A. Matthaei u.a. (Hrsg.): Urbane Strukturen

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Titel
Urbane Strukturen und bürgerliche Identität im Hellenismus.


Herausgeber
Matthaei, Albrecht; Zimmermann, Martin
Reihe
Die hellenistische Polis als Lebensform 5
Erschienen
Heidelberg 2015: Verlag Antike
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 119,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beck Constantin, Alte Geschichte, Universität Mannheim

Mit dem fünften Band der Reihe „Die hellenistische Polis als Lebensform“ liegt nun eine „Bilanz“ des DFG-Schwerpunktprogramms (SPP 1209) gleichen Namens vor. Die Beiträge gehen auf eine im März 2012 in München stattgefundene Abschlusstagung zurück und sind in den meisten Fällen Zwischenberichte auf dem Weg zu Monographien. In seinem einleitenden Beitrag (S. 7–10) umreißt Martin Zimmermann die Ausgangsfrage: „Die Attraktivität des Modells der griechischen Polis bestand […] zu einem guten Teil darin, dass sie die spezielle sozio-politische Organisationsform als Bürgergemeinde mit einer urbanen Gestaltung verband. Hauptziel des Schwerpunktprogramms war es, diesen Befund besser verstehen zu können und den Zusammenhang zwischen sozio-politischen Strukturen und urbanen Veränderungen genauer zu beschreiben.“ (S. 7) Die Herangehensweise wurde interdisziplinär, methodenpluralistisch und durch Vernetzung von Forschungsfragen konzipiert. Dennoch sind die Teilprojekte zu fünf Forschungsfeldern gebündelt, tendenziell nach archäologischer bzw. historischer Provenienz getrennt (S. 8–9): So behandeln die Felder 1. „Polisgenese und Zentralisierungsprozesse“, 2. „Die Phasen urbanistischer Entwicklung und ihre regionale Prägung“, 3. „Bedeutung und Entwicklung öffentlicher Bauten, insbesondere Tempel und Gymnasia“ und 4. „Strukturen ländlicher Besiedlung und ihre spezifische Dynamik“ eher archäologische und geopolitische Fragen, wohingegen unter dem 5. Feld „Soziale Stratigraphie der Bürgergemeinschaft, Amtsträger, Priester und politische Institutionen“ althistorischen Fragestellungen nachgegangen wird. Die angeführten Überschneidungen der Forschungsfelder sind selbstverständlich. Fragen nach der Interdisziplinarität werfen sich jedoch auf, wenn, wie bei dem Quellenkonvolut „Priene“, sich im althistorischen Beitrag ausschließlich der Epigraphik zugewendet wird, wohingegen auch bei den neuen archäologischen Forschungen Erkenntnisse zum soziokulturellen Wandel zu finden wären.

Das Forschungsinteresse an Sympolitie und Synoikismos ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Christof Schuler und Andreas Walser (S. 350–359) verdeutlichen anhand zweier Fallbeispiele, Phokis und Lykien, welche Ausgleichsmechanismen bei Partnern mit einem Machtgefälle ausgehandelt worden sein müssen und dass ein Zusammenschluss trotz des vorherrschenden Autonomiediskurses nicht als Scheitern empfunden worden sein muss. Klaus Freitag untersucht hingegen (S. 56–67) für das griechische Mutterland und in einer Fallstudie zu Megara, wie bundesstaatliche Organisationsformen auf die einzelne Polis rückwirkten. Er zeigt, dass „Traditionen, Einrichtungen, Institutionen und Verfassung bewahrt“ (S. 56) wurden, freilich abhängig davon, unter welchen Umständen das Neumitglied eingegliedert wurde.

Die Herausgeber Martin Zimmermann und Albrecht Matthaei präsentieren zusammen mit Güler Ateş ihre Surveyergebnisse aus der Chora von Pergamon (S. 193–236). Deutlich wird, dass mit dem Aufschwung der Zentralmetropole auch die kleineren Poleis wie Atarneus aber auch Festungsanlagen und Gehöfte baulich profitierten. Mit dem Ende der Attaliden lässt sich eine Krise feststellen, die an manchen Orten zur völligen Aufgabe der Besiedlung führte. Sicher werden die angekündigten weiteren Surveys neue Erkenntnisse der archäologischen Befunde liefern, durch die eine konkrete Thesenbildung hinsichtlich der „bürgerlichen Identität“ vorgenommen werden kann.

Die Teams um Frank Rumscheid (S. 283–299) und Wulf Raeck (S. 255–282) haben neue Grabungsergebnisse aus Priene vorgelegt. Die zwischen den beiden Projekten gezogene Trennlinie zwischen „öffentlich/kultischer Raum“ und „privater Raum“ stellt nach wie vor ein terminologisches Problem dar. Es wird zwar auf ein Kolloquium zu dieser Problematik hingewiesen (S. 256), aus diesem gezogene Ergebnisse werden allerdings nicht genannt. Probleme aus dieser Aufteilung ergeben sich konkret bei den von Rumscheid identifizierten „Vereinslokalen“ und „Mietandones“ in den Insulae F3–F5 (S. 284 und S. 287). Gerade durch deren Existenz und die Vergrößerung von Andrones in Häusern mit „Palastarchitektur“ (S. 288) ist es fraglich, ob man hier noch über „private Räume“ sprechen kann. Ausgesprochen hilfreich ist das – wie im gesamten Band – qualitativ hervorragende Karten- und Bildmaterial.

Klaus Rheidt zeigt (S. 300–329) inwiefern die baulichen Umgestaltungen von Pergamon, Assos, Typaneai und Samikon Rückschlüsse auf die Bürgeridentität gewähren. Erwähnenswert ist für Pergamon die Thesenbildung über ein am Fuß des Burgberges rekonstruierbares „Poliszentrum […] im ausgehenden 4. […] Jh. v.Chr., welches den Polisinstitutionen einen architektonischen Rahmen bot“ (S. 305). Dieses Zentrum sei sodann mit der Etablierung der Attaliden okkupiert worden und damit ein „Übergang von kollektiver zu imperialer (!) Stadtplanung“ (S. 305) vollzogen worden. In Assos weist ein großes Bouleuterion aus frühhellenistischer Zeit auf eine selbstbewusste Bürgerschaft, wohingegen Banketträume an der Agora als „private Stiftungen“ der Selbstdarstellung Einzelner gedient haben können (S. 306/7). In Typaneai in Triphylien deutet die Inkorporation eines Prytaneions in das bestehende Stadtraster auch die Bedeutung dieses Gebäudes an. Auch Joachim Heiden und Corinna Rohn haben in Ihrem Beitrag Triphylien geologisch und siedlungstopographisch in den Blick genommen (S. 330–349).

Ralf Krumeich und Christian Witschel konnten einem alten Befund neue Informationen entnehmen (S. 153–162): Anhand von Standspuren der Statuenbasen der Athener Akropolis können Rückschlüsse auf die Ikonographie der verlorenen Bilder des Betrachtungszeitraums gezogen werden. Ob eine Interpretationskette, wie die, dass „Sextus Pompeius […] um 120 v.Chr. in der Tradition der insbesondere in frühklassischer Zeit beliebten Kriegerfiguren in leichter Ausfallstellung und damit als dynamischer und vorbildhafter Militär dargestellt wird“ und dass „das bewegte Standmotiv dafür spricht, dass der Geehrte hier als weitgehend nackter oder gepanzerter Offizier präsentiert wurde“ (S. 156) wirklich belastbar ist, bleibt fraglich.

Das Projekt zur Residenzstadt Lysimacheia von Achim Lichtenberger, Dieter Salzmann und Helge Nieswandt (S. 163–192) konnte anhand eines Surveys in der thrakischen Chersones sowie durch Abgleich mit numismatischen, epigraphischen und literarischen Quellen die Lage der Stadt, Häfen, Wohngebiete, Basileia sowie durch Architekturteile einen bisher unbekannten dorischen Tempel lokalisieren. Ein Relief mit Himmelskörperabbildungen legt ferner eine „kultische Auseinandersetzung mit einem Himmelsschauspiel“ (S. 176) nah.
Andreas Oettel berichtet über die Grabungen in Lissos (S. 237–254): In den Kampagnen konnten vier Phasen der Stadtbebauung unterschieden werden. Während die Gründungsphase als hellenistische Polis insbesondere durch eine Stadtmaueranlage in Erscheinung tritt, lässt sich mit dem Ende der Illyrischen Autonomie 168 v.Chr. eine Zerstörung konstatieren, die die zweite Phase beendet. Unter römischer Hegemonie wird die Stadt wiedererrichtet und erlebt bereits im 1. Jahrhundert n.Chr. erneut eine Zerstörung. Die hierbei zu unterscheidenden „illyrischen“ und „römischen“ Phasen seien durch Akkulturationsprozesse gekennzeichnet, die unter anderem am Keramikbefund abzulesen seien. Hierbei ist auf das Methodenproblem zur Akkulturation hinzuweisen.1

Henner von Hesberg verdeutlicht am hellenistischen Theater (S. 99–122), dass sich „die Bürgerschaft im Rund des Koilon zusammen mit ihren Gästen als Einheit erlebte“. Zwar gibt es durch die Prohedrie und (Kranz-)Ehrungen deutliche Hervorhebungen, jedoch waren innerhalb dieser Gruppen die Auszeichnung „für alle Ausgezeichneten weithin gleich“ (S. 110). Zudem tritt, dass „immer neue Personen geehrt wurden, es kam also zu immer neuen Gruppierungen [der Geehrten]“ (S. 107). Ein solches von von Hesberg beschriebenes „prästabilisierende System der Gleichheit“ (S. 106) kann jedoch durch Verstetigung eines Honoranden aufgehoben werden. Auch eine Parallelüberlegung hinsichtlich Zusammenkünften von Geehrten im Prytaneion als Zusammenkunft von Gleichen (S. 107) lässt sich entgegenhalten, dass es auch hier Möglichkeiten der Differenzierung gab: Laut Liv. XLI, 20, 7 spendierte Antiochos IV. goldene Teller für nur einen Tisch des Prytaneions von Cyzicus. Durch eine solche Limitierung lässt sich eine Hervorhebung unter „Gleichen“ herstellen.

Das Gymnasion im Hellenismus wurde insbesondere durch den von Daniel Kah und Peter Scholz herausgegebene Sammelband neu beleuchtet.2 Wie schon dort nimmt Ralf von den Hoff das Gymnasion von Pergamon unter besonderer Berücksichtigung der statuarischen Ausstattung in den Blick (S. 123–145): Auf der Grundlage neuer Forschungen wird gezeigt, wie sich die Institution der Polis schlechthin von seiner monarchischen Gründungsphase hin zu einem bürgerlichen Raum „im Spannungsfeld von Bürgergemeinschaft, Königen und herausragenden Einzelnen“ (S. 133) entwickelt hat. Dirk Steunagel untersucht (S. 360–385) die pergamenischen Tempel der monarchischen Zeit als „Erinnerungsorte“, die durch Ausgestaltung und Standort Rückschlüsse auf religiöse, kulturelle und soziale Kommunikation liefern. Das Team um Felix Pirson hingegen fokussiert sich auf Elaia und dessen Beziehung zu Pergamon (S. 22–55). Das interdisziplinäre Projekt aus archäologischem Survey, geowissenschaftlicher und historisch-philologischer Methoden hat dabei Anknüpfungspunkte hinsichtlich der städtebaulichen Prosperität einer Polis im Schatten einer (Königs-)Metropole und insbesondere im Bereich der militärischen Gebietssicherung Pergamons herausgestellt. Mit dem Survey der Hafenanlagen wird deutlich, dass sowohl die militärische Nutzung als auch der Fernhandel hier eine Rolle gespielt haben, was nicht zuletzt den „internationalen“ (S. 41) Charakter geprägt haben dürfte.

Winfried Held und Christine Wilkening-Aumann präsentieren Ergebnisse ihres Surveys auf der Karischen Chersones (S. 74–98). Ziel war es, die „Transformation des karischen Bundes zu einem Teil der Polis Rhodos“ zu untersuchen. Neben neuen Funden in Bybassos und dem Hemithea-Heiligtum von Kastabos konnten auch bisher unentdeckte Siedlungen dokumentiert werden. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass trotz der rhodischen Bürgerrechtsverleihung und des Engagements Anfang des 3. Jahrhunderts v.Chr. die Bundesversammlung der Chersonesier weiterhin Bestand hatte und „die einheimischen Karer ihre angestammte politische Organisation fortführten“. Einen weiteren Beleg für einen Traditionalismus zeige sich bei den Grabtypen (S. 86). Ob hier die Gleichsetzung von politischer Organisation und Grabornamentik stimmig ist, bleibt fraglich.

Daniel Kah legt für Priene eine epigraphische Untersuchung vor, die sich im Spannungsfeld Honoratiorenherrschaft – Demokratie3 ansiedelt (S. 386–399). Es wird gezeigt, dass „das Modell eines wachsenden Einflusses der Euergeten in späthellenistischer Zeit auch auf Priene anwendbar ist. Allerdings geht aus einer genauen Betrachtung der Zeugnisse auch hervor, dass das Funktionieren einer demokratischen Verfassung in einer Polis mit einer kleinen Bürgerschaft nur durch eine hohe Partizipation der Politen gewährleistet werden konnte. Wandel ist daher vor allem im sozialen Bereich festzumachen und betraf die politischen Machtverhältnisse zunächst nur informell.“ (S. 386) Fraglich ist, ob eine solche Trennung in der politischen Praxis relevant ist. Kah zeigt zwar unter Berücksichtigung des epigraphic habit, dass weder eine Verfassungsänderung noch die Genese einer „Oberklasse“ (S. 390) nachzuweisen ist. Allerdings stellt die von Kah in ihrer politischen Funktion relativierte Bedeutung der sitesis „das demokratische Ideal der politischen Gleichheit“ (S. 393) doch in Frage: Auch wenn die Quellen schweigen, kann damit gerechnet werden, dass eine exklusive Zusammenkunft im Prytaneion mehr als ein reiner „Festakt“ gewesen ist, sondern in Phasen eine „politische Zusammenkunft“ (Anm. 37). Marietta Horster und Peter Kató behandeln in ihrem Beitrag neben Athen und Kos ebenfalls Priene hinsichtlich der Frage nach der sozialen Konstruktion religiöser Funktionsträger (S. 146–152).

Linda-Marie Günther schildert knapp die Ergebnisse ihres epigraphischen Projektes über Bürgerinnen im hellenistischen Milet und deren Rolle in der Polisöffentlichkeit (S. 68–73). Aus dem Text geht glücklicherweise ein leicht zu übersehender Verweis auf die Monographie4 hervor. Günther zeigt, dass soziale und politische Netzwerke ineinander verwoben waren und „dass Frauen zur sozialen Mobilität beitrugen“ (S.72). Ein allzu hartes Urteil über die meisten Aufsätze dieses Sammelband wird damit gefällt, dass „Milet nach wie vor die einzige antike bzw. hellenistische Stadt neben Athen ist, die eine nähere Analyse bürgerlicher Identität ermöglicht“ (S. 86).

Den Abschluss des Bandes gestaltet Martin Zimmermann mit einem Epilog auf einen neuen theoretischen Überbau der Stadtforschung (S.400–406): Die wichtigsten Marken hierbei sind das Bewusstwerden von lokalen Besonderheiten, Ungleichzeitigkeiten und Diversität einerseits aber auch eine Koexistenz von Diskursen und Räumen sowie performativer Akte als „Produzenten städtischer Identität“. „Die bildlichen und textuellen Repräsentationen städtischer Identität werden demnach erst umfassend begriffen, wenn man sie mit der urbanen Struktur als physischer Textur der Stadt und den sozialen, politischen und sakralen Praktiken ihrer Bewohner in einem Gesamtbild erfasst.“ (S.403)

Diesen Dienst konnte der Abschlussband des SPP in weiten Teilen erbringen. Und wo er es nicht konnte, darf man auf die Monographien gespannt bleiben.

Anmerkungen:
1 Ulrich Gotter, Akkulturation als Methodenproblem der historischen Wissenschaften, in: Wolfgang Eßbach (Hrsg.), wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg 2000, S.373–406.
2 Daniel Kah / Peter Scholz (Hrsg.), Das hellenistische Gymnasion, 2. Aufl., Berlin 2007 (1. Aufl. 2003).
3 Christian Mann / Peter Scholz (Hrsg.), „Demokratie“ im Hellenismus – von der Herrschaft des Volkes zur Herrschaft der Honoratioren?, Die hellenistische Polis als Lebensform Bd. 2, Berlin 2012, mit weiterführender Forschungsdiskussion.
4 Linda-Marie Günther, Bürgerinnen und ihre Familien im hellenistischen Milet. Untersuchungen zur Rolle von Frauen und Mädchen in der Polis-Öffentlichkeit, Wiesbaden 2014.

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