Cover
Titel
Erinnerungslandschaften: Praktiken ortsbezogenen Erinnerns am Beispiel des Kalten Krieges.


Autor(en)
Maus, Gunnar
Reihe
Kieler Geographische Schriften 127
Anzahl Seiten
293 S., 31 SW-Abb., 20 Tabellen
Preis
€ 16,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inge Marszolek, Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI), Universität Bremen

Die Dissertationsschrift von Gunnar Maus, die eine durchaus ungewöhnliche Position innerhalb des weiten Felds der Erinnerungsforschung darstellt, lässt einige typische Stärken und Schwächen einer solchen Qualifikationsarbeit erkennen. Zu den Stärken zählen ein (nicht nur im Rahmen der Geographie) theoretisch innovativer Zugang, der auch für andere Disziplinen im Feld der Forschungen zu Erinnerung und Gedächtnis fruchtbar sein könnte, ein Methodenmix, der ebenso vielversprechend sein dürfte und von der Reflexivität des Autors zeugt, gut erzählte vielfältige Feldforschungen sowie eine überzeugende und überraschende Auswahl von Untersuchungsfeldern. Als Schwächen der Arbeit würde ich eine gewisse Überfrachtung des theoretischen Rahmens nennen: Dieser Teil umfasst allein 99 Seiten, also mehr als ein Drittel des Textes (das Literaturverzeichnis zählt weitere 23 Seiten), was auf den Anspruch des Autors zurückzuführen ist, durch seinen praxeologischen Ansatz sowohl die Kulturgeographie anschlussfähig für die Sozialwissenschaften zu machen als auch bestehende Dilemmata der eher kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Gedächtnis und Erinnerung zu bereinigen. Die starke Fokussierung auf Praxistheorien führt dazu, dass das Buch in zwei Teile zerfällt, auch wenn Maus dies als notwendige Folgerung seines Ansatzes begründet.

Der erste Teil enthält eine grundlegende Tour d’Horizon der geographischen Erinnerungsforschung, um sich schließlich mit der Praxistheorie des amerikanischen Sozialphilosophen Theodore R. Schatzki auseinanderzusetzen. Nach Schatzki konstituieren diverse Praktiken, die sich wie ein Bündel immer wieder neu formieren, soziales Leben (in Schatzkis Worten: „human coexistence“). Damit geht die Auflösung der Differenzen zwischen individuellen und kollektiven Praktiken einher: Für Maus bedeutet dies, dass unterschiedliche Modi von Erinnerungspraktiken, individuelle Erfahrungen wie kollektive Formen des Gedenkens und institutionelle Akteure auf einer Ebene untersucht werden können (S. 49). Solche Praktiken sind Teile von Arrangements, die sie performativ herstellen bzw. visualisieren. Diese benennt Schatzki als „Landschaften“ („landscapes as timespace phenomena“) – eine weitere Anschlussstelle für Maus, da hierdurch die materielle Welt mit den sozialen Praktiken verbunden werde. Erinnerungslandschaften als Analyserahmen zu begreifen könne, so Maus, bestehende einseitige Trennungen zwischen materialen, sozialen und mentalen Dimensionen der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung aufheben.

Im empirischen Teil analysiert der Autor Praktiken des Erinnerns an den Kalten Krieg in Hessen („Fulda Gap“ – vermutete Einmarschroute der Roten Armee nach Westen; „Point Alpha“ – US-Beobachtungspunkt an der innerdeutschen Grenze) und Schleswig-Holstein. Dabei sind es drei Forschungsfragen, die ihn leiten: erstens die Rekonstruktion von Praktiken des Erinnerns, zweitens die Rekonstruktion von Erinnerungslandschaften, drittens der „Kontextualitätswandel“ von Erinnerungslandschaften. Entsprechend seines praxistheoretischen Ansatzes untersucht Maus disperse Felder: Institutionen wie den Denkmalschutz, Museen, private Initiativen, Internetforen und das Phänomen des Geocaching. In seinen methodischen Reflexionen betont Maus, dass er als Beobachter oftmals zugleich als „Experte“ im Feld wahrgenommen wird. Gerade in den Internetforen, aber auch als Mitspieler im Geocaching wurden Grenzen zwischen Beobachter- und Teilnehmerrolle fluid.

Im ersten empirischen Kapitel schildert Maus die Praktiken ortsbezogenen Erinnerns am Beispiel des Denkmalschutzes und des Geocaching. Diese Zusammenstellung ist auf den ersten Blick überraschend, entspricht jedoch dem praxistheoretischen Ansatz, der keine Unterscheidung zwischen kollektiven oder individuellen Praktiken macht, wenngleich Organisations- und Aktionsfaktoren durchaus eine Rolle spielen. Maus beschreibt das Geocaching differenziert und räumt ein, dass es nicht allen Akteuren dabei um ortsbezogene Erinnerungspraktiken gehe. Trotzdem ist m.E. Skepsis anzumelden: So wäre die Frage zu stellen, inwieweit andere Motive die Praktiken formieren – zum Beispiel Abenteuerlust, Raumerkundung in fremden Gegenden, aber auch das Übertreten von Verboten etwa beim Eindringen auf militärisches Gelände. Wie können hier Erinnerungspraktiken unterschieden werden, wenn die Aktionsformen doch in der Regel dieselben sind? Auf der Ebene der Beschreibung des Denkmalschutzes wäre die Frage nach den politischen Rahmenbedingungen stärker herauszuarbeiten – auch wenn Maus hier detailliert die Gesetzeslagen beschreibt und betont, dass die Definition des Schutzwürdigen im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen steht. Doch die Fokussierung allein auf die Praktiken lässt den gesellschaftlich-politischen Rahmen blass erscheinen.

Im zweiten empirischen Kapitel untersucht Maus den „erinnerungskulturellen Kontextualitätswandel“ vor allem am Beispiel der Praktiken der Museen und Initiativen im Feld. Neben Interviews sind hier auch Internetforen seine Quellen. Es geht um die veränderten Deutungen und Sinngebungen der „materiellen Arrangements“. Bereits im ersten Teil fasste Maus die ortsbezogenen Praktiken unter Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln zusammen – wobei dies zweifellos für den Denkmalschutz passt, aber sehr viel weniger für die Akteure im Geocaching. In den Blick geraten praktische Verständnisse des Sammelns und Bewahrens, wie sie gerade für den Umgang mit Bunkern des Kalten Krieges in vieler Hinsicht zutreffen. Positiv ist hervorzuheben, dass die Fokussierung auf die Praktiken es durchaus ermöglicht, bestehende (zum Teil auch berechtigte) Vorbehalte gegenüber den privaten „Bunkermuseen“ etc. aufzubrechen. Disperses Sammeln durch Privatinitiativen, so kann Maus verdeutlichen, ist oftmals die Grundlage für Bestände von wissenschaftlichen Museen. Allerdings wäre erstens einzuwenden, dass politische Kontexte gerade bei den Bunker-Initiativen außen vor gelassen werden. Allenfalls beim Auszug eines Interviews mit einem Vereins-Vorstandsmitglied wird dies kritisch angemerkt. Zweitens bedeutet Sammeln immer auch Auswahl – und hier sind die Kriterien offenzulegen. Ein weiterer Einwand gilt Maus’ Übernahme der Bedeutungszumessung des „authentischen Ortes“, die in den Interviews betont wird. Alle diese Orte sind überformt von der Nach-Geschichte und insofern eher als „historische Orte“ zu verstehen. Das gilt ebenso für die NS-Bunker, die im Kalten Krieg weitergenutzt wurden – zum Teil als Schutzbunker für einen atomaren Krieg umgebaut –, wie für neue Bunker oder andere militärische Anlagen der 1950er- bis 1970er-Jahre. Während Maus die unterschiedlichen Kontextualisierungen durchaus berücksichtigt, beispielsweise von der Friedensbewegung bis heute, werden die Veränderungen der Orte selber kaum reflektiert. Ein wiederum überraschender und zugleich fruchtbarer Zugang ist der Hinweis des Autors auf die Persistenz von Praktiken aus der Zeit des Kalten Krieges, die Eingang in die Erinnerungspraktiken fanden: Gemeint ist vor allem das Kartieren der Orte, aber auch die Wartung und Pflege der militärischen Anlagen. Hier nutzen die Akteure der Erinnerung die Hinterlassenschaften des Militärs.

Meine Lektüre der Studie ist ambivalent: Nicht beurteilen kann ich den Diskussions- und Forschungsstand innerhalb der Geographie, in der sich Gunnar Maus positioniert. Vieles scheint mir argumentativ ins Fach selber gerichtet. Aus geschichts- bzw. kulturwissenschaftlicher Sicht scheint mir der Mehrwert eines praxistheoretischen Ansatzes vor allem darin zu liegen, dass es hierdurch möglich wird, das häufig normativ aufgeladene Feld der Erinnerungskultur neu zu öffnen. So geraten andere Formen ortsbezogener Erinnerungspraktiken in den Blick als gemeinhin von der Forschung wahrgenommen. Auch werden Konflikte zwischen professionellen Akteuren im Feld und privaten Initiativen entschärft. Maus deutet am Schluss selbst an, dass Schatzkis Vokabular noch durch Fragen nach biographischen Prägungen etc. zu erweitern wäre. Zugleich aber betont er, es sei eben der Vorteil, dass „die praktikentheoretische Perspektive [...] keine Deutungshoheiten oder Machtfragen“ beleuchte – „sie stellt vielmehr wertfrei die Zusammenhänge unterschiedlichster Felder heraus“ (S. 254). Genau das aber ist das Problem: Zum einen kann Forschung nicht „wertfrei“ sein; schon die Auswahl der Untersuchungsfelder, die Position des Forschers etc. stehen dem entgegen. Zum anderen ist die Frage, was und wie erinnert wird, Teil von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, die normativ aufgeladen sind. In diesen Aushandlungsprozessen aber wird um Bedeutung und Sinnzusammenhänge gestritten; Orte werden immer wieder neu konstruiert. Maus thematisiert das in seinem Resümee, bleibt hinsichtlich der Konsequenzen jedoch eher vage.