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Titel
Papst und Kaiser als Zwillinge?. Ein anderer Blick auf die Universalgewalten im Investiturstreit


Autor(en)
Sieber-Lehmann, Claudius
Reihe
Papsttum im mittelalterlichen Europa 4
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
203 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Burkhardt, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

„Canossa“ gehört wohl noch immer zu den großen, unbewältigten Traumata der deutschen Verfassungsgeschichte. Trotz aller Bemühungen um eine sachliche Einordnung der Geschehnisse und eine Analyse der Quellen sine ira et studio kochten in den letzten Jahren die Emotionen hoch und über. In dem Namen der Burg laufen nämlich lange, durch verschiedene konfessionelle und politische Kraftfelder beeinflusste Traditionslinien zusammen, die sich uneins sind über die grundsätzliche Bewertung des so genannten Investiturstreites, der Stellung römisch-deutscher Herrscher im mittelalterlichen Europa und der Anfänge und Reichweite einer säkularen, aufgeklärten Gesellschaft.1

Nicht umsonst steht „Canossa“ auch am Ausgangspunkt des zu rezensierenden Werkes. Der Autor sucht die Fragen zu beantworten, ob sich der Bruch zwischen beiden Universalgewalten nicht vermeiden ließ und weshalb „so viel Bitterkeit“ (S. 11) den Konflikt prägte. Der durch Sieber-Lehmann gewählte Zugang zur Durchdringung des Themenkomplexes ist innovativ: Lag der Grund für die Entfremdung zwischen Papst und Kaiser nicht vielleicht darin, dass sich das Verhältnis beider grundsätzlich nicht als Zwillingsherrschaft denken ließ? Statt der Einheit von „Papst und Kaiser, friedlich vereint als Zwillinge, die sich gemeinsam von Gott, seinem Sohn und dem Heiligen Geist herleiten“ (S. 11) habe der letztlich ungelöste Gegensatz eine Dynamik entwickelt, deren Folgen nicht abzusehen waren.

Ein erstes Kapitel („Alles wird anders“, S. 14–46) sucht gleichsam die Ausgangsbasis durch die Skizzierung bisheriger Ansätze der Forschung zum Investiturstreit zu definieren. Besondere Berücksichtigung finden die Frage nach der Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Revolution und Wandel, die Schärfung des Blicks für den „Kulturbereich der Religionen“ (S. 32) sowie die Abgrenzung von Bewegungen und Zielen möglicher Reformvorhaben.

Ein zweites Kapitel („Scheiternde Lösungsversuche und Verzweiflung“, S. 47–91) leitet zur Zwillingsthematik über. Ausgehend von der berühmten Quellenstelle aus den Augsburger Annalen (ad a. 1079: Omnes sumus geminati2) wirft der Autor einen genaueren Blick auf die Bewertung von Zwillingsgeburten und Zwillingen in der biblischen Tradition. Hier scheint das Brüderpaar Jakob und Esau übermächtig auf das Bild gewirkt zu haben, das sich Kirchenväter, Kommentatoren und Theologen von Zwillingen machten. Der Aspekt des Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Geistlichem und Weltlichem stünde bei diesen Interpretationen im Vordergrund und deute auf ein negatives Bild des Zwillingsphänomens hin. Auch der Weg zur geistigen Fassung des Verhältnisses von Kaiser und Papst als Zwillingsherrschaft sei somit – das zeigt die intensive Heranziehung der Streitschriften des Investiturstreites durch Sieber-Lehmann – erschwert gewesen.

Grundsätzlich sei es dem Mittelalter „nur mit Unterordnung“ (S. 75) möglich gewesen, geminale oder duale Doppelherrschaft geistig zu fassen. Dies sei ebenso eine Folge der zutiefst negativen Sicht des Mittelalters auf die Zahl Zwei gewesen. Auch die verschiedenen Bilder, in denen weltliche und geistliche Herrschaft gedacht wurde – zwei Säulen eines Gebäudes, zwei Kleider, Tag und Nacht, Sonne und Mond, zwei Schwerter – seien nie frei von mehr oder minder impliziten Versuchen gewesen, die „Zwillingslösung“ zugunsten des „grundsätzlichen Monismus des jüdisch-christlichen Weltbildes“ (S. 84) hierarchisierend zu schwächen.

Ein drittes Kapitel („Zwillinge statt Zwiespalt?“, S. 92–127) sucht das Phänomen der Zwillinge gleichsam als Kontrastfolie zu den bisherigen Ausführungen zunächst aus der Perspektive der antiken Gesellschaften zu betrachten und kommt zu dem vorläufigen Ergebnis, dass sowohl Zwillinge an sich als auch die Herrschaft zweier Personen – möglicherweise in Anlehnung an das prägende Vorbild der Dioskuren – positiv besetzt gewesen seien. Exkursartig nimmt der Autor sodann mit dem Unterkapitel „Geminal ≠ Dual: Sprachen und das geminale Prinzip“ (S. 102–105) in Bezug auf die linguistische Form des Dualis eine auch für die folgenden Ausführungen wichtige Differenzierung vor: „Nicht die Dualität, sondern die Zwillingsanordnung unserer Extremitäten bestimmt letztlich unser Sprach- und Weltverständnis […] Geminale Vorstellungen orientieren sich an einer gemeinsamen Deszendenz, während duale Vorstellungen allein die Differenz, die Unterscheidung sowie die Diastase betonen und die damit verbundene Instabilität hervorheben“ (S. 104f.). Auf eher „lebensweltlich“ orientierten Ausführungen zum christlichen Mittelalter und seinen Zwillingen folgt ein weiteres Unterkapitel, „Der kulturanthropologische Blick von außen: Zwillinge in Afrika und Amerika“ (S. 115–127). Mit diesen Kontrasten gelingt es dem Autor – trotz mitunter leichter Brüche in der Abfolge der Ausführungen – die Sicht der Streitschriften auf das Phänomen der Zwillinge und der Zwillingsherrschaft noch stärker zu konturieren.

Die gesponnenen Fäden der Argumentation werden in dem vierten Kapitel („Papst und Kaiser: Zwei statt Zwillinge“, S. 137–162) aufgenommen. Sieber-Lehmann konstatiert im Gefolge des Investiturstreits ein allgemein gewachsenes Bedürfnis, Unterschiede zu erkennen, sowie ein Verlangen nach begrifflicher Unterscheidungskraft (discretio). In diesem Zusammenhang sei auch das Wormser Konkordat zu sehen: Es „bot eine duale Kompromisslösung an, es führte zur Konstituierung eines genuin weltlichen Bereichs und bestimmte somit das Zusammenleben der Menschen in den kommenden Jahrhunderten“ (S. 145). Zugleich sei mit Worms der Rahmen bereitgestellt worden, die weiterhin bestehenden und ungelösten Konflikte geregelt auszutragen. Die neue, oberflächlich sedierte Kooperation sei von nun an allmählich in das geminale Körperbild des geistlichen und weltlichen Armes gefasst worden: „Während das Beispiel von Jakob und Esau keine Möglichkeit einer Zwillingslösung bot, so war dies wenigstens durch die Körpermetapher der beiden Arme möglich“ (S. 153). Feine Nuancierungen seien jedoch fakultätsabhängig geblieben: Juristen des Kirchenrechtes betonten die Gleichrangigkeit beider Gewalten, die Theologen hielten an einer strengen Hierarchie der Gewalten fest.

Wichtig ist der Befund des Autors in Bezug auf Byzanz: Die in Worms gefundene, leidlich stabile Abgrenzung der Gewalten betraf nicht die gesamte Christianitas. Doppelung und Spaltung erwiesen sich im Westen als hoch produktiv, das „monistische System in Byzanz unterschied sich völlig von den Entwicklungen im Reich und in den westeuropäischen Königreichen wie Frankreich und England“ (S. 157). Dies ist zu bekräftigen: Es war gerade die Etablierung des Lateinischen Kaisertums in Konstantinopel 1204, die diese basale Spannung, aber auch die vielfach verschränkten, langen Traditionslinien deutlich zutage treten ließ und die auch nur durch eine entsprechende Analyse erklärt werden kann. Nur knapp kann Sieber-Lehmann den weiteren Weg des fruchtbaren Spannungsverhältnisses skizzieren: „Päpste, Kaiser, Könige und Fürsten ließen eine buntscheckige westeuropäische Staatenwelt entstehen, die bis 1453 in einem diametralen Gegensatz zum immer noch bestehenden oströmischen Reich stand“ (S. 161), suchten aber bis Maximilian I. stets noch, „das Verhältnis von sacerdotium und regnum in einer höheren Einheit aufzuheben“ (S. 162).

War es – so ließe sich abschließend fragen – für diese Einsichten notwendig, den Fokus auf Zwillinge und geminale Herrschaftsvorstellungen zu legen? Diese Frage ist zu bejahen: Der Perspektivwechsel zum „Bild einer geglückten Doppelwertigkeit“ (S. 166) und seiner partiellen Ablehnung im 12. Jahrhundert eröffnet neue Einsichten in alte Fragestellungen. Statt nur Trennung und Spaltung zu betonen, lassen sich so auch der Verlauf und die Folgen des so genannten Investiturstreites als Entwicklung einer „Kultur der Differenz auf der Basis gleicher Herkunft und eines gemeinsamen Erfahrungsschatzes“ (S. 166) verstehen. Eine Kultur, die den wissenschaftlichen Grabenkämpfen um Canossa vielleicht auch gut täte.

Anmerkungen:
1 Vgl. zur Einordnung des Ereignisses die Beiträge in: Christoph Stegemann / Matthias Wemhoff (Hrsg.), Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Bd. 1: Essays, München 2006. Vgl. zur jüngeren Forschungskontroverse etwa Jürgen Dendorfer: Canossa – keine Wende? Mehrfachbesprechung von Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin 2012. Einführung, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [15.01.2013], URL: <http://www.sehepunkte.de/2013/01/forum/canossa-keine-wende-brmehrfachbesprechung-von-johannes-fried-canossa-entlarvung-einer-legende-eine-streitschrift-berlin-2012-163/> (28.06.2016)
2 Annales Augustani, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH Scriptores 3), Hannover 1839, S. 130.

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