F. Kuschel: Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser

Cover
Titel
Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien


Autor(en)
Kuschel, Franziska
Reihe
Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert 6
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zahlmann, Institut für Geschichte / Theorie und Geschichte von Medienkulturen des 18. bis 20. Jahrhunderts, Universität Wien

In einer Zeit, in der die wissenschaftliche Darstellung der DDR-Geschichte glücklicherweise ohne eine plakative schwarz-weiß-Zeichnung auskommt, liegt mit der hervorragenden Arbeit Franziska Kuschels eine längst überfällige Studie zur Nutzung von Westmedien in der DDR vor. Die chronologisch strukturierte Arbeit, bei der es sich um die Druckfassung ihrer Dissertation handelt, ordnet die Rezeption westlicher Medien in der DDR hierbei zum einen in eine technologisch-wirtschaftliche Entwicklung moderner Massenmedien ein, die die Verfasserin in eine historische Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert stellt; zum anderen in die politisch-kulturellen Zäsuren ostdeutscher Innen- und Außenpolitik. Das Besondere des theoretischen Ansatzes der Verfasserin ist jedoch die Fokussierung auf Zuschauer, Zuhörer und Leser westlicher Medienprodukte. Dieses leistet sie durch eine breite Quellenbasis, die Entscheidungsprozesse von höchster politischer Ebene hinsichtlich des Umgangs mit westlichen Medien in der DDR ebenso in den Blick nimmt wie den Arbeitsalltag von Verantwortlichen auf den mittleren und unteren politischen und juristischen Ebenen. Neben diese Materialien zum Partei- und Staatsapparat treten die seit den 1950er-Jahren vorgenommenen Beobachtungen zum Mediennutzungsverhalten ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger, individuelle Eingaben und Briefe sowie die Ergebnisse der sich im Verlauf der Jahrzehnte zunehmend professionalisierten Hörer- und Zuschauerforschung der DDR und viele weitere Quellen.

Es ist die besondere Qualität von Franziska Kuschels Arbeit, dass sie die mittlerweile klassisch zu nennenden Aspekte, die in der Darstellung der Wirkung von Westmedien in der DDR immer wieder angesprochen werden (westdeutsche Nachrichtensendungen, Bravo-Hefte, RIAS, Spielfilme aus den USA, „Aktion Ochsenkopf“, das „Tal der Ahnungslosen“ etc.), nicht nur durch zahllose Details ergänzt, sondern durch einen sehr differenzierten Medienbegriff auch Ereignisse wie die Präsenz westdeutscher Verlage auf der Leipziger Messe (mit den Phänomenen des Bücherdiebstahls oder dem an die Tätigkeit mittelalterlicher Kopisten erinnernden handschriftlichen Abschreibens verschiedener Texte durch die Messebesucher), die beeindruckenden Beispiele für die Samisdat- und Tamisdatliteratur sowie die verschiedenen Bemühungen um Etablierung von „Piratensendern“ gleich an verschiedenen Stellen ihres Textes anspricht und mal detailliert, mal kursorisch darstellt.

Dass die Funktion von Westmedien in der DDR nicht in wenigen plakativen Sätzen zusammengefasst werden kann, ist angesichts der regionalen und zeitlichen Breite, die mit einem so komplexen Thema verbunden werden kann, nicht verwunderlich. Hier kommt die Verfasserin zu sehr differenzierten und stets sehr gut belegten Ergebnissen. Die mittlerweile verbreitete These etwa, dass der Konsum westdeutscher Medien eine systemstabilisierende Funktion übernommen habe, wird von Kuschel zwar bestätigt, jedoch zugleich mit der Mahnung verbunden, die Bedeutung der Westmedien in der DDR nicht zu überschätzen. Viel wichtiger ist der Verfasserin jedoch die Verdeutlichung, dass der Konsum von Westmedien die Bürgerinnen und Bürger der DDR emanzipierte und selbstbewusster werden ließ. Dass dieses Selbstbewusstsein sich in Aktionen im politischen Raum offenbarte und damit auch der Andrang ausreisewilliger Menschen auf die Grenzübergangsstellen am 9. November 1989 als Konsequenz westlicher Medienereignisse gewertet werden kann, verdeutlicht damit zugleich den eindrucksvollen Höhepunkt der individuellen Funktionalisierung von Westmedien durch Ostdeutsche wie auch das uneingestandene Ende des längst von kritischen Ostdeutschen unterlaufenen Anspruchs der Staats- und Parteiführung auf das Monopol medialer Meinungsführerschaft.

Auch wenn das Buch von Franziska Kuschel für die deutschsprachige Mediengeschichte eine immense Bereicherung darstellt, bleibt auch hier noch eine Leerstelle: Das von ihr methodisch implementierte Konzept eines aktiven Mediennutzers bedeutet natürlich eine sinnvolle Weiterentwicklung traditioneller medienwissenschaftlicher Ansätze. Dieser Mediennutzer produziert individuelle und damit auch potentiell systemkritische Bedeutungen. Er kann aber auch zugleich eigene „Medien“ produzieren, ist doch alles, was Menschen entwickeln, um sich selbst darzustellen oder mit anderen Menschen (oder einer abstrakten Größe wie „dem System“, „der Öffentlichkeit“) in Kontakt zu treten, potentiell auch ein Medium: So etwa das offensive Tragen amerikanischer Jeanshosen zu offiziellen Anlässen, das Rauchen von Zigaretten westlicher Herkunft, sichtbare Aufnäher mit der Aufschrift „Schwerter zu Pflugscharen“. Wie kann vor diesem Hintergrund etwa die Produktion von Hiphop-Videos nach westlichem Vorbild durch jugendliche DDR-Bürger in den 1980er-Jahren bewertet werden? Oder die Collage aus Zeitungsausschnitten und Bildern in Tagebüchern, oder die individuelle Zusammenstellung von Musiktiteln westlicher Produktion auf Kassetten und Tonbändern, die entweder auf eine rein individuelle oder freundschaftlich private Öffentlichkeit zielt? Selbst DDR-Medien reflektieren vergleichbare Prozesse individueller Aneignung und Produktion, wenn sich etwa die Protagonistin des DEFA-Films „Solo Sunny“ (1980) den ihr auf den Leib geschriebenen Solotitel nur in englischer Sprache vorstellen kann, um wenig später ihre künstlerische Biographie als Sängerin einer Art Punk-Band zu verwirklichen.

Die zahlreichen wichtigen Erkenntnisse, die Kuschel durch ihre individuelle Perspektive aus einer extrem umfangreichen Quellenbasis gewinnt, dürfen durch eine solche Kritik jedoch nicht relativiert werden, auch wenn man sich eine stärkere Miteinbeziehung privater und bislang nicht wissenschaftlich systematisierter Quellensammlungen wünschen würde. Zu wichtig ist in diesem Buch das Verlassen der Ebene des Anekdotischen, das allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zu DDR-Medien arbeiten, aus zahllosen Gesprächen mit ostdeutschen Experten wohlvertraut sein dürfte. Endlich sind zahlreiche Einzelstimmen und zunächst disparat erscheinende Phänomene, die in diesem Zusammenhang genannt werden können, einmal systematisch und sehr gut lesbar zusammengeführt worden. Das ist keinesfalls eine zufällige editorische Qualität des Textes, sondern verweist auf den Duktus der Verfasserin, die in einem für Lehre und Forschung vielfältig einsetzbaren Buch sachlich und souverän ein wichtiges Kapitel der deutschen Mediengeschichte präsentiert.