Titel
Kriegskinder. Kriegskindheiten in Düsseldorf 1939–1945


Herausgeber
Fleermann, Bastian; Mauer, Benedikt
Erschienen
Düsseldorf 2015: Droste Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 22,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Miller-Kipp, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Im Mai 2015, 70 Jahre nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur bzw. hier nach der „Befreiung Düsseldorfs vom Nationalsozialismus“ (S. 5), eröffnete die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf ihre gänzlich neu konzipierte Dauerausstellung „Düsseldorfer Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus“. Vorgängig hatte man über die lokale Tagesspresse dazu aufgerufen, der Mahn- und Gedenkstätte Dokumente, Andenken, persönliche Erinnerungsstücke usw. zur Reproduktion zu überlassen. Auf diesem seinerzeit zustande gekommenen Fundus, dazu selbstredend auf dem einschlägigen Material des Stadtarchivs Düsseldorf sowie auf den Erinnerungserzählungen, die in der Mahn- und Gedenkstätte verwahrt werden1, basiert der angezeigte, Ende 2015 erschienene Band. Er ist mit hervorragend aufbereiteten Reproduktionen dieses Materials reich versehen; das macht ihn attraktiv, auch über die Düsseldorfer Bürgerschaft hinaus. Allgemein interessant ist der Band aufgrund seiner Anlage: Er ist Dokumentation, politische Geschichte, Alltagsgeschichte und Erinnerungserzählung in einem und führt damit vor, wie man „Kriegskindheiten“ in den Städten2 des ‚Dritten Reiches‘ überzeugend rekonstruieren und vermitteln kann. Denn heute geht es vordinglich nicht um eine Sozialgeschichte von Kriegskindheit, sondern darum, so weit als noch möglich zu dokumentieren, wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebt und erfahren haben. Die Nachfrage nach solchem Wissen steigt derzeit sprunghaft3, Ursache mögen der Erinnerungsbetrieb zum Ende des Zweiten Weltkriegs und dazu auch die unmittelbare Konfrontation mit den Kriegskinderschicksalen aus dem Mittleren Osten sein. Befriedigt wird diese Nachfrage nicht mehr durch die soziologisch und/oder (sozial)psychologisch interessierte bzw. ausgerichtete Historiographie von Kriegskindheit, wie sie vor gut einem Jahrzehnt einsetzte und zu einem ersten „Erinnerungsboom“ führte. Sie konzentrierte sich seinerzeit auf die männlichen Kinder der Mehrheitsgesellschaft und, enger noch, auf die „Söhne ohne Väter“.4 Obschon bis heute populär, kann man mit solcher Perspektive nicht mehr zufrieden sein.

Mit der angezeigten Publikation rücken endlich die bislang nicht oder nur randständig beachteten Kinder der aus politischen oder rassischen Gründen verfolgten Segmente der Bevölkerung in den Blick.5 Ihnen gilt ein eigener „Block“ des in drei „Blöcken“ unterteilten Bandes (S. 5). Zu jedem Block gibt es ein Literaturverzeichnis, mit dem weiterführende Forschung angeregt und der Forschungsanschluss gesichert wird; angehängt ist zudem eine „Düsseldorfer Kriegschronik 1939 bis 1945“ (S. 221 ff.). Sie führt detailliert Buch über Luftangriffe und Zerstörung, Stadtverwaltung, Stadtpolitik und politische Rechtsprechung, Verfolgung, Zwangsarbeit und Deportationen – Daten, die sich zu einem Schreckensszenario verknüpfen. Es wirft seinerseits die Frage auf, wie die Zivilbevölkerung, dabei besonders die Kinder, ihr Leben in den letzten drei Kriegsjahren seelisch nur durchhalten konnten – Anschlussforschung ist hier erwünscht.

Im ersten Block („Überblicke“) wird zunächst systematisch danach gefragt, was „Kriegskindheit oder eine Kriegsjugend im Europa des 20. Jahrhunderts […] ausmachte und was als gemeinsamer europäischer Referenz- und Erfahrungsrahmen […] subsumiert werden kann“ (S. 5). Der Binsenwahrheit Rechnung tragend, dass es die Kindheit nicht gibt, dass Kindheit vielmehr schichtspezifisch ist, in vielen sozio-kulturellen und sozialmoralischen Milieus spielt – subjektiv gesehen ist sogar jede Kindheit unmittelbar zu Gott –, stellt Sebastian Fleermann einen „Katalog“ von gemeinsamen „Grunderfahrungen“ zusammen (S. 20f.) und überschreitet dazu die nationalstaatliche Perspektive. Im Blick auf die Kinder in den besetzten und eroberten Ländern stellt Fleermann fest, dass „in ganz Europa […] Kinder und Jugendliche klassifiziert und erfasst, gefördert oder vernichtet“ wurden (S. 21). Damit ist ein Anfang gesellschaftlicher wie national vergleichender Historiographie von „Kriegskindheiten“ gemacht.

In der lokalgeschichtlichen Dimension verharrt der Beitrag von Joachim Schröder über die „‚Volksgemeinschaft‘ im Krieg – Terror und Zerstörung in Düsseldorf (1939–1945)“. Hier wird Kriegsgeschichte aus politischer Systemperspektive und damit aus dem ahistorischen post festum geschrieben. Die „deutsche Mehrheitsgesellschaft“ (S. 22) hat die Kriegsjahre keineswegs unisono als politischen Terror und die Kriegsniederlage mitnichten sogleich als „Befreiung von der NS-Herrschaft“ (S. 47) erlebt, auch nicht in Düsseldorf. Die Mehrheitsgesellschaft fühlt sich vom Bοmbenkrieg terrorisiert, den Terror des Herrschaftssystems erleiden Minderheiten; diese sind es auch, die der Autor im Blick hat. So rekonstruiert er akribisch Lage und Schicksal der Zwangsarbeiter sowie die Verfolgung der ‚inneren Feinde‘ – Oppositionelle, Sinti und Roma, Juden. Dieser innenpolitische „Krieg“ (S. 38) nimmt sich besonders grotesk aus angesichts des „Leben[s] in Ruinen“ (S. 44), dass die Düsseldorfer Stadtgesellschaft im ‚totalen Krieg‘ meistern musste. Mühsal und Mangel dieses Lebens werden von Schröder hauptsächlich mit Zahlen belegt; wie es sich alltäglich und insbesondere für die Kinder gestaltete, bleibt außen vor – an Stelle dessen sprechen hier Fotographien Bände.

Text dazu ist im zweiten Block („Die Mehrheitsgesellschaft“) nachzulesen. Dort kommen ausführlich Kinder und Jugendliche als „Zeitzeugen der Weltkriegsjahre“ zu Wort (S. 59). Dazu werden im ersten Beitrag 70 (!) Berichte und Erinnerungserzählungen zum Teil ausführlich zitiert. Sie wurden alle 2009 auf einen Zeitungsaufruf hin, also vergleichsweise spontan verfasst und sind insofern authentisch, sieht man einmal von der konstruktiven Neigung aller Erinnerung ab. Angela Genger ordnet diese Narrative nach drei Gesichtspunkten: 1. Veränderung des Alltags im Kriege, 2. unmittelbare Kriegserfahrung, id est: Bombennächte, Evakuierung, Flucht, Kinderlandverschickung, 3. „die Endphase“ (S. 61), id est: Leben in Trümmern, Versorgungsengpässe, Wohnungsnot, Todesnachrichten. Die Zusammenstellung ist statistisch repräsentativ, lebensgeschichtlich außerordentlich eindrucksvoll. Hier wird der Alltag der Kriegskinder, werden ihre Kriegserfahrungen, ihre Seelenlage und ihre Seelennöte vergegenwärtigt.

En Detail stellt dann Benedikt Mauer die besondere Kriegserfahrung „Kinderlandverschickung“ (KLV) vor. Die KLV war eine multifunktionale Einrichtung des NS-Herrschaftsapparates: „Evakuierungsmaßnahme zum Schutz der [Stadt]Kinder vor dem Bombenkrieg, Erholung der Jugend in ungefährlichen Regionen des Reiches und besetzten Gebieten, Entlastung der Eltern, Zugriff des totalitären Staates auf die Kinder, Militarisierung der Jugend.“ (S. 125) All diese Funktionen stellt Mauer systematisch dar. Zudem beschreibt er die pädagogische Prozesslogik der Lager, rekonstruiert den Lageralltag und veranschaulicht ihn aus der Perspektive der Kinder, letzteres auf der Basis von Briefen, Tagebüchern, Interviews und Erinnerungserzählungen – jede dieser vier Textgattungen wird eigens quellenkritisch gewürdigt. Besonders eindrücklich sind die hier faksimilierten Heimwehbriefe der Kinder, besonders dekuvrierend die schikanösen bis sadistischen Führungs- und Unterrichtspraktiken von Lagerleitern, in der Regel (Ober)Studienräte und HJ-Funktionäre6. – Mit den beiden Beiträgen des zweiten Blocks kann man sich auch der oben angesprochen Frage nach dem seelischen Durchhaltevermögen der Zivilbevölkerung bzw. der Kinder nähern; eine Antwort, die sie nahe legen, heißt: kraftgebend sind Freundschaft und familialer Zusammenhalt.

Im dritten Block („Verfolgung und Ausgrenzung“) schließlich geht es darum, wie die Kinder der „Minderheitsgesellschaft“ den Krieg erlebten und überlebten. Anders als bei den Kindern der „Mehrheitsgesellschaft“ wird ihre Kindheit von zwei Ereignissen bestimmt: vom Krieg und von gesellschaftlicher Bedrohung, Ausgrenzung, Verfolgung. Peter Henkel nimmt sich dafür Kindheiten aus vier „Verfolgten-Milieus“ (S. 181) vor: dem kommunistischen, dem des politischen Widerstands, dem der ‚Zigeuner‘ und, ein Sonderfall, dem des kommunistischen Katholizismus. Für diese vier „Milieus“7 geht er jeweils einem Kinderschicksal nach, um die spezifische „Prägung“ der Kinder und Jugendlichen aus und in diesen Milieus exemplarisch bzw. „schlaglichtartig [zu] beleuchten“ (S. 182). Henkel konzentriert den Bericht auf Widerstand, Verfolgung und Ausgrenzung, verfolgt in dieser Blickrichtung die vier Lebenswege auch über 1945 hinaus und pointiert damit anfänglich verweigerte „Wiedergutmachung“ und späte Ehrung. Der Beitrag belegt detailliert gesellschaftliche Lage und persönliche Lebensumstände, das gelebte Leben steht dagegen hinten an, hier und dort ersetzen kurze Zitate die Beschreibung und Analyse von Erfahrung. So erhellt etwa allein die von Gustaf8 Gründgens an einen kommunistischen Schauspieler gegebene Vorweginformation über dessen bevorstehende behördliche Vernehmung: „Mehr kann ich [nicht] für sie tun“9, das Elend erneuter politischer Verfolgung nach 1945, hier nach dem Adenauer-Erlass 1950.

Anders der Beitrag von Hildegard Jakobs. Er gilt den als „‚jüdisch‘ verfolgten“ Düsseldorfer Kindern (S. 201), beschreibt auf der Basis von Briefen und Erinnerungserzählungen eindringlich das persönliche Erleben des kollektiven Verfolgungsschicksals ebenso, wie es dieses Schicksal faktisch rekonstruiert; dabei werden im Einzelfalle Flucht und Auswanderung, Deportation und Versteck gleichermaßen berücksichtigt. Angesichts der Dramatik und der Tragik dieser Kriegskindheiten zeigt sich ein begriffliches Defizit: Sie lassen sich nicht hinreichend unter die hier wie im Band durchweg stereotyp gebrauchten Kategorien „Verfolgung und Ausgrenzung“ subsumieren; diese Kategorien fassen nicht die Angst, die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung der jüdischen Kinder bei Beraubung, Ausplünderung und sadistischer Zerstörung, von der furchtbaren Deportation ganz abgesehen. Hier müssen weitere Kategorien erarbeitet, der von Fleermann eingangs vorgelegte „Katalog von Grunderfahrungen“ muss ergänzt werden.

Zuletzt setzt sich Hilde Jakobs mit der „Last des Erinnerns“ (S. 216) auseinander, die die Historiographie den Subjekten dieser Kriegskindheit nicht erspart und die sich daraus ergibt, dass das von ihnen Erlebte für Außenstehende kaum vorstellbar, geschweige denn nachvollziehbar, aber dennoch an die Nachgeborenen zu überliefern ist. Auf exakt dieses Dilemma haben die Herausgeber mit dem hier angezeigten Band reagiert. Er ist eine vorzügliche Referenz für Geschichte von Kindheit im Zweiten Weltkrieg als Rekonstruktion und als Vergegenwärtigung.

Anmerkungen:
1 Fleermann ist Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Benedikt Mauer Leiter des Stadtarchivs Düsseldorf.
2 „Kriegskindheit“ auf dem Lande ist ein anderes Kapitel, ebenso die Geschichte derjenigen Kriegskinder, deren Jugend 1940–1942 (mit 18 Jahren) endete; die Geburtsjahrgänge 1922–1924 wurden fast vollständig zur Wehrmacht eingezogen. Die Kriegsgeschichte der späten Kriegsjugend hat zuerst Nicholas Stargardt in den Blick gefasst (Nicholas Stargardt, „Maikäfer flieg!“ Hitlers Krieg und die Kinder, München 2006); der hier besprochene Band verzichtet auf eine altersgemäße Unterscheidung der Kindheits- und Jugendphasen.
3 So galt die Ausgabe 9/2015 des Magazins „Lernen aus Geschichte“ (LaG) dem Thema „Kriegskinder“.
4 Wortführend dort: Hermann Schulz / Hartmut Radebold / Jürgen Reulecke, Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration, Berlin 2004. Nicht untypisch für die Historiographie hierzulande steht eine Geschichte der ‚Töchter ohne Väter‘ aus.
5 Ungeachtet der Menge einzelner bzw. individueller Darstellungen, in der Regel autobiographische Erzählungen; sie summieren sich nicht zu einer Geschichte.
6 Beim Fallbeispiel des Leiters des KLV-Lagers Bad Wörishofen unterschiedliche Namensschreibweise (vgl. S. 160); Oberstudienrat „Stiehl“ ist korrekt.
7 Die „Milieus“ sind politisch, nicht soziologisch unterschieden und entsprechen damit nicht den gesellschaftlichen Milieus, wie sie in den berühmten Studien des Sinus-Instituts beschrieben und begrifflich gefasst werden („Sinus-Milieus“; allenthalben abrufbar; vgl. <http://www.sinus-institut.de> [04.05.2016]); an diese geläufigen Milieu-Bestimmungen hält sich Heide Rosenbaum in ihrer hier einschlägigen Studie zum Kinderalltag im Nationalsozialismus (Heidi Rosenbaum, „Und trotzdem war’s ‚ne schöne Zeit“. Kinderalltag im Nationalsozialismus, Frankfurt 2014).
8 Nicht „Gustav“, wie a.a.O., S. 185.
9 S. 185; das entscheidende „nicht“ fehlt dort.

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