A. Holenstein u.a. (Hrsg.): Im Auge des Hurrikans

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Titel
Im Auge des Hurrikans. Eidgenössische Machteliten und der Dreissigjährige Krieg


Herausgeber
Holenstein, André; von Erlach, Georg; Rindlisbacher, Sarah
Anzahl Seiten
160 S., farbige/sw Abb.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Bertrand Forclaz

Der Dreissigjährige Krieg (1618–1648) bleibt für die Schweiz ein „blinder Fleck“ der Forschung, obwohl Historikerinnen und Historiker in den letzten Jahren die Verwicklung der Eidgenossenschaft in den Krieg beleuchtet haben – sei es durch die Fremden Dienste, die Besetzung einiger Zugewandten Orte oder die Zuflucht.1 Das von André Holenstein herausgegebene Buch stellt in dieser Hinsicht eine willkommene und wichtige Ergänzung dar. Der Band, welcher die Beiträge einer Tagung im Schloss Spiez aus dem Jahr 2014 dokumentiert, behandelt die Beziehungen zwischen den eidgenössischen Machteliten und den Monarchien während des Krieges – vor allem anhand des Berner Patriziers Franz Ludwig von Erlach (1574–1651). Besonders interessant ist die interdisziplinäre Annäherung, da das Buch auch bau- und kunsthistorische Beiträge beinhaltet, welche die Porträts von Erlachs, seine Bautätigkeit als Herr von Spiez sowie eines seiner Toilettenservices behandeln.

In der Einleitung erörtert Holenstein die Fragestellung des Bandes: Es geht darum, die Beziehungen zwischen den Angehörigen der eidgenössischen Eliten – beispielsweise als Militärunternehmer, Pensionenausteiler und Informanten – und den auswärtigen Mächten zu beleuchten, um mit neuen Argumenten die bekannte Frage zu beantworten, weshalb die Schweiz vom Krieg weitgehend verschont wurde und sozusagen im Auge des Hurrikans blieb. In einem weiteren Beitrag über die „Transnationale Politik“ betont Holenstein die Verflechtung zwischen der Eidgenossenschaft und Europa während des Krieges. Anhand ausgewählter Beispiele zeigt er, welche Karrierechancen der Krieg den eidgenössischen Politik- und Militärunternehmern eröffnete. Er hebt auch die den Orten durch den Krieg aufgedrängten Lernprozesse hervor – so etwa den Sinn für die Notwendigkeit der Neutralität. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es für die Frühe Neuzeit angebracht ist, von „Transnationalität“ (S. 61) zu sprechen – Nationen im Sinne der 19. und 20. Jahrhundert gab es ja noch nicht.

In den Beiträgen, welche von Erlach gewidmet sind, werden seine Macht- und Repräsentationsansprüche, aber auch die kluge Führung seiner gesellschaftlichen und politischen Beziehungen deutlich. Teile dieses Repräsentationswillens beschreibt etwa Jürg Schweizer anhand der barocken Ausstattung des Schlosses Spiez im Auftrag von Erlachs an die Tessiner – und katholischen – Architekten Castelli; genauso wie Claudia Engeler am Beispiel der Schenkung der Bibliothek des französischen Diplomaten Jacques Bongars an den Stadtstaat durch von Erlachs Schwiegersohn, für welche von Erlach sich einsetzte; oder Andrea Arnold anhand der Porträtaufträge von Erlachs, der in den frühen 1620er-Jahren seine gesamte Familie porträtieren liess. Die sozialen Beziehungen von Erlachs in den Berner Räten, die Norbert Furrer beispielsweise durch Patenschaften und Zunftgenossenschaften genau untersucht, zeigen auch seine Fähigkeit, nicht nur horizontale Beziehungen zu schaffen und zu unterhalten, sondern ebenso Klienten an sich zu binden. Andreas Würgler erweitert den Blick auf die eidgenössische Politik mit der Untersuchung der vielen Mandate von Erlachs als Gesandten an eidgenössischen Versammlungen, der Erörterung seiner europäischen Nachrichtenbeschaffung (dabei insbesondere die Rolle seines Vetters Johann Ludwigs von Erlach) und mit der Analyse seiner politischen Rolle an eidgenössischen Tagsatzungen. Von Erlach war ein Vermittler und befürwortete Kompromisse zwischen reformierten und katholischen Orten sowie das französische Bündnis, wobei er die Interessen seiner Familie, vor allem in den Fremden Diensten, nicht vergass.

Eine Reihe von Beiträgen behandeln Familien und Persönlichkeiten weiterer eidgenössischer Orte (Zürich, Schwyz, Luzern) und eines mit der Eidgenossenschaft lose verbunden Zugewandten Ortes (Graubünden). Bei diesen zwar interessanten Aufsätzen ist in manchen Fällen der Bezug zum Dreissigjährigen Krieg jedoch nur locker: Philipp Rogge widmet nur einige Seiten seines spannenden Beitrags zur Luzerner Familie Pfyffer dem Dreissigjährigen Krieg; dasselbe gilt für den sehr allgemeinen Beitrag von Randolph Head zu den Familiennetzwerken in Graubünden, der die ganze Frühe Neuzeit behandelt und nur beiläufig den Krieg und die Beziehungen mit den europäischen Mächten thematisiert. Im Aufsatz von Peter Niederhäuser zur Schwyzer Familie Reding im späten 16. und 17. Jahrhundert wird der Dreissigjährige Krieg kaum erwähnt – obwohl es äusserst fruchtbar gewesen wäre, den in französischen Diensten tätigen Offizier Wolfgang Dietrich Reding näher zu betrachten. Wahrscheinlich sind diese Lücken auf den mangelhaften Zustand der Historiographie zurückzuführen, dennoch schwächen sie das Buch ein wenig.

Was sagen diese Beiträge über die Verflechtung der Eidgenossenschaft mit Europa während des Dreissigjährigen Krieges aus? Zunächst zeigen sie die vielfältigen Beziehungen zwischen den jeweiligen konfessionellen Lagern, vor allem auf reformierter Seite. So nahm der spätere Zürcher Bürgermeister Johann Heinrich Waser, der mit Vertretern der lokalen reformierten Orthodoxie sehr gut vernetzt war, an der Synode der reformierten Kirche in Dordrecht (1618/19) teil, wonach er 1620 als Sekretär der Gattin des Kurfürsten und „Winterkönigs“ Friedrichs V. in Böhmen weilte. Auch die Beziehungen Wasers und von Erlachs mit den reformierten Bündnern scheinen sehr dicht gewesen zu sein. Bei den katholischen Orten hingegen fallen das wegen des Veltlins angespannte Verhältnis mit Frankreich und die Aktivierung der Kontakte mit den katholischen Ständen des Heiligen Römischen Reiches – zum Beispiel Bayern – auf. Galt diese Entfremdung von Frankreich aber auch für Familien, die wie die Redings von der französischen Monarchie stark abhängig waren?
Diese Beiträge betonen gleichzeitig auch die politische Kultur der Eintracht: Trotz der wachsenden politischen und konfessionellen Kluft innerhalb der Eidgenossenschaft hingen mehrere dieser Offiziere und Magistraten am überkonfessionellen Zusammenhalt: „dass wir im Vatterland ainig verbleiben, und die Religion beyseits setzen“, ermahnte 1634 Rudolf Reding wichtige Vertreter der reformierten Orte (unter anderem Johann Ludwig von Erlach) kurz vor seinem Tod in Paris (S. 151).

Dieser insgesamt gelungene Band ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Eidgenossenschaft während des Dreissigjährigen Krieges: Wenn der Schwerpunkt logischerweise auf den reformierten Machteliten liegt, gilt die Erweiterung des Blickes auf die katholischen Orte als ein besonderer Verdienst dieses Buches. Es bleibt zu hoffen, dass das reiche Feld der vielfältigen Beziehungen zwischen eidgenössischen Eliten und europäischen Mächten während des Dreissigjährigen Krieges weiter bestellt wird.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Verena Villiger, Jean Steinauer / Daniel Bitterli, Im Galopp durchs Kaiserreich: Das bewegte Leben des Franz Peter König, [1594–1647], Baden 2006; Randolph C. Head, „Jenatsch Axt“. Soziale Grenzen, Identität und Mythos in der Epoche des Dreissigjährigen Krieges, Chur 2012; Bertrand Forclaz, „Turning Swiss? Border identities in the Swiss Confederation during the Thirty Years War“, in: Raingard Esser / Steven G. Ellis (Hrsg.), Frontier and border regions in early modern Europe, Hannover 2013, S. 199–216.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/