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Titel
Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945–1989


Autor(en)
Geipel, Ines; Walther, Joachim
Erschienen
Düsseldorf 2015: Lilienfeld Verlag
Anzahl Seiten
430 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Stopka, Deutsches Literaturinstitut Leipzig, Universität Leipzig

Das „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“, das die Grundlage für die vorliegende Monographie bildet, ist von den Autoren Ines Geipel und Joachim Walther in den Jahren 2001 bis 2004 zusammengetragen worden. Geipel und Walther wollen mit diesem „Archiv“ jene Literatur der DDR vorstellen, die nicht veröffentlicht werden konnte, da die Urheber der jeweiligen Texte mindestens als politisch unzuverlässig galten oder gar als staatfeindlich eingestuft und entsprechend kriminalisiert wurden. Es handelt sich also um Literatur, die in dem Land, in dem sie entstanden ist, weder über „Resonanzräume“ noch „Rezeptionsräume“ (S. 27) verfügte. Entsprechend bezeichnen Geipel und Walther die Verfasser dieser Literatur als die Autorengruppe der „unterdrückten Stimmen“. (S. 26)

Dank umfassender Recherchen sind bisher rund 100 Autoren mit ihren Texten in dem Archiv vertreten, die in dem Zeitraum von 1945 bis 1989 der Zensur zum Opfer fielen. Sie wurden von der Staatssicherheit unter Beobachtung gestellt und nicht selten zu Haftstrafen verurteilt. Daher galt es, neben ihren Vor- und Nachlässen vor allem auch die Akten der Staatssicherheit auszuwerten, die über sie existieren. Auf dieses Material verweist der titelgebende Begriff „Gesperrte Ablage“. Er bedeutet, dass zur Einsicht in solchermaßen gestempelte Stasi-Akten eine besondere Genehmigung der ablegenden Diensteinheit erforderlich war.1

Die Bandbreite der aus der offiziellen DDR-Kultur ausgeschlossenen Literatur ist groß. Das zeigt die von Geipel und Walther zwischen 2005 bis 2009 herausgegebene Edition „Die Verschwiegene Bibliothek“. In dieser sind bis dahin unveröffentlichte Erzählungen, Gedichte, Essays, Liedtexte und Tagebücher unter anderem von Edeltraut Eckert, Heidemarie Härtl, Salli Sallmann und Günter Ullmann erschienen. Im Jahr 2011 kündigte Joachim Walther an, dieser Edition noch einen „Analyseband“ hinzufügen, um die veröffentlichten Texte einzuordnen und das Gesamtarchiv bekannter zu machen.2 Mit „Gesperrte Ablage“ liegt das versprochene Buch nun vor.

Der erste Teil umfasst den Zeitraum von 1945 bis 1968. In diesem stellt Ines Geipel die DDR-Geschichte unterdrückter Literatur dar, indem sie eine Auswahl von Autorenschicksalen präsentiert, die für verschiedene politische Phasen stehen: (1) für die unmittelbare Nachkriegszeit, in der alle Macht bei der Sowjetischen Militäradministration lag, (2) für die vom „sozialistischen Aufbau“ und massiven Repressionen geprägten 1950er-Jahre, (3) für den Zeitraum zwischen dem Mauerbau und dem Prager Frühling. Den verfemten Autoren und Texten der vom liberalisierten Auf und doktrinärem Ab der Kulturpolitik unter der Ägide Erich Honeckers geprägten 1970er- und 1980er-Jahren widmet sich Joachim Walther in einem zweiten Teil. Ein Anhang bietet Einsicht in das Archiv der unterdrückten literarischen Stimmen. Es umfasst rund 70.000 Manuskriptseiten und ist in den Räumen der Berliner Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur untergebracht.

Insgesamt liefert das Buch einen beeindruckenden Einblick in die von den Mechanismen der Parteidiktatur gelenkten Lebenswege des Scheiterns, der Resignation, der Verzweiflung und der Selbstaufgabe von vor allem jungen Autoren und Autorinnen. Sie wollten mit ihren literarischen Ambitionen nicht nur ihrem Lebensgefühl Ausdruck verleihen, sondern auch politisch Stellung beziehen. Am Beispiel der Dichterin und Publizistin Susanne Kerckhoff weiß Geipel zu berichten, wie künstlerische Wege, die vielversprechend begonnen hatten, abgeschnitten wurden. Die seit 1947 als Feuilletonchefin der Berliner Zeitung arbeitende Kerckhoff hatte mit ihren fiktiven „Berliner Briefen“ ein Aufmerksamkeit erregendes Zeitkolorit und Gesellschaftsporträt des Nachkriegsberlins gezeichnet. Im Jahre 1949 kratzte sie öffentlich am Mythos der unfehlbaren Antifaschisten im Lageralltag des NS-Regimes. Daraufhin verlor sie ihren Posten bei der Berliner Zeitung, erhielt Schreibverbot, wurde politisch und sozial isoliert. Ihr Name wie ihre Literatur verschwanden aus der DDR-Öffentlichkeit. Im März 1950 nahm sie sich im Alter von 32 Jahren das Leben. Andere Schriftsteller wurden aufgrund ihrer eigenwilligen Schreibweisen und ihrer heiklen Themenwahl erst gar nicht bekannt, weil sie grundlegend der Literaturprogrammatik des Ulbricht-Regimes widersprachen.

Eine ganze Reihe politischer Gefangener fand zur literarischen Tätigkeit. Gerade für diejenigen unter ihnen, die wegen Mitgliedschaften in vermeintlichen Untergrundbewegungen oder wegen so genannter staatsfeindlicher Hetze zu hohen Haftstrafen verurteilt worden waren, erwies sich das Dichten als Überlebensstrategie. Das bezeugen die nachgelassenen Gedichte der 1950 zu 25 Jahren Haft verurteilten und früh verstorbenen Edeltraut Eckert oder die Haftsonette von Herbert Bräuning, die er während seiner Gefängniszeit Ende der 1950er-Jahre lange nur im Kopf memorieren konnte. Geipel erreicht ihr Ziel, unbeachtete Dichter bekannt zu machen, auf überzeugende Weise – vor allem dann, wenn sie sich auf deren Literatur einlässt und deren spezifische Poetik im Kontext der jeweiligen Lebens- und Zeitzusammenhänge herausarbeitet. Dies gelingt ihr im besonderen Maße bei den Autorinnen Eveline Kuffel und Jutta Petzold, denen sie bereits zuvor eine Publikation gewidmet hat.3 Gelungen sind auch ihre Ausführungen zu Günter Ullmann, einem Weggefährten des Schriftstellers Jürgen Fuchs.4 Ullmanns beklemmende Gedichte zeigen, wie sich die jahrelangen Beobachtungen und Verfolgungen durch die Staatssicherheit auf die Psyche eines Menschen auswirken.

Allerdings bleiben die Darstellungen nicht selten ungenau, wenn es darum geht, die größeren politischen Zusammenhänge und Linien nachzuzeichnen. Mitunter sind sie nicht belegt oder sogar einfach falsch. So konnte beispielsweise Alfred Kurella 1953 nicht als DDR-Kulturfunktionär Entscheidungen treffen, lebte er doch zu dieser Zeit noch in der UdSSR. Und den zum Kanon der DDR-Literatur gehörende Roman „Ankunft im Alltag“ schrieb Brigitte Reimann und nicht Irmtraud Morgner.

Zudem vermisst man stellenweise über das rein Deskriptive hinausgehende Analysen der jeweiligen politischen und juristischen Kontexte. Worin bestanden die rechtlichen Grundlagen für die höchst unterschiedlichen verhängten Strafmaße der DDR-Justiz? Warum konnte man beispielsweise den Autor Jürgen Fuchs verhaften, Günter Ullmann aber nicht? Und auch der raunende Ton, mit dem wiederholt auf die Unerträglichkeit des Lebens und Schreibens in der DDR verwiesen wird, trägt wenig zur Erkenntnis bei. Da ist von „unter Verschluss entstehenden Textfiguren“ die Rede, die in „jeder Richtung an Grenzen (stoßen)“, die „ihre Gedanken und Gefühle verstecken (müssen)“, die „ummauert“ sind und „unter verschobenen Raum- und Zeitkoordinaten (leben)“ (S. 117).

Auch Joachim Walther lässt sich im zweiten Teil des Buches nicht nehmen, bei der Vorstellung ‚seiner‘ verschwiegenen Autoren immer wieder auf das Doktrinäre der DDR-Politik abzuheben. Das klingt in der Tonart bisweilen stärker nach einer Brandrede denn nach der versprochenen Analyse. Gleichwohl gewährt Walther instruktive Einsichten in das sich abseits des offiziellen DDR-Literaturfeldes ereignende literarische Leben in den 1970er- und 1980er-Jahren. Dabei hebt der in der Erforschung des Aktenmaterials der Staatssicherheit im „Sicherungsbereich Literatur“ versierte Wissenschaftler5 die Intensivierung des Einsatzes von subversiven Verfolgungs- und Zersetzungsstrategien hervor. Damit sollten die „groben Formen der Repression“ der vorangegangenen Jahrzehnte abgelöst werden, welche die Außenreputation der DDR immer wieder beschädigt hatten (S. 179). Dieser diskreditierende Umgang führte im Laufe der 1970er-Jahre zwar zu einer Ausgrenzung der künstlerischen Szenen, machte sie allerdings nicht mundtot. Als Folge daraus entstand in 1980er-Jahren ein veritables Paralleluniversum an Literatur- bzw. Kulturszenen mit staatsunabhängigen Produktions- und Distributionswegen. Verfolgte und verhaftete Autoren dieses Zeitraums haben durch die DDR-Literaturforschung der letzten Jahrzehnte inzwischen einen größeren Bekanntheitsgrad erlangt. Einige von ihnen werden hier vorgestellt, unter anderem die Autoren Siegmar Faust, Gert Neumann und Andreas Reimann.

Des Weiteren widmet sich Walther Autoren, die er als „doppelt ausgeschlossen“ bezeichnet, weil sie weder im offiziellen Literaturbetrieb anerkannt noch innerhalb der alternativen Szene vernetzt waren (S. 252). Zu dieser Gruppe zählt etwa die wegen ihres Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung inhaftierte Erfurterin Gabriele Stötzer, die im Gefängnis mit dem Schreiben begann und bis zum Mauerfall ein eindrucksvolles, aber völlig unbekannt gebliebenes experimentelles Sprachkunstwerk geschaffen hat. Gleichfalls zur Gruppe „doppelt ausgeschlossener“ Autoren zählen die Quedlinburger Schriftsteller Rolf Schilling und Uwe Lammle. Sie wiederum stammen aus dem Umfeld des konservativen Dichterkreises „Das Holde Reich“. Dieser berief sich als „eine Gemeinschaft souveräner und solitärer Geister“ auf Vorbilder wie Stefan George, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Das sozialistische Gesellschaftssystem der DDR lehnten seine Mitglieder strikt ab (S. 274f.).

Mit einem Überblick über eine Reihe von Schriftstellern, deren literarische Entwicklung aufgrund von Verurteilungen und Gefängnisstrafen unter- oder gar ganz abgebrochen wurde, schließt Walther seinen Teil. Dieser diente ihm auch dazu, die seines Erachtens unrichtige „These von der liberaler gewordenen Kulturpolitik [der DDR] in den siebziger und achtziger Jahren zu widerlegen“ (S. 304). Obwohl die Fallgeschichten seinen Einwänden durchaus recht geben, bleibt Walthers Blickwinkel einseitig. Nicht zuletzt war es auch die erstarkende alternative Literaturszene, die die lange Geschichte der Wende mit vorbereitet hat. Dass dies möglich wurde, wäre ohne deren Autonomisierungs- und Dezentralisierungsbestrebungen kaum denkbar gewesen. Diese Entwicklungen wiederum sind, wenn sicherlich auch nicht vollständig, auch durch Liberalisierungstendenzen der DDR-Kulturpolitik erst möglich geworden.6

Anmerkungen:
1 Vgl. Roland Lucht (Hrsg.), Das Archiv der Stasi. Begriffe, Göttingen 2015, S. 120.
2 Vgl. Michael Bienert, Das Archiv unterdrückter Literatur. Mundtot, aber nicht für immer, in: Stuttgarter Zeitung vom 24. Januar 2011.
3 Ines Geipel (Hrsg.), Die Welt ist eine Schachtel. Vier Autorinnen in der frühen DDR: Susanne Kerckhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold, Hannelore Becker, Berlin 1999.
4 Vgl. auch Günter Ullmann, Die Wiedergeburt der Sterne nach dem Feuerwerk. Gedichte und Prosa, Frankfurt am Main 2008.
5 Einschlägig ist seine Studie: Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996.
6 Vgl. Peter Böthig, Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren, Berlin 1997; Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterter Neuausgabe, Berlin 2000, S. 396–401.

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