U. Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde

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Titel
Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung


Autor(en)
Raulff, Ulrich
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Werner Hahn, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Betrachtet man den aktuellen Pferdebestand der Bundesrepublik Deutschland, die wirtschaftliche Bedeutung eines 300.000 Menschen beschäftigenden Marktes von Pferden, Reiterhöfen und Reiterzubehör oder das allgemeine Interesse am Pferdesport, das sich in den Besucherzahlen von Reitturnieren, den Hengstparaden subventionierter Landgestüte vieler Bundesländer oder auch in den Auflagen entsprechender Fachzeitschriften niederschlägt, mag es auf den ersten Blick schwer fallen, vom letzten Jahrhundert der Pferde und der Geschichte einer Trennung zu sprechen. Die Lektüre des Buches zeigt freilich sehr schnell, dass Titel und Untertitel aus guten Gründen gewählt wurden. Auch wenn das Pferd in unserer Gegenwart auf vielfältige Weise noch in Erscheinung tritt, so hat – wie Raulff zu Recht hervorhebt – „dieses sportliche und zärtliche Nachleben des Pferdezeitalters seinen historischen Ernst verloren“ (S. 27). Die heutige Verbindung zwischen Mensch und Pferd trägt den Charakter einer Liebesbeziehung oder Sportkameradschaft und unterscheidet sich damit fundamental von jenem älteren Bund, der sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in mehreren Etappen aufzulösen begann und im 20. Jahrhundert endgültig zerbrach.

Wie sich dieser Bruch im Verhältnis von Mensch und Pferd vollzog und warum er als einer der großen Einschnitte der Menschheitsgeschichte angesehen werden muss, wird von Raulff in überzeugender und höchst beeindruckender Weise dargestellt. Im Mittelpunkt der Analysen steht das so genannte lange 19. Jahrhundert, in dem einerseits der Einsatz des Pferdes nochmals deutlich wuchs, andererseits aber jene neuen wirtschaftlichen Grundlagen geschaffen wurden, die im 20. Jahrhundert immer schneller zum Bedeutungsverlust des Pferdes für die Geschichte der Menschheit führen sollten. Raulff beschränkt sich in seinen Analysen aber nicht auf diese spannungsreiche Übergangsspanne in der Geschichte der Mensch-Pferd-Beziehung, sondern greift immer wieder auf die früheren Phasen bis hin zum Beginn jenes "kentaurischen Pakt[es]" (S. 24) zurück, der das sechs Jahrtausende währende „Pferdezeitalter“ einläutete.

Angeregt wurde das Buch durch Überlegungen Reinhart Kosellecks, der 2003 die vergangene Zeit in ein Vorpferde-, Pferde- und Nachpferdezeitalter unterteilt und auf die große Bedeutung verwiesen hatte, die dem Pferd als herausragendem Agent der Modernisierung zukam.1 Die wichtigste Leistung, die das Fluchttier Pferd in die Geschichte einbrachte, war die Geschwindigkeit, die territoriale Eroberungen und die Aufrechterhaltung ausgedehnter Herrschaftsräume ermöglichte. Hinzu kam die vor allem im 19. Jahrhundert zunächst noch einmal wachsende wirtschaftliche Bedeutung als Zugtier. Obwohl sich die Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit intensiver den Mensch-Tier-Beziehungen widmet und obwohl schon Historiker früherer Zeiten auf den Anteil des Pferdes an der Geschichte der Menschen verwiesen haben, hat Raulff mit seinem Buch zweifellos eine Pionierstudie vorgelegt. Nie zuvor ist das Mensch-Pferd-Verhältnis so ausführlich und anschaulich in all seinen Dimensionen beschrieben worden. Dabei geht es dem Verfasser nicht nur um die herrschaftspolitischen, militärischen und wirtschaftlichen Aspekte der Mensch-Pferd-Beziehung, sondern auch um deren Niederschlag in Mythen, Kunst, Literatur und Wissenschaft.

Die erste von drei großen Untersuchungsebenen behandelt die Realgeschichte, vor allem den Energieträger Pferd, der unscheinbar potentielle Energie aus harten Gräsern in die „spektakuläre Energie eines schnellen, ausdauernden Läufers“ (S. 340) umwandeln konnte und noch weit ins 19. Jahrhundert hinein der wichtigste Faktor beim Transport von Menschen und Waren blieb. Raulff gibt sehr anschauliche Einblicke in die Verkehrssysteme der rasch expandierenden Metropolen wie London, Paris oder New York, wo der Einsatz von Pferden seit 1800 seinen Höhepunkt erreichte, ehe er seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Elektromobilität rasch verdrängt wurde. Noch um 1900 zählte man in London 300.000 Pferde. Raulff zeigt, wie die Nachfrage nach Pferdekraft auch in der Landwirtschaft gerade wegen der technischen Modernisierung zunächst noch einmal mächtig anstieg. Er beschreibt, welche Rolle das Pferd bei der Eroberung Amerikas spielte, wie Indianer sich der Pferde bemächtigten, welche Reit- und Kampftechniken sie ausbildeten und welche Bedeutung den Pferden in den letzten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der nordamerikanischen Indianern und den vordrängenden Siedlern zufiel. Und er zeichnet den allmählichen Bedeutungsverlust nach, den das Pferd in militärischer Hinsicht vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte. Neue Waffentechniken minderten die Schlagkraft der Kavallerie, die lange als wichtige Offensivwaffe gedient hatte, gegen Maschinengewehrsalven, Stacheldraht und schließlich die Panzer aber nichts mehr ausrichten konnte. Als Zugtier blieb das Pferd jedoch auch in den Kriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ein wichtiger Faktor. Am Ende des Pferdezeitalters hatte das Pferd daher nochmals einen Blutzoll zu tragen, der höher war als in früheren Zeiten und den der Soldaten prozentual noch übertraf.

Noch stärker als der erste zeichnet sich der zweite, das Wissen um das Pferd thematisierende Großabschnitt dadurch aus, dass Raulff seine schon in früheren Büchern unter Beweis gestellten großen Kenntnisse der Kunst-, Literatur- und Kulturgeschichte in seine Darstellungen einfließen lässt. Meisterhaft werden hier am Beispiel von George Stubbs und Philippe Etienne Lafosse die Verbindungen zwischen den wachsenden Kenntnissen über die Anatomie des Pferdes und Entwicklungen in der Malerei nachgezeichnet, werden die Langzeitwirkungen des Parthenonfrieses auf die künstlerische Darstellung von Pferdebewegungen erörtert und die Zusammenhänge zwischen dem wachsenden gesellschaftlichen Interesse an Pferderennen und einer zunehmend verwissenschaftlichen englischen Vollblutzucht herausgestellt, deren Stammbäume sich auch in Darwins Selektionstheorien niederschlugen. Wertvoll sind ferner die Ausführungen zur Entstehung einer Pferdewissenschaft, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zunächst einmal von den Praktikern vorangetrieben wurde, die Diskussionen über die Intelligenz der Pferde oder die Kontroversen über Entwicklung und Folgen des Steigbügels.

Welch emotionales Potential mit dem Pferd verbunden war, welch hohen Symbolwert es für Herrschaftsansprüche oder soziale Distinktionsbestrebungen besaß und wie es sich in Mythen, Märchen und philosophischen Sinnbildern niederschlug, zeigt Raulff im dritten Großabschnitt auf überzeugende Weise. Dass der symbolische Nutzwert des Pferdes, das Raulff als „lebendige Metapher“ (S. 247) bezeichnet (Abschnitt C), seinen praktischen Zwecken im Grunde nicht nachstand, wird durch die Ausführungen zu Reiterdenkmälern und Gemälden mit Herrschern zu Pferde vor allem an den Beispielen Napoleons und George Washingtons ausführlich belegt. Aber auch in den Passagen über das Pferd als Objekt und Subjekt des Schreckens, wie es schon in den vier apokalyptischen Reitern der Johannes-Offenbarung zum Ausdruck kommt, oder in den Überlegungen zur Rolle des Pferdes in den Diskursen über menschliche Sexualität wird an vielen Beispielen aus der Literatur-, Film- und Kunstgeschichte anschaulich herausgearbeitet, welch enorme Bedeutung dem Pferd als Träger und Überträger menschlicher Emotionen und Leidenschaften zufiel. Neue Erkenntnisse vermitteln ferner die Abschnitte über die Entstehung des Tierschutzgedankens, der durch „das grausame Dreieck der Pferdequälerei“ (S. 338) – den rohen Kutscher, die gefühllosen Passanten und die stumm leidende Kreatur – wichtige Impulse erhielt.

Seinen am Ende knapp zusammengefassten Analysen fügt Raulff schließlich einige kleinere Geschichten bei, die nochmals seine eigene enge Beziehung zum Pferd aufscheinen lassen, die aber vor allem unterstreichen, welch wichtiges und bislang unterbelichtetes Feld der Geschichtsschreibung vom Verfasser betreten worden ist. Das spannend und anschaulich geschriebene, interdisziplinär ausgerichtete und auf höchstem Niveau argumentierende Buch ist daher nicht nur einem Pferdeliebhaber zu empfehlen, denn es eröffnet über den wichtigsten tierischen Akteur in der Geschichte der Menschheit Einblicke in viele Bereiche der Politik, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Kunst, der Literatur und des Films, die ohne den hier im Zentrum stehenden Forschungsgegenstand nicht in dieser Klarheit möglich gewesen wären.

Anmerkung:
1 Reinhart Koselleck, Das Ende des Pferdezeitalters, in: Süddeutsche Zeitung, 25.9.2003, S. 18.

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