Cover
Titel
Kapitulation im Kino. Zur Kultur der Besatzung im Jahr 1945


Autor(en)
Merkel, Ina
Erschienen
Berlin 2016: Panama
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
€ 28,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Weckel, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Dies ist ein höchst originelles Buch. Schon der Titel hat es in sich. Gab es 1945 nach der militärischen deutschen Kapitulation auch eine kulturelle – im Kino? Und, wenn ja, wer kapitulierte da vor wem oder was? Die Deutschen vor den Alliierten, indem sie pflichtschuldig nun deren Filme anschauten, anklagende gar? Oder die Alliierten vor den Deutschen, ihrem Bedürfnis nach Amüsement und Ablenkung sowie ihrer Vorliebe für eigene, sprich deutsche Filme? Immerhin liefen ja schon wenige Monate nach Kriegsende in allen Besatzungszonen neben amerikanischen, sowjetischen, französischen und britischen Filmen auch deutsche Unterhaltungsfilme aus der NS-Zeit, die alliierte Begutachter zuvor als unpolitisch und harmlos eingestuft hatten und sei es, nachdem die eine oder andere Einstellung mit Hakenkreuz herausgeschnitten worden war.

Ina Merkel wirft in ihrem Buch viele reizvolle Fragen auf, über die es lohnt, weiter nachzudenken. Nicht alle kann sie beantworten. Aber das muss auch gar nicht sein. Viele Antworten könnten nur voreilig sein, würden die offene Situation „des Nichtmehr und Nochnicht“ (S. 17)1, die Uneinigkeiten und Widersprüche, gemischten Gefühle und unterschiedlichen Wahrnehmungen bloß einebnen. Die im Titel versteckte Frage indes beantwortet Merkel: Kapituliert hätten die deutschen Kinogänger nicht, vielmehr hätten die meisten von ihnen deutsche Filme denen der Alliierten vorgezogen und von letzteren am ehesten Komödien und Musicals goutiert, bei wenig Volkstümlichem, Avantgardistischem sei gelegentlich sogar vernehmlich gemurrt worden. Doch die Bereitschaft der Besatzungsmächte, in ihrem Wetteifer um die Gunst der Nachkriegsdeutschen diesen, anders als zunächst geplant, etliche Filme ihrer heimischen Filmindustrie zu zeigen, sei umgekehrt ebenso wenig als Kapitulation zu bewerten. Zum einen hätten deutsche Filme Deutsche ins Kino gelockt, in dem sie dann erst einmal eine Wochenschau vorgesetzt bekamen, die in aller Regel mit dem „Dritten Reich“ scharf ins Gericht ging, zumindest sarkastische Referenzen einstreute. Zudem ergaben die Filme aus der NS-Zeit nun womöglich einen neuen, seinerzeit unvorhergesehenen Sinn. Zum anderen aber führten die Alliierten eben auch ihre eigenen Filme vor, so dass im Kino (Film)Kulturen aufeinanderstießen. Deutsche Kinogänger/innen, die sich ihren Reim auf einen ausländischen Film machen wollten, setzten sich unweigerlich mit den in ihm repräsentierten Glücks- und Moralvorstellungen auseinander, fühlten mit fremden Protagonist/innen mit, erlebten eine neue Ästhetik und einen anderen Humor. Deutsche hätten die kulturellen Präferenzen der Alliierten zwar nicht übernommen, aber die alliierten Filme seien keineswegs ohne Einfluss auf sie geblieben. Im Kino, lautet Ina Merkels Befund, sei unwillkürlich „eine Nähe“ entstanden, „die so nicht intendiert gewesen war“ (S. 28).

Diese Filme selbst, ihre Narrative und möglichen Lesarten stehen im Zentrum der Studie, sie bilden zusammen mit zeitgenössischen Presseartikeln die Quellengrundlage. Das Buch beginnt und endet jeweils mit einer aus Quellen überzeugend weitergedichteten Szene, die das Kopfkino der Leserin oder des Lesers in Gang setzt: Ja, so könnte es zugegangen sein, als im Sommer 1945 in Berlin eine kleine Gruppe aus alliierten Kulturoffizieren (überwiegend Emigranten aus Nazi-Deutschland) und deutschen Filmkritikern über die Zulassung des Käutner-Films „Große Freiheit Nr. 7“ mit Hans Albers in der Titelrolle befinden sollte, dessen Aufführung Goebbels 1944 untersagt hatte. Nicht weniger anschaulich die Schlussszene, in der Ina Merkel ausmalt, wie deutsche Intellektuelle wiederum in Berlin am Ende des gleichen Jahres bei ihrer Diskussion über die Zukunft des deutschen Films schnell in die alte Debatte über Kunst versus Propaganda, Politik versus Unterhaltung hineingerieten. Die beiden Vignetten markieren den „Zeitschnitt“ (Karl Braun), den Merkel vornimmt, um die „kulturelle Konstellation“ (Rolf Lindner) dieser kurzen Schwellenphase auf geistreiche Weise neu auszuleuchten.

Nach der neugierig machenden Einleitung ist der erste Teil des Buches zum historischen Kontext für meinen Geschmack zu ausführlich geraten (S. 30–168). Aber das mögen Leser/innen, die mit der Zeit, den Quellen und der Fachliteratur weniger vertraut sind, anders sehen, und an sie richtet sich dieses Buch schließlich auch. Die Schilderung von Lagerbefreiungen, Plünderungen und Vergewaltigungen bei Kriegsende, von Schwarzmarktaktivitäten, der Situation sogenannter Displaced Persons, den britisch-amerikanischen Begründungen strikter Fraternisierungsverbote sowie der weitverbreiteten Abneigung alliierter Soldaten, sich bevormunden und von sexuellen Beziehungen zu deutschen Frauen abhalten zu lassen, ist plastisch geraten und liest sich ausgesprochen gut. Die Darlegung der verschiedenen besatzungs-, insbesondere kulturpolitischen Konzepte fasst im Fall der westalliierten Siegermächte allerdings lediglich den Forschungsstand zusammen, so gut oder schwach der nun eben einmal ist. Die Differenzen scheinen mir zudem überbetont. Einen neuen Blick bieten hier allein Merkels kenntnisreiche Ausführungen zu den sowjetischen Besatzern, die sich unerwartet locker gaben, unbändige Lebensfreude ob des Sieges an den Tag legten und neben Gewaltexzessen und hartem Durchgreifen gegen „Hitleristen“ zur gleichen Zeit Sport- und Tanzveranstaltungen in ihrer Zone organisierten, Varietés und Kinos umgehend wiedereröffneten und ihr Vergnügen ganz offenkundig mit den Deutschen teilen wollten. Dass ausgerechnet die Russen eine Art hochkultureller Bildungsoffensive starteten, hätte das Überlegenheitsgefühl vieler Deutscher eigentlich erschüttern müssen.

Der Hauptteil des Buches über die 1945 in Deutschland gezeigten alliierten Filme (S. 169–341) beginnt mit einer Erörterung der Wirkung von Dokumentarfilmen über befreite Konzentrationslager. Ina Merkel schließt sich eher den Skeptikern unter den zeitgenössischen Beobachtern an. Sie hinterfragt weniger die womöglich unrealistischen Hoffnungen auf einen durchschlagenden Erfolg der schockierenden Aufnahmen, sondern sucht die Schwäche in den Filmen selbst: Sie hätten das Geschehen nicht erklären können (S. 189f.). Merkels Einschätzung, dass die sowjetischen den westalliierten Filmdokumentationen insoweit überlegen waren, als sie sowohl Täter als auch Opfer konkreter – auch beim Namen – benannten, deckt sich mit aktuell zu beobachtenden Rezeptionen.2 Ganz offenkundig der Reeducation und politischen Umorientierung der Deutschen dienten außerdem alliierte Dokumentar- und Propagandafilme über den Krieg. Sie waren eigentlich für ein heimisches Publikum produziert worden. Nun sollten sie Deutschen gegenüber bekräftigen, dass es an ihrer militärischen Niederlage nichts zu deuteln gab und der deutsche Angriffskrieg ein wahnwitziges Abenteuer gewesen war. Gleichzeitig inszenierten diese Filme im Gegensatz zu deutschen den Kampfeinsatz als eine ungeliebte, da aufgezwungene Aufgabe, die die alliierten Soldaten mit umso überlegenerer Kampfmoral erfüllten.

Doch alle Besatzungsmächte stellten schon bald Dokumentarfilme zurück, um den Zuschauerrückgang aufzuhalten, und setzten primär auf Unterhaltung – Propaganda auf Samtpfötchen sozusagen. Ina Merkel hat über 60 dieser Spielfilme gesichtet und erklärt nun, welche von ihnen länger und mit großem Publikumszuspruch in Deutschland liefen, welche nur kurz und welche mit Bedacht gar nicht gezeigt wurden und warum dem wohl so war. Sie konzentriert sich auf drei „zentrale Diskursfelder des Nachkriegskinos“ (S. 256): 1. fiktionale Filme über den vergangenen Krieg, die die anthropologische Seite privaten Kriegserlebens betonten und deutschen Zuschauer/innen dennoch Empathie für den Kriegsgegner abverlangten, 2. Filme über Träume, Glücksvorstellungen und Erfolgsgeschichten gerade der „kleinen Leute“ im eigenen Land, die Anknüpfungspunkte an die Sehnsüchte eines internationalen Publikums boten, und 3. Slapstick-Komödien, die dokumentierten, dass Russen und Amerikaner, Franzosen und Briten durchaus gelegentlich über sich selbst lachen konnten. Knapp 20 dieser Filme führt Merkel ihren Leser/innen vor Augen, indem sie deren Handlung skizziert, die narrativen Pointen herausarbeitet und mögliche Rezeptionen deutscher Zuschauer/innen durchspielt. Das ist äußerst vergnüglich zu lesen, weniger weil man diese Filme nun unbedingt selbst sehen wollte, sondern weil die Filmanalysen so scharfsinnig sind. Wie Ina Merkel zum Beispiel das befreiende Moment der anarchischen Komik von Charlie Chaplins „Goldrausch“ erklärt, das ist schon ein kleines Glanzstück. Der Film wurde 1945 mit vielen Jahren Verspätung auch noch in Deutschland zu einem Publikumsrenner. Erich Kästner freute sich damals, dass die Nazis jungen Deutschen den Geschmack an Chaplin nicht hatten verderben können. Ina Merkel fragt weiter, wer im Kino seinerzeit wohl bemerkte, dass der kleine Tramp allem Unglück zum Trotz an einer Moral festhält, die so vielen in Deutschland in den vergangenen Jahren abhandengekommen war.

Die Studie endet mit einem kurzen Kapitel über die deutschen Filmkritiker, ihr Selbstverständnis als Vermittler und ihre Einschätzungen des restlichen Kinopublikums, an dem ich lediglich zu bemängeln habe, dass es so kurz geraten ist und erst so spät kommt.

Anmerkungen:
1 Ina Merkel übernimmt diese Formulierung aus einem Tagebucheintrag von Erich Kästner vom 28.05.1945.
2 Bei den öffentlichen Filmvorführungen anlässlich der Konferenz „Liberation Footage – Atrocity Pictures“ im Mai 2015 in Wien etwa befanden etliche Zuschauer die Narrationen der sowjetischen Filme als adäquater, auch wegen der ausdrücklicheren Artikulation von Gefühlen.