Cover
Titel
Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990


Herausgeber
Schildt, Axel
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 55
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Oberloskamp, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin

Der Sammelband widmet sich einem Thema der bundesdeutschen Intellectual History, dessen Relevanz offensichtlich ist, das aber bislang noch nicht umfassend untersucht wurde: Es geht um die transnationalen Bezüge, von denen die Ideen- und Intellektuellengeschichte Westdeutschlands zwischen 1945 und 1990 geprägt war. Im Zentrum stehen sollen dabei „bedeutsame Beispiele des ‚Ideenimports‘“ (S. 9). In seiner Einführung hebt Axel Schildt vier zentrale Kontexte des Themas hervor: die Kontinuitäten zur Zwischenkriegszeit, die Westorientierung unter den Bedingungen des Kalten Krieges, den Einfluss sozialistischer Ideen und der 1968er-Revolte sowie die „neue Unübersichtlichkeit“ (S. 25) seit Mitte der 1970er-Jahre.

Die überwiegend chronologisch angeordneten Aufsätze behandeln ein thematisch breites Spektrum, wobei sie auf unterschiedlichen methodischen Zugängen zur Intellectual History fußen. Ein Teil stellt einzelne ausländische Intellektuelle in den Mittelpunkt, die in der Bundesrepublik auf besondere Resonanz stießen. So widmet sich Birgit Aschmann dem Kult um Ortega y Gasset in den 1950er-Jahren. Der biographische Ansatz wird dabei auf instruktive Weise mit der Analyse gesamtgesellschaftlicher Strukturen und persönlicher Netzwerke verbunden. Den kurzzeitig beachtlichen Erfolg Ortegas in Westdeutschland erklärt Aschmann unter anderem mit der „Passgenauigkeit seiner Themen für den Bedarf der damaligen Gesellschaft“: Insbesondere mit seinem „Massen-Konzept“ gab Ortega den deutschen Lesern „akzeptierbare Deutungen des Nationalsozialismus an die Hand, welche den Diktator diskreditierten und die Verantwortung an Kollektive delegierten“ (S. 50). Im Zentrum des Beitrags von Alexander Gallus steht der amerikanisch-britische Schriftsteller und Verleger Thomas Stearn Eliot. Als Dichter stand Eliot für „Moderne und Avantgarde“, als politischer Intellektueller jedoch für „Tradition und Konservatismus“ (S. 60). Indem Eliot das „christliche Erbe eines gemeinsamen Wertefundaments“ in Europa beschwor, habe er „Deutschland schon kurz nach Kriegsende zurück nach Europa“ holen wollen (S. 61), womit er in der Bundesrepublik auf breite Resonanz stieß. Klaus Große Kracht untersucht die Faszinationskraft Jean-Paul Sartres für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Der französische Existentialismus habe zum einen die Möglichkeit geboten, „unverfänglich“ an eigene Denker wie Husserl und Heidegger anzuknüpfen. Zum anderen habe sich Sartres Attraktivität aus seiner Intellektuellenrolle ergeben, die radikal mit deutschen Traditionen gebrochen habe. Schließlich sei Sartres Drama „Les mouches“ („Die Fliegen“, 1943) nach dem Zweiten Weltkrieg als Aufforderung interpretiert worden, Reue- und Schuldgefühle zu überwinden und stattdessen aktiv Verantwortung für eine bessere Zukunft zu übernehmen.

Einen anderen personenzentrierten Zugang bieten die Texte von Christian Hufen und Detlef Siegfried, deren Protagonisten als (R)Emigranten dauerhaft in Deutschland lebten und arbeiteten. Hufen befasst sich mit dem bereits 1922 nach Deutschland ausgewanderten Russen Fedor Stepun und seinem Wirken als Publizist, Redner und Hochschullehrer im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum stehen dabei allerdings eher Stepuns Nachkriegsbiographie und seine Bedeutung als russischer Exilant, weniger konkrete Einflüsse auf das intellektuelle Leben in der jungen Bundesrepublik. Detlef Siegfried behandelt den gescheiterten Versuch des während des Nationalsozialismus nach London emigrierten Ernest Borneman, 1960/61 „ein zweites deutsches Fernsehen nach britischem Muster aufzubauen“ (S. 128). Die Untersuchung veranschaulicht detailliert kulturelle und politische Konflikte zwischen dem sozialistisch orientierten Borneman und Eliten der jungen Bundesrepublik. Die Widerstände richteten sich gegen Bornemans jüdische Abstammung, gegen seine Vergangenheit als Exilant sowie gegen seine innovativen Vorstellungen von Fernseh-Kultur. Politisch galt er regierungsnahen Kreisen als zu links, während das linksliberale Spektrum argwöhnte, er stehe im Dienst von Bundesregierung und Großunternehmen. Warum angesichts dieser voraussehbaren Konstellation ausgerechnet Borneman für den Posten als Programm- und Produktionsleiter eines „Freien Fernsehens“ ausgewählt worden war, bleibt etwas vage.

Der eher ideengeschichtlich angelegte Aufsatz von Michael Hochgeschwender über den „Verlust des konservativen Denkens“ 1950–1980 ist nicht nur mit seiner Länge (rund 40 Seiten), sondern auch durch die zeitliche und räumliche Kontextualisierung sowie seinen Erklärungsanspruch weiter gefasst als die anderen Beiträge. Hochgeschwender fragt nach den Gründen für die „intellektuelle […] Ausdünnung des konservativen Denkens“ (S. 152) in der Bundesrepublik und greift für seine Erklärung auf den westernisierungstheoretischen Ansatz zurück. Den Konservatismus begreift er als komplexes „transnational-westliche[s] Phänomen“ (S. 153), das nicht einfach mit antiliberalen Tendenzen gleichzusetzen sei. Der Autor skizziert zunächst idealtypisch acht historisch gewachsene interne Fraktionsbildungen des Konservatismus in Deutschland und den USA seit dem frühen 19. Jahrhundert, deren Entwicklung nach 1945 dann im Detail analysiert wird. Dabei werden nicht nur US-amerikanische, sondern auch britische und französische Einflüsse auf den bundesdeutschen Konservatismus hervorgehoben. Insgesamt urteilt Hochgeschwender, dass dieser vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren einen „erheblichen Westernisierungsschub“ (S. 190) erfahren habe, der zur Etablierung des Liberalkonservatismus als hegemonialem Segment der Denkströmung geführt habe.

Bei chronologischer Betrachtung der in dem Band versammelten Beispiele fällt auf, dass besonders jene Aufsätze einzelne intellektuelle Figuren in den Mittelpunkt stellen, die sich mit der Frühphase der bundesdeutschen Geschichte befassen, während im Hinblick auf spätere Jahrzehnte vorrangig politische Strömungen, soziale Bewegungen und gesellschaftliche Gruppierungen thematisiert werden. Dies spiegelt den Befund, dass sich der Einfluss der Sozialfigur des Intellektuellen spätestens seit den 1970er-Jahren gewandelt hat. Eine Ausnahme bildet lediglich der Beitrag von Thomas Mergel über die „Rezeption der US-Sozialforschung“ in der Frühphase der Bundesrepublik. Mergel untersucht Personen und Institutionen des Methoden- und Theorietransfers, die nach 1945 zur „Amerikanisierung“ der bundesdeutschen Sozialwissenschaft beigetragen haben. Den Erfolg der empirischen Sozialwissenschaft führt er unter anderem auf ein „Zeitbedürfnis“ nach einer „exakten […] Beschreibung [der] Gesellschaft“ (S. 127) zurück, das im Kontext antielitärer und demokratischer Tendenzen sowie aufkommender Vorstellungen von politischer Steuerung und Planung zu sehen sei.

Sämtliche Aufsätze des Sammelbandes, welche die Folgen der 1968er-Revolte thematisieren, befassen sich mit breiteren sozialen Phänomenen. So untersucht Andreas Eckert „Internationale Solidarität und ‚Dritte Welt‘ in der Bundesrepublik“. Dabei fragt er nach den unterschiedlichen Motiven für das Interesse an der „Dritten Welt“, nach der „Rezeption von Befreiungsbewegungen und -theorien“ sowie den generellen Kenntnissen über die „Dritte Welt“. Insgesamt kommt er zu einem ernüchternden, allerdings keineswegs überraschenden Ergebnis: Die Solidarität sei „allzu häufig“ von „Projektionen“ getragen gewesen, „welche die wirklichen Zielsetzungen der Befreiungsbewegungen weitgehend ignorierten“. Letztlich sei es vielen Aktivisten primär darum gegangen, „die scheinbar sehr viel begrenzteren Chancen zur Einlösung ihrer Visionen von einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft im eigenen Land zu kompensieren“ (S. 209). Der Aufsatz von Ute Gerhard befasst sich mit „Diskurse[n] und Einflüsse[n] europäischer und US-amerikanischer Feministinnen“ auf die „‚neue Welle‘ der Frauenbewegung in der BRD“. Gerhards Überblick zu den für den „neuen“ Feminismus zentralen Figuren und Texten macht dabei eindringlich klar, dass es sich um eine in hohem Maße transnationale Bewegung handelte. Interessant ist dabei auch der Blick auf die Rolle der „DDR-Frauenliteratur“ (S. 268). Etwas knapp bleibt allerdings die Analyse bundesdeutscher Spezifika sowie der Rezeption der referierten Werke in Westdeutschland. Pascal Eitler untersucht in seinem Aufsatz „Orientalisierungsprozesse“, von denen zunächst vor allem das „Alternativmilieu“ geprägt war, die dann aber zunehmend in die „Mehrheitsgesellschaft“ diffundierten. Gemeint sind damit Einflüsse „aus Asien, mitunter aber auch aus Afrika oder dem Pazifik“ (S. 289) sowie gleichzeitig auch vielschichtige Projektionsprozesse auf eine exotische Fremde, wobei insbesondere die Alltagsgeschichte im Zentrum steht. Für die exemplarisch untersuchten Felder der Religiosität („New Age“), der Gesundheit („exotische“ Heilpraktiken), der Sexualität (sexuelle Projektionen auf den „Orient“) und der Gewalt (Sadismus und Masochismus, Martial Arts) diagnostiziert Eitler eine Psychologisierung und „Somatisierung der Selbstführung“. (Inwieweit das Wort „Somatisierung“ glücklich gewählt ist, sei dahingestellt: Abweichend vom medizinisch-psychologischen Begriffsgebrauch meint Eitler offenbar schlicht eine verstärkte Beachtung des Körpers.) Insgesamt hätten derartige Orientalisierungsprozesse – auch als Gegenentwurf zu „westlichen“ Idealen – nicht auf „den ständig zu mehrenden ‚Marktwert‘ eines Menschen“ gezielt, sondern auf „Selbstverwirklichung“ im Sinne eines ganzheitlichen Gleichgewichts von Körper und Psyche (S. 303).

Petra Terhoeven analysiert die transnationalen Verbindungen in der Geschichte des bundesdeutschen und italienischen Linksterrorismus. Sie schildert detailliert, wie einzelne Personen Ideen zwischen dem westdeutschen und italienischen „Untergrund“ vermittelten, aber auch, wie Italien teilweise für westdeutsche Terroristen zur Projektionsfläche von Revolutionsstrategien wurde. Wesentlich war dabei, dass es in Italien aus verschiedenen Gründen „bedeutend mehr Anknüpfungspunkte für ‚revolutionäre Intellektuelle‘ [gab] als in der Bundesrepublik“ (S. 231). Der Aufsatz von Thomas Kroll befasst sich mit der Rezeption des Eurokommunismus durch bundesdeutsche Linksintellektuelle in den Jahren 1975–1980. Der Eurokommunismus fand in der Bundesrepublik keine unmittelbaren Entsprechungen, löste hier aber gleichwohl lebhafte Debatten aus. Insbesondere trug seine Rezeption laut Kroll dazu bei, „die ideologischen Denkmuster des Kalten Krieges“ zu hinterfragen und „eine kritische Auseinandersetzung mit dem Demokratieverständnis sowohl des ‚realen Sozialismus‘ als auch der marxistischen Linken der Bundesrepublik selbst“ anzustoßen (S. 254). Der Aufsatz von Hans-Jürgen Bömelburg schließlich befasst sich mit der Rezeption ostmitteleuropäischer Dissidenten in der alten Bundesrepublik. Bömelburg zufolge gab es hier bis in die 1970er-Jahre erhebliche Barrieren, die eine „produktive Aufnahme ostmitteleuropäischer intellektueller Einflüsse ‚über Grenzen hinweg‘“ blockierten (S. 287). Erst in den 1980er-Jahren habe der oftmals erhobene Vorwurf des Antikommunismus an Überzeugungskraft verloren, und es sei zu einer allmählichen Öffnung gekommen.

Mit Blick auf die Gesamtkonzeption des Sammelbandes bleibt zum einen anzumerken, dass ein zentrales Feld der bundesdeutschen Intellectual History etwas unterbelichtet erscheint, nämlich die eigentliche 1968er-Bewegung. Angesichts der guten Forschungslage ist dies nachvollziehbar; vielleicht hätte aber die Einführung expliziter auf die Bedeutung des Themas und die vorliegende Literatur eingehen können. (Erst bei Andreas Eckert, S. 193f., findet sich hierzu ein knapper Überblick.) Zum anderen fällt auf, dass es – anders als in Axel Schildts einführendem Beitrag angekündigt – durchaus nicht nur um „Ideenimporte“ geht, sondern immer wieder auch um die Funktion des Auslandes als Projektionsfläche. Es wäre interessant gewesen, diese ganz anders gelagerten transnationalen Bezüge der Intellectual History in theoretischer Hinsicht systematischer zu reflektieren. Insgesamt jedoch bietet der Sammelband eine überaus gewinnbringende Lektüre und wird sicher weitere Vertiefungen des Themas anregen.