KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Gedenkstätten und Geschichtspolitik

Titel
Gedenkstätten und Geschichtspolitik.


Herausgeber
KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Reihe
Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 16
Erschienen
Bremen 2015: Edition Temmen
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eckart Schörle, Schwerin

70 Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft befasst sich der 16. Band der „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ mit einem Rückblick auf die geschichtspolitischen Debatten der letzten Jahrzehnte und nimmt eine aktuelle Positionsbestimmung der Gedenkstätten vor. Einerseits seien die Gedenkstätten mittlerweile im Zentrum der Geschichtskultur angekommen, anderseits werde Kritik und Unbehagen an einer rituell erstarrten und formelhaften Erinnerungskultur geäußert, so Insa Eschebach und Oliver von Wrochem im einleitenden Editorial. Komplex werde das Feld durch die sich überlagernden geschichts- und identitätspolitischen Interessen von Staat und Politik, Überlebenden und ihren Verbänden sowie zivilgesellschaftlichen Initiativen, aber auch durch die unterschiedlichen Bedeutungen der Gedenkstätten für die Region, den Tourismus und die historisch-politische Bildung.

Während die Aufarbeitung des Nationalsozialismus heute bei öffentlichen Veranstaltungen gerne als Erfolgsgeschichte präsentiert wird, rufen die Autorinnen und Autoren dieses Bandes an vielen Stellen die Schwierigkeiten und Konflikte dieses keineswegs geradlinigen Prozesses in Erinnerung. Insbesondere in der Anfangsphase, so Thomas Lutz, sei das Engagement der Alliierten und der Überlebenden ausschlaggebend für die Anerkennung NS-Verfolgter gewesen. Auch bei der Entschädigungsfrage waren internationale Forderungen maßgeblich, bis zur späten Einrichtung des Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Die Erzählung vom geläuterten Deutschland, bemerkt Cornelia Siebeck, habe sich in den Jahren nach 1990 durchgesetzt. Das Versprechen einer „Erlösung durch Erinnerung“ sei jedoch schon in der viel zitierten Rede Richard Weizsäckers von 1985 angelegt gewesen, deren Wortlaut sie daher eingehender analysiert. Mit dem Bekenntnis zur negativen Vergangenheit sei es gelungen, eine positive nationale Selbstvergewisserung zu etablieren.

Die Phase nach 1990 mit den Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages und der Etablierung der Bundesgedenkstättenförderung war geprägt von teils heftig geführten Auseinandersetzungen über das Verhältnis von NS- und SBZ/DDR-Geschichtsaufarbeitung. Die herbeigeführten Kompromisse relativierten die Singularität der NS-Aufarbeitung, so Carola S. Rudnick, seien jedoch notwendige Bedingung für die Einbeziehung der dezentralen westdeutschen Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus und die Etablierung einer gesamtdeutschen Gedenkstättenpolitik gewesen. Eine besondere Zuspitzung erfuhren die Debatten bei den Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“. Die sogenannte Faulenbach-Formel1 zielt nach Ansicht von Caroline Pearce zwar auf eine „Gleichgewichtung der NS- und DDR-Vergangenheit ohne Hierarchisierung“ (S. 64), sei aber in der Praxis kaum durchsetzbar. Ihr Beitrag überzeugt vor allem dadurch, dass sie die Schwierigkeiten an zwei konkreten Beispielen nachvollzieht und analysiert (Torgau und Sachsenhausen).

Wo stehen die Gedenkstätten also heute? Auch Detlef Garbe schildert eine Erfolgsgeschichte, denn die Gedenkstätten seien in den letzten Jahrzehnten „von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur gerückt“ (S. 78). Zu beobachten sei jetzt allerdings ein verbreiteter „Aufarbeitungsstolz“, der die lange Phase der Verdrängung („zweite Schuld“) vergesse und zugleich keine Notwendigkeit mehr für eine Weiterentwicklung der Gedenkstätten sehe. Nach Garbe bleibt das Verstörende in den Ausstellungen zunehmend auf der Strecke und er warnt: „Verlieren Gedenkstätten das Unbequeme und ihre Anstößigkeit, sind sie als Lernorte nicht zukunftsfähig.“ (S. 80) Auch Cornelia Siebeck plädiert für Gedenkstätten als Orte gesellschaftskritischer Selbstreflexion. Diese sollten sich der Erlösungshoffnung verweigern und die Erzählung des radikalen Verlustes in den Mittelpunkt stellen. Wie konflikthaft die Sichtbarmachung bestimmter Verfolgtengruppen und die Bezugnahme auf gegenwärtige Diskriminierungen in den Gedenkstätten auch heute noch verlaufen können, schildert Corinna Tomberger am Beispiel des Gedenkens an verfolgte Homosexuelle, das den weiblichen Part meist unterschlage.

Aufschlussreich ist der Beitrag von Verena Haug, die einen Blick auf die pädagogische Praxis des Gedenkstättenalltags wirft. Ohne Zweifel hat sich in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Gedenkstättenpädagogik viel bewegt.2 Dazu gehört etwa ein reflektierter Umgang mit den Erwartungshaltungen von Besucherinnen und Besuchern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehen eine ihrer Aufgaben darin, so Haug, die häufig medial geprägten Bilder und Vorstellungen zu korrigieren. Weniger wahrgenommen werde jedoch, dass die pädagogische Praxis bestimmte Wirkungserwartungen auch selbst produziere.

Der Band bietet insgesamt einen facettenreichen Rückblick auf die Entwicklung der Gedenkstätten in den letzten Jahrzehnten und lässt dabei die „Generation Aufarbeitung“ ebenso zu Wort kommen wie die Vertreter der jüngeren Generation, die die Auseinandersetzungen der 1980er-Jahre nicht als involvierte Akteure schildern, sondern aus der Distanz rekonstruieren. Fabian Schwanzar, der das Verhältnis von Geschichtsinitiativen und staatlicher Geschichtspolitik in den 1970er- und 1980er-Jahren untersucht, stellt dabei fest, dass die damals erfahrenen Widerstände das Selbstverständnis der Akteurinnen und Akteure bis heute prägen.

Bei der Schilderung der wesentlichen Entwicklungslinien und Wegmarken bleiben Wiederholungen und Überschneidungen nicht aus. Allerdings wird auch bei den bekannten Ereignissen manch interessantes Detail zutage gefördert. Wer weiß noch, dass die Angeordneten der Grünen der heute gefeierten Rede Richard von Weizsäckers fernblieben, um in der KZ-Gedenkstätte Ausschwitz an die Opfer des Holocaust zu erinnern (S. 47)? Aufschlussreich sind die Beiträge vor allem dann, wenn sie sich mit konkreten Vergleichen und Fallbeispielen auseinandersetzen.

Ein neuralgischer Punkt liegt offenkundig nach wie vor in der Bewertung des Verhältnisses von NS- und SBZ/DDR-Aufarbeitung. Erfahren beide Aspekte die angemessene politische Würdigung, Förderung und Anerkennung? Diese Frage ist schwer zu beantworten, denn nach welchen Kriterien würde man die Gewichtung festlegen? Nach der Dauer des Regimes, nach der Zahl der Opfer, nach der zeitlichen Ferne? Und wie sieht es aus mit den mehrfachen Vergangenheiten, wenn Orte von verschiedenen Zeitschichten geprägt sind? Spätestens hier wird klar, dass eine reine Aufrechnung von Fördergeldern zu kurz greift.

Es sind aber durchaus Unterschiede in der Förderstruktur erkennen. Zuzustimmen ist Rudnick (S. 59), wenn es um die Unterstützung lokaler Projekte geht. Während für den Bereich der DDR-Geschichte mit der Stiftung Aufarbeitung ein gutes und flexibles Förderinstrument zur Verfügung steht, fehlt ein Äquivalent für die NS-Geschichte – der Auftrag der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ist deutlich eingeschränkter. Es wäre zu überlegen, ob nicht ein vergleichbares Förderinstrument für die NS-Aufarbeitung etabliert werden kann.

Leider lassen sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nicht auf eine Reflexion darüber ein, dass es neben Trennendem auch viele gemeinsame Fragen und Herausforderungen für die historischen Stätten der NS- und DDR-Geschichte gibt: Wie lässt sich die Vermittlung ohne Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gestalten? Wie können die historischen Orte auf Dauer erhalten werden? In nicht allzu ferner Zukunft, so kann man spekulieren, werden die Gedenkstätten vermutlich gemeinsam um den Erhalt der historischen Orte und deren gesellschaftliche Legitimation kämpfen müssen. Eine vergleichende Betrachtung gegenwärtiger Herausforderungen könnte daher ebenfalls zu fruchtbaren Ergebnissen und einer Weiterentwicklung der Gedenkstättenarbeit beitragen.

Anmerkungen:
1 „Die NS-Verbrechen dürfen durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus nicht relativiert werden. Die stalinistischen Verbrechen dürfen durch den Hinweis auf die NS-Verbrechen nicht bagatellisiert werden.“ Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Schlußbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Bonn 1998, S. 240.
2 Siehe z.B. die jüngst erschienene Überblicksdarstellung: Elke Gryglewski / Verena Haug / Gottfried Kößler u.a. (Hrsg.), Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015.

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