Titel
Sozialgeschichte der Erziehung. Von der Antike bis in die Moderne


Autor(en)
Hoyer, Timo
Reihe
Grundwissen Erziehungswissenschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
158 S.
Preis
€ 17,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinz-Elmar Tenorth

„Sozialgeschichte“ hat als Label und Programm weder in der aktuellen Geschichtswissenschaft noch in der Historischen Bildungsforschung sonderlich Konjunktur. Der zahllosen anderen turns ungeachtet legt Timo Hoyer dennoch mit seinem Lehrbuch bewusst eine ‚Sozialgeschichte‘ der Erziehung vor, gerechtfertigt vor allem durch die Tatsache, dass in der Lehrbuchliteratur zum Thema Bildung und Erziehung bis heute die „Geschichten der Pädagogik“ dominieren, die im Wesentlichen immer noch national zentrierte und auf die Bildung der Lehrer und eines pädagogischen (Reform-)Bewusstseins zielende Kompendien wesentlicher pädagogischer Theorien, Programme und Reformideen liefern, resistent gegen alle Kritik.1 Auch wenn es hier und da Ausnahmen gibt (Hoyer erwähnt freundlicherweise eine Arbeit des Rezensenten), konzentrieren sich diese Arbeiten doch dominant auf die Zeit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, setzen also mit der inzwischen schon mit dem Etikett „klassisch“ geadelten Moderne seit der europäischen Sattelzeit ein und führen bis zur Gegenwart weiter. Diese Moderne ist nun die Zeit, zu der Hoyers Arbeit endet, genauer: er lässt seine „Moderne“ 1914/1918 mit dem „langen 19. Jahrhundert“ enden. Im Blick auf die Lehrbücher – für die Zeit nach der Antike – erweitert er das Angebot also für einen Zeitraum, der unter dem Begriff der „Frühen Neuzeit“ erst allmählich in der Historischen Bildungsforschung zum Thema geworden war, und im Blick auf die Antike führt er sozialgeschichtliche Fragestellungen bei einem Thema und einer Zeit ein, die in der deutschen historischen Bildungsforschung (anders als im angelsächsischen Sprachraum) fast nur von der antiken Philosophie aus gelesen wurde, das heißt von den bildungstheoretisch als Norm gedeuteten Texten von Plato bis Aristoteles, Cicero oder Seneca, so dass die Antike primär als Element des abendländischen Kanons der Gebildeten sichtbar wird.

Man darf also gespannt sein, was jetzt eine Sozialgeschichte bietet, und wird natürlich gleich bescheiden in seinen Erwartungen, wenn man des Lehrbuchcharakters eingedenk bleibt, dem Hoyer verpflichtet ist, zumal in einem Umfang von kaum mehr als 150 Seiten zum Thema. Er dekomponiert die für die Erziehung relevante gesellschaftliche Wirklichkeit parallel zu den Etappen des Aufwachsens, beschreibt die Formen von Kindheit und Jugend, diskutiert die Rolle der Institutionen, wie sie für Enkulturation, Unterricht und Ausbildung eingerichtet wurden, und zwar ihre Realität wie ihre Bedeutung im Lebenslauf, bis hin zu den Universitäten. Dabei berücksichtigt er zunächst europäische, dann zunehmend die Bildungsverhältnisse in den deutschsprachigen Ländern, am Ende nur noch in Deutschland, aber wie üblich ab 1800, anders als vorher, als die landesherrlichen Differenzen, z.B. für Württemberg, breit thematisiert werden, jetzt eher preußenzentriert, obwohl auch die übrigen Länder nicht schlecht erforscht sind.2 Allerdings, die Habsburger Lande kommen so gut wie nicht vor, Engelbrechts einschlägiges Handbuch3 wird nicht einmal genannt. Natürlich sind die Ausführungen nicht primär aus den Quellen, gar aus neu erschlossenen Quellen, gearbeitet. Es gibt auch weder Bilder noch Statistiken, nur Worte, diese aber sind gut lesbar und aufschlussreich komponiert. Hoyer nutzt klug referierend und resümierend die bildungshistorische Forschung (nicht allein die deutschsprachige), auch intensiv das „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ (das aber die Vormoderne ausgespart hat), auch die Informationen aus den vorliegenden Datenhandbüchern zur Bildungsgeschichte4 und gibt sehr brauchbare weiterführende Literaturhinweise, auch wenn der Spezialist natürlich aus der inzwischen ja reichhaltigen Forschung leicht weitere Empfehlungen nennen könnte.5 Aber man muss dem Umfang Tribut entrichten und Hoyers Fundament und seine Lektüreempfehlungen erfüllen, genau wie die Gestaltung des Buches, die Erwartungen, die man an ein Studienbuch haben kann.

Auch in der Darstellung und Diskussion seiner zentralen Themen bietet er auf dem knappen Raum zunächst viel. Hoyer untergliedert seine Arbeit in drei große, plausibel unterschiedene Perioden: Antike und Mittelalter als Teil A, Frühe Neuzeit zwischen Konfessionalität und Säkularisierung als Teil B, dann in C das lange 19. Jahrhundert unter dem durchaus aufschlussreichen Titel „Stockende Modernisierung“. Kindheit und Jugend, Schule und Universitäten (die nur bis 1800) werden in ihren Strukturen und in der lebensweltlichen und sozialstrukturellen Verankerung epochal jeweils gut charakterisiert, stets auch im Hinblick auf die Fragen, von denen die jüngere Forschung umgetrieben war, und dann immer mit der nötigen Differenz. Kindheit wird also nicht etwa tränenreich-pädagogisch allein wertthematisch behandelt, sondern nüchtern und klar, distanziert gegenüber Ariès, orientiert unter anderem an der Funktion von Altersklassen-Gliederungen (allein über Jugend und Jugendprotest in der Antike hätten ein paar Zeilen gutgetan6), alltags- und lebensweltlich bis in die altersspezifische Materialität der Kontrolle und Formierung hinein. Auch die sehr lange so marginale Rolle der Schulen tritt dabei hervor, die Zäsur, die sich allmählich anbahnt (wobei in Teil B die Epoche mit der notwendigen Skepsis gegenüber emphatischen Beschreibungen wie „Aufklärung“ gezeichnet wird), und der lange, aber im höheren Schulwesen oder einzelnen Universitäten auch vor 1800 schon erfindungsreiche und produktive Weg, der von der protestantischen Emphase für die Schule und den nachholenden katholischen Aktivitäten, unter anderem der Jesuiten, bis zur allgemeinen Alphabetisierung und zur Ausgestaltung höherer Bildung zu beschreiten war.

Das lange 19. Jahrhundert, obwohl zeitlich die kürzeste Phase, wird erwartbar am umfangreichsten dargestellt, erneut intensiv im Blick auf die Erziehungsverhältnisse und den beginnenden radikalen Wandel in Kindheit, Kinderwelten und Kindheitsbildern, in Familie und Jugend, für Jugendkulturen (ohne Idealisierung, durchaus mit Sinn für die Militarisierungsintention) oder für die Genderfrage, dann für die unterschiedlich sich entwickelnden Schularten (und jetzt vermisst man dann wirklich das berufliche Bildungswesen). Hoyer analysiert vor allem den sich umfassend ausbildenden so fürsorglichen wie kontrollierenden „Schulstaat“, von den vorschulischen Einrichtungen und der Volksbildung über die Sonderschulen bis zu den höheren Schulen. Dabei zeigt er, dass er den Stand der Forschung kennt, gibt begründete Hinweise für seine These, dass die „Modernisierung“ nur „stockend“ war, und warum man dennoch von Modernisierung sprechen kann, wenn man die Varianten von „Modernisierungen“ nicht ignoriert, die ja trotz des dominierenden Klassencharakters der Gesellschaft institutionell oder curricular nicht fehlten. Der Ausbau des Volksschulwesens im ausgehenden 19. Jahrhundert z.B. ist angesichts der dramatischen Formen und Folgen der Binnenmigration ja nicht nur ein Akt der Disziplinierung, sondern auch ein vielleicht nicht intendierter, aber faktisch bedeutsam werdender Prozess der staatlichen Sicherung des Bildungsminimums. Hier hätte man sich ab und an einen komparativen Blick auf vergleichbare Staaten und die Prozesse von Demokratisierung, Partizipation und Bildung gewünscht, zumindest einen knappen Literaturhinweis, weil ja z.B. für die Erziehung der Massen7 oder für die Funktion von „Bildung“ und Zertifizierung8 solche komparativen Studien durchaus vorliegen.

Für die Universitäten bis 1914, das muss man nun wirklich bedauern, gibt es aber gar kein eigenes Kapitel mehr. In der Epochencharakterisierung kommen die Rollen von Akademisierung und Bildung, Bildungsbürgertum und Klassengesellschaft noch vor. Aber es wäre wichtig gewesen, auch die um 1800 unvorstellbare Expansion der Universitäten und den Wandel ihres Umfeldes wenigstens knapp im Kontext der höheren Bildung zu zeigen. So bleibt wirklich nur die Lektüre der Literatur, auf die Hoyer verweist.

Den insgesamt positiven Gesamteindruck kann das nicht dementieren. Hoyer ist es gelungen, auf knappem Raum lesbar und klar, so forschungsbasiert wie in der Nutzung eigenständig und informativ zu belegen, dass eine Sozialgeschichte der Erziehung wesentlich, ja unentbehrlich ist, wenn man über Erziehungsverhältnisse moderner Gesellschaften reden will.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch, auch als Grund der „Marginalisierung“ der Historischen Bildungsforschung, diskutiert z.B. bei Daniel Tröhler, Historiographische Herausforderungen der Bildungsgeschichte, in: Bildungsgeschichte International Journal for the Historiography of Education 1 (2011), S. 9–22.
2 Für Bayern gibt es z.B. Max Liedtke (Hrsg.), Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens, 4 Bde., Bad Heilbrunn 1991–1997.
3 Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. 5 Bde, Wien 1982–1988, sowie ders., Erziehung und Unterricht im Bild. Zur Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Wien 1995.
4 Eine analytisch brauchbare Ergänzung hätte der Autor noch empfehlend nennen können, nämlich Peter Lundgreen (Hrsg.), Bildungsbeteiligung: Wachstumsmuster und Chancenstrukturen 1800–2000, Wiesbaden 2006.
5 Einen auch international ansetzenden Überblick liefert Heinz-Elmar Tenorth, Historische Bildungsforschung, in: Rudolf Tippelt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, 3. Aufl., Opladen 2010, S. 135–154; die für die 4. Aufl. erweiterte und neu bearbeitete Fassung ist für 2016 zum Druck angekündigt.
6 Dazu gibt es ja eine Diskussion, die das Phänomen zeigt, vgl. Klaus-Peter Horn / Johannes Christes / Michael Parmentier (Hrsg.), Jugend in der Vormodere. Annäherungen an ein bildungshistorisches Thema, Köln 1998.
7 Ich erwähne nur Laurence Brockliss / Nicola Sheldon (Hrsg.), Mass Education and the Limits of State Building, 1870–1930. Basingstoke 2012.
8 Die Diskussion in Detlef K. Müller / Fritz K. Ringer / Brian Simon (Hrsg.), The Rise of the Modern Educational System. Structural Change and Social Reproduction. Cambridge 1987 ist immer noch lehrreich.

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