühl des Lagerpersonals als neue Kolonialherren und die hohe Attraktivität von Auschwitz als Wohnort für die Familien des Lagerpersonals.

Gerade die Bedeutung aber auch der Symbolcharakter des KZ Auschwitz-Birkenau für den Holocaust verstellt in der öffentlichen Wahrnehmung heute oft den Blick auf die KZ-Geschichte. Angesichts der Tatsache, dass Holocaust und Konzentrationslager oftmals gleichgesetzt werden und die Meinung verbreitet ist, in Konzentrationslagern wären vor allem Juden eingesperrt gewesen, ist die präzise Beschreibung des Verhältnisses von KZ-Geschichte und Holocaust mit seinen Berührungspunkten und (Nicht)Überscheidungen ein besonders wichtiges Kapitel in der Studie von Wachsmann.

Der Darstellung der meist als Funktionswandel bezeichneten Umorientierung der Konzentrationslager in der zweiten Kriegshälfte hin zur Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen in der Rüstungsindustrie und bei der sogenannten Untertageverlagerung ab Herbst 1943, verbunden mit der Errichtung einer Unzahl von Außenlagern und einer weiteren Expansion der Gefangenzahlen widmet Wachsmann zwei Kapitel. Er verwendet dabei den im angloamerikanischen gebräuchlichen, nicht ganz unproblematischen Begriff der „Sklavenarbeit“. Angesichts der langen Debatte über die Rolle der Industrie, die auch im Kontext der Entschädigungszahlungen um die Jahrtausendwende nochmal Thema war, gerät die Frage nach der Perspektive der Wirtschaft und konkret der Rüstungsindustrie auf die KZ-Zwangsarbeit dabei eher kurz.

Dem Zusammenleben und Verhalten von Häftlingen in den Lagern unter Zwangsbedingungen ist das vorletzte Kapitel gewidmet. Wachsmann verlässt hier weitgehend die chronologische Struktur, bleibt aber bei einer historischen Erzählung und wechselt nicht zu soziologischen Modellen. An ganz konkreten Beispielen werden die massiven Konflikte in den Zwangsgemeinschaften, geprägt von Machtpartizipation und Hierarchisierung durch das System der Funktionshäftlinge und den Kampf um Ressourcen und Einfluss zwischen Häftlingsgruppen geschildert. Unter der klug gewählten Überschrift „Ungehorsam“ an Stelle des gängigen und mit Bedeutung überfrachteten Widerstandsbegriffs lotet Wachsmann die Möglichkeiten von Häftlingen aus, sich gegen die Anordnungen und Befehle des Lagerpersonals zu verhalten. Er macht deutlich, dass Ungehorsam und Widerstand unter KZ-Bedingungen nur sehr begrenzt möglich waren und zeigt zugleich, dass beide Verhaltensweisen trotz massivsten Repressionen – etwa bei Fluchtversuchen – festzustellen sind.

Das letzte Kapitel widmet sich der apokalyptischen Schlussphase des Lagersystems, gekennzeichnet von tödlichen Evakuierungstransporten, von mit hungernden und kranken Gefangenen überfüllten Auffanglagern und Massenmord, aber auch von den Reaktionen der „gewöhnlichen Deutschen“ auf die sichtbaren Todesmärsche. Auch wenn die SS in den letzten Monaten zu „Räumungsexperten“ für aufgegebene Lager wurde, Spannungen innerhalb des Lagerpersonals zunahmen und manche sich an Häftlinge anzubiedern versuchten, letztlich blieb das KZ-System weitgehend in Takt und konnte seinen mörderischen Zweck auch in der Endphase aufrechterhalten. Der Befreiung der Lager selbst ist kein eigenes Kapitel mehr gewidmet. Sie ist als Teil des Epilogs der Nachgeschichte der Lager zugeordnet, in dem auch die juristischen Verfahren in der Suche nach Gerechtigkeit, die Erinnerung in den aus dem NS-Staat hervorgegangenen Nachfolgestaaten und schlussendlich die Orte des Gedenkens zum Thema gemacht werden.

Bei einer Monographie, die versucht, ein großes Forschungsfeld in einem Buch zusammenzufassen, stellt sich die Frage, wieviel Neues sie auch für die wissenschaftliche Community enthalten kann, was fehlt oder zu kurz gekommen ist. Hier werden die Antworten wohl wegen des gewählten strikt limitierten Umfangs für jedes Kapitel unterschiedlich ausfallen. Angesichts der enormen Themenvielfalt, die Wachsmann in seiner Studie behandelt und des insgesamt gewaltigen Umfangs des Werkes scheinen solche Fragen aber eher müßig. Wer zu Einzelfragen noch genaueres wissen möchte, wird ohnedies zu Spezialstudien greifen, Wachsmann Bibliographie selbst ist hier übrigens ein guter Ratgeber.

Immer wieder wird behauptet, dass über den Nationalsozialismus alles gesagt sei, dieses Argument hat mittlerweile selbst schon eine jahrzehntelange Geschichte. Wachsmanns exzellent geschriebenes Buch zeigt nicht nur, dass eine derartige Vorstellung wenig mit dem methodischen Verständnis von Geschichtswissenschaft zu tun hat. Die Studie „KL“ ermöglicht wohl einem breiten Publikum eine Fülle bisher nicht gekannter Einblicke in die Geschichte einer der großen Gewaltinstitutionen des 20. Jahrhunderts. Auch wer sich lange mit der Geschichte dieses Lagersystems beschäftigt hat, dem wird mit dieser dichten Zusammenschau nochmals deutlich in Erinnerung gerufen, dass die Abwesenheit von Gewalt in der Geschichte nicht ihr Normalfall zu sein scheint.

Anmerkungen:
1 Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, hrsg. von Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann, 2 Bde., Göttingen 1998.
2 Der Ort des Terrors, hrsg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel, 9 Bde., München 2005–2009; Geoffrey P. Megargee (Hrsg.), Early camps, youth camps, and concentration camps and subcamps under the SS-Business Administration Main Office (WVHA) (United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of camps and ghettos, 1933–1945, Vol. 1) Bloomington 2009.
3 Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999.
4 Paul Ingendaay, Und denkt daran, was sie litten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, 20.05.2016.

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