I. Polianski: Das Schweigen der Ärzte

Titel
Das Schweigen der Ärzte. Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik


Autor(en)
Polianski, Igor J.
Reihe
Kulturanamnesen 8
Erschienen
Stuttgart 2015: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
439 S., 10 s/w Abb., 45 s/w Fotos
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Felder, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August Universität Göttingen

Während über die Involvierung deutscher Ärzte in die Verbrechen der Nationalsozialisten viel bekannt ist, weiß man wenig über die Rolle und die Bedeutung von Ärzten im totalitären sowjetischen Regime – allenfalls die Verfolgung von Dissidenten in den 1960er- und 1970er-Jahren mittels der Psychiatrie hat einen gewissen Bekanntheitsgrad. Die Literatur ist spärlich. Auch der bahnbrechende Sammelband „Soviet Medicine“ von 2010, herausgegeben von Frances Bernstein, Christopher Burton und Dan Healey1, betrachtet nur selektiv einzelne Themen mit einem Schwerpunkt auf der Phase von der Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Daher blickt man gespannt auf den vorliegenden Band, der sich der gesamten Sowjetunion von 1917 bis 1991 widmet, wobei es sich um eine kulturwissenschaftliche Arbeit handelt und somit politik- und sozialgeschichtliche Aspekte nicht im Fokus stehen.

Schwerpunkt der Habilitation von Igor Polianski, der am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm arbeitet und als einer der wenigen Kenner der russischen Medizingeschichte in Deutschland gelten kann, ist einerseits das Verhältnis von Ärzten und sowjetischem Staat und andererseits deren Selbstbild und die damit verbundenen medizinisch-ethischen Grundtendenzen, die wiederum vom Regime vorgegeben wurden.

Eine Geschichte der russisch-sowjetischen Medizin, die einen Zeitraum von gut 100 Jahren in den Blick nimmt, wird automatisch mehr generelle Tendenzen beschreiben, als den Anspruch haben, die gesamte Periode in der Tiefe zu durchdringen. Zusätzlich muss die politische und soziale Geschichte zumindest in groben Zügen erzählt werden, was hohe Anforderungen an den Autor stellt. Polianski beginnt seine Erzählung im späten Zarenreich, in dem die Medizin, wie im übrigen Europa auch, einem raschen und radikalen Wandel unterlag: einerseits hinsichtlich ihrer Professionalisierung und Medikalisierung, andererseits fielen in diese Zeit revolutionäre Fortschritte im Bereich der Bakteriologie und Genetik, an denen auch russische Wissenschaftler wie Ilja Mtschnikow oder Nikolaj Gamaleja beteiligt waren. Gleichzeitig war diese Phase auch von einer Ideologisierung der Medizin geprägt, die sich sozialmedizinischen Paradigmen verschrieben hatte und so den west-östlichen Wissenstransfer und die wissenschaftliche Modernisierung verzögerte.2

Nach der Revolution veränderte sich vor allem der gesellschaftliche Status der Ärzte. Während russische Mediziner im späten 19. Jahrhundert aufgrund der Etablierung halbautonomer Regionalverwaltungen (im Zuge der so genannten Semstwo-Reformen), auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung und Medizinalverwaltung unabhängig von staatlicher Kontrolle agieren konnten, mussten sie sich nun dem neuen Staat der Bolschewiki beugen. Sinnbildlich erfolgte dies im Jahr 1922 mit der Auflösung der altehrwürdigen Pirogow-Gesellschaft. Unter der Führung des neuen „Volkskommissars für Gesundheit” A. Semaschko wurden Medizin und medizinische Ausbildung verstaatlicht. Die „Sozialhygiene” und die Präventivmedizin bildeten die neuen gesundheitspolitischen Paradigmen. Gleichzeitig wurde das Bild des Arztes als medizinischem Experten und „Heilkünstler“ schrittweise „entzaubert“ (S. 77). Strukturell wurde die medizinische Profession zum Organ der staatlichen Gesundheitspolitik umgeformt, was der Autor treffend als „medizinischen Nihilismus“ bezeichnet (S. 101). Dies äußerte sich in einer zunehmenden Demontage der ärztlichen Schweigepflicht, etwa durch die gesetzliche Meldepflicht bei Infektionskrankheiten wie der Syphilis, aber auch bei „Missgeburten“ (S. 112).

Die Entwicklung hin zum „gläsernen Arztzimmer“ kumulierte im beginnenden Stalinismus gegen Ende der 1920er-Jahre. Es begann eine Phase zwischen „Repression und Duldung“ (S. 132). So wurden Ärzte denunziert und als heimtückische Kurpfuscher hingestellt. Ärzte wurden auch im Rahmen der Verfolgung der alten bürgerlichen „Spezialisten“ und der neuen „nationalen“ Eliten in den nichtrussischen Regionen reprimiert. So waren etwa unter den Opfern des Terrors in der Ukraine, wo die Vernichtung der gerade erst etablierten Kader bereits 1929 begann, zahlreiche Ärzte (S. 142).

Der Stalinismus bedeutete für die sowjetische Medizin einen Paradigmenwechsel weg von der „Sozialhygiene“, hin zu einer Medizin, die den Prozess der Industrialisierung unterstützen sollte. In einem „perfekten“ Staat konnten Krankheiten keine „sozialen“ Ursachen haben, sondern mussten biologischen Ursprungs sein; ein Sachverhalt, auf den Polianski leider nicht eingeht. Der Autor kann nachweisen, dass sich nach langer Zeit die materielle Situation der Ärzte maßgeblich änderte und die Gehälter angehoben wurden. Freilich waren Ärzte in den späten 1930er-Jahren dem Terror genauso ausgesetzt, wie alle anderen Berufsgruppen. Die tatsächliche Rehabilitierung erfolgte dann während des Zweiten Weltkriegs, als Ärzte dringend an der Front benötigt wurden. Die neue Rolle wurde von diesen auch gern angenommen. Polianski spricht hier von einer „Amnesie“ (S. 181) der Ärzte, die die vorherige Abwertung des Berufsstandes und Verfolgung verdrängten, um in den neuen Aufgaben aufzugehen.

Nach dem Krieg kam es zu einer weiteren Aufwertung der Mediziner, wenn sie auch weiterhin ein Instrument des Regimes waren. Medizinethisch spricht Polianski hier von der Deontologie, einer Pflichtethik also, die sich ideologischen Grundsätzen verschrieben hatte. Diese bestand nicht nur in der „lackierten Wirklichkeit“ (S. 193) des Spätstalinismus, sondern setze sich bis in die Spätphase des sowjetische Imperiums fort und manifestierte sich etwa im neuen sowjetischen Ärzteschwur, der zwar nicht flächendeckend eingeführt wurde, aber ab den 1960er-Jahren in führenden Ausbildungsstätten etabliert wurde. Dieser Eid verpflichtete die Ärzte letztlich auf den Staat und die kommunistische Partei, was zu weiterem Missbrauch führen sollte. Berüchtigt war in diesem Zusammenhang die Instrumentalisierung der Psychiatrie bei der Verfolgung von Dissidenten seit den 1960er-Jahren, die Polianski eher kursorisch abhandelt.

Problematisch ist an der Arbeit weniger der kulturwissenschaftliche Ansatz, der sich auf Habitus, Ethos und Selbstbild konzentriert, als vielmehr die Tatsache, dass der Autor nur in publizierten Quellen, Aufsätzen und Monographien recherchiert hat. Durch den Verzicht auf die Archivarbeit bleibt vieles ungenau und auf die propagandistische Oberfläche beschränkt – angesichts der aktuellen Arbeitsbedingungen in russischen Archiven mag das nachvollziehbar sein. Ein Blick in die Akten des Gesundheitsministeriums hätte allerdings gezeigt, wie stark etwa die Eugenik, die Vorstellungen einer genetischen „Verbesserung“ des Menschen, das Denken der sowjetischen Mediziner in den 1930er-Jahren tatsächlich bestimmte und wie sehr das vermeintliche Abtreibungsverbot von 1936 ein Gesetz zur eugenischen Bevölkerungspolitik darstellte. Insgesamt geht der politische Blickwinkel mitunter verloren. So war der Missbrauch der Psychiatrie eben kein „Sündenfall“, sondern eher eine logische Folge der politisierten Medizin, was an der psychiatrischen Schule des Serbski-Instituts in Moskau abzulesen ist, die eine Definition der „schleichenden Schizophrenie“ entwarf, die nicht anderes war, als eine Vorlage zur Verfolgung von Dissidenten.3 Es gäbe weitere Beispiele, bei denen das „Schweigen“ der Ärzte eine direkte Unterstützung des Regimes darstellte und diverse Verbrechen legitimierte, wie etwa die forensische Umetikettierung der Massenmorde von Katyn als nationalsozialistische Verbrechen.4

Insgesamt könnte man den Titel des Buches so interpretieren, dass es sich beim „Schweigen der Ärzte“ einmal um den Verlust der ärztlichen Schweigepflicht in der frühen Sowjetunion handelt, zum anderen um den nicht erfolgten Protest der Berufsgruppe gegen diese Entwicklung und die politisch-ideologische Vereinnahmung der Ärzteschaft durch das Regime – im Grunde ein bitteres Fazit.

Aus transnationaler Perspektive hätte man sich auch gewünscht, die sowjetische Entwicklung mit der „westlichen“ zu vergleichen. Dennoch ist die vorliegende sowjetische Medizingeschichte trotz der angemerkten Mängel und gelegentlich fehlender politischer Pointierung einzigartig und wird auf lange Sicht ein Standardwerk bleiben.

Anmerkungen:
1 Frances Bernstein / Christopher Burton / Dan Healey (Hrsg.), Soviet Medicine, Culture, Practice and Science, DeKalb 2010.
2 Zum sozialmedizinischen Paradigma vgl.: John F. Hutchinson, Politics and Public Health in Revolutionary Russia, 1890–1918, Baltimore 1990. Zur Ideologisierung vgl.: Björn Felder, Rückständigkeit als selbstgewählter Sonderwerg? Biomedizin, Intelligenzija und ideologisierte Wissenschaft im späten Zarenreich 1890–1917, in: David Feest / Lutz Häfner (Hrsg.), Zukunft der Rückständigkeit. Chancen-Formen-Mehrwert. Festschrift für Manfred Hildermeier zum 65. Geburstag, Köln 2016 (im Druck).
3 Robert van Voren, Cold War in Psychiatry. Human Factors, Secret Actors, Amsterdam 2010.
4 Marina Sorokina, Between Power and Experts. Soviet Doctors Examine Katyn, in: Frances Bernstein / Christopher Burton / Dan Healey (Hrsg.), Soviet Medicine, Culture, Practice and Science, DeKalb 2010, S. 155–173.

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