U. Heimann: Liberalismus, ethnische Vielfalt und Nation

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Titel
Liberalismus, ethnische Vielfalt und Nation. Zum Wandel des Indio-Begriffs in der liberalen Presse in Mexiko, 1821-1876


Autor(en)
Heimann, Ursula
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 63,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Hensel, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Mit ihrer Untersuchung des Indio-Begriffs nimmt Heimann eine Grundkategorie der mexikanischen Gesellschaft in den Blick: den Indio-Begriff. Die Spanier erfanden zu Beginn der Kolonialzeit die Bezeichnung, um darunter die autochthone Bevölkerung zusammenzufassen und zu vereinheitlichen. Seitdem erfuhr das Konzept jedoch einen erheblichen Wandel und wurde von verschiedenen sozialen Akteuren unterschiedlich gefüllt. In der 1998 an der Universität Hamburg als Dissertation anerkannten Studie untersucht die Autorin, welche Bedeutungen Liberale im 19. Jahrhundert dem Indio-Begriff gaben und wen sie damit meinten. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Unabhängigkeit bis zum Beginn der autoritären Herrschaft Porfirio Díaz’ 1876. Die Studie behandelt damit eine Phase der mexikanischen Geschichte, die trotz ihrer großen Bedeutung für den mexikanischen Staats- und Nationsbildungsprozess bisher zu wenig Aufmerksamkeit in der Forschung erhielt.

Die Autorin will eine Begriffsgeschichte vorlegen (S. 22) und einen Beitrag zu der Frage leisten, welche Interessengruppen und kollektiven Akteure sich im 19. Jahrhundert in Mexiko gegenüberstanden (S. 20). Ein Kennzeichen der untersuchten 55 Jahre lag in der fortgesetzten politischen Instabilität, die nicht nur auf innermexikanische Konflikte, sondern auch auf Kriege bzw. ausländische Interventionen zurückging. In den letzten Jahren des Untersuchungszeitraumes gelang liberalen Kräften ein endgültiger Sieg über die Konservativen. Damit begründet Heimann ihre Beschränkung auf die liberale Konzeption des Indio-Begriffs.

Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die Entwicklung des Liberalismus in Mexiko und beleuchtet die Konzepte „Nation“ und „Individuum“ im liberalen Denken. Einige Ideen teilten alle Liberalen, wie etwa die Orientierung auf ein republikanisches Regierungssystem, Modernisierung und Wirtschaftswachstum sowie eine Ablehnung der einflussreichen Rolle der Kirche. Darüber hinaus bestanden allerdings zahlreiche Unterschiede, die sich in einer Zweiteilung der liberalen Strömung in so genannte „moderados“ und „puros“ niederschlugen. Weiterhin lassen sich Differenzen festmachen zwischen Liberalen, die die Unabhängigkeitskämpfe miterlebt hatten und einer nachfolgenden Generation, deren politische Sozialisation bereits unter republikanischen Vorzeichen stattfand. José María Luis Mora repräsentierte sowohl die erste Generation als auch die „moderados“. Er vertrat direkt nach der Unabhängigkeit eine Auffassung von der Nation als freiwilligem Zusammenschluss von Individuen, in der die Gleichheit vor dem Gesetz grundlegend war. Als jedoch sowohl politische Stabilität als auch wirtschaftliches Wachstum ausblieben, forderte Mora eine Einschränkung der bürgerlichen Rechte auf die landbesitzende Schicht. Der Rest der Bevölkerung müsse erst zu Staatsbürgern erzogen werden. Dem individualistischen Entwurf Moras stellte Melchor Ocampo, ein Anhänger der „puros“ und Angehöriger der zweiten Generation von Liberalen, ein Gesellschaftskonzept gegenüber, in dem das Kollektiv über dem Einzelnen stand. Außerdem sah er die Nation nicht als politisch begründetes Kollektiv, sondern hob die gemeinsame Herkunft und Kultur als konstituierende Elemente hervor. Mit der Verknüpfung von Generationszugehörigkeit und politischer Orientierung in den Personen Moras und Ocampos lässt die Darstellung allerdings nicht deutlich werden, welche Unterschiede auf welche Faktoren zurückzuführen sind.

Nach einem Kapitel über die Entwicklung der liberalen Presse in Mexiko-Stadt kommt Heimann zum Indio-Begriff. Sie untersucht die liberale Presseberichterstattung in drei Kapiteln über die sesshafte indigene Bevölkerung, die Apachen und Comanchen im Norden des Landes und schließlich Aufständische aus der sesshaften indigenen Bevölkerung. Für die Lokalisierung entsprechender Presseberichte konnte Heimann auf eine bestehende Artikelsammlung über die indigene Bevölkerung zurückgreifen. Von den insgesamt von einem mexikanischen Forscherteam ausgewerteten 30 Publikationsorganen zieht Heimann acht Zeitungen für ihre Analyse heran. Davon bestanden einige lediglich ein paar Jahre, zwei erschienen über mehrere Jahrzehnte.

Direkt nach der Unabhängigkeit sieht Heimann eine kurze Phase, in der Liberale die sesshafte indigene Bevölkerung positiv betrachteten und als Teil der mexikanischen Nation sahen. Allerdings war an die Inklusion die Bedingung der Angleichung der Indios an die normgebende europäisch geprägte Gesellschaft geknüpft. Bereits in der Unabhängigkeitszeit war die koloniale Einteilung der Bevölkerung in verschiedene Kategorien mit unterschiedlichen Rechten verboten worden. Alle sollten mexikanische Staatsbürger sein. Damit verbanden viele Liberale die Hoffnung einer tatsächlichen Angleichung der Lebensführung und Orientierungen. Seit den 1830er-Jahren kristallisierte sich jedoch aufgrund der politischen Instabilität und dem ausbleibenden Wirtschaftswachstum ein Gesellschaftsbild heraus, in dem sich Weiße und Indios gegenüber standen. An der Bezeichnung „blancos“ (Weiße), die zunehmend Verwendung fand, zeichnet sich die wachsende Bedeutung von Rassenvorstellungen in Mexiko ab. In den 1840er-Jahren rückte der Indio-Begriff zunehmend in die Nähe von Armut, deren Ursachen nicht mehr in der kolonialzeitlichen Behandlung, sondern in den Charaktereigenschaften der Indios gesucht wurden. Den rückständigen Indios standen die Weißen mit ihrer Orientierung an Europa als Inbegriff von Zivilisation und Modernität gegenüber. Diese Sichtweise führte zu einem diskursiven Ausschluss der Indios aus der mexikanischen Gesellschaft. Der Dichotomie entsprach die Gegenüberstellung von Stadt und Land, die nicht nur geografisch auseinander lagen, sondern zugleich eine Entfernung in der gesellschaftlichen Entwicklung markierten. Daraus erklärt sich eine zunehmende Gleichsetzung der Indios mit den ländlichen Unterschichten, die ihren begrifflichen Niederschlag in der Bezeichnung „clase indígena“ fand. Um die ökonomische Lage der indigenen Bevölkerung zu verändern, sahen alle Liberalen die Notwendigkeit einer Reform des Landbesitzes. Während die meisten die Umwandlung des kommunalen in privaten Besitz forderten, sprachen sich Vertreter einer sozialliberalen Strömung für die Einbeziehung des Großgrundbesitzes in eine Landreform aus. Mit einer solchen Maßnahme hofften die Sozialreformer, eine homogene Nation schaffen zu können. In dem Ziel einer homogenen Nation, das nach der Niederlage gegen die USA 1848 Auftrieb erhielt, kommt die grundsätzliche Differenz, die zwischen Weißen und Indios hergestellt wurde, zum Ausdruck. Leider verfolgt Heimann diesen Aspekt nicht weiter. Sie kommt dagegen zu dem Schluss, dass die mexikanischen Liberalen die sesshafte indigene Bevölkerung, die sie als „indios“ oder „indígenas“ bezeichneten, in ihr Konzept der mexikanischen Nation integrierten.

Dieses Ergebnis kontrastiert Heimann in zwei weiteren Kapiteln mit einer Analyse der Presseberichte über die Raubzüge von Apachen und Comanchen gegen Siedler im Norden des Landes einerseits und über Rebellionen der sesshaften indigenen Bevölkerung andererseits. Apachen und Comanchen galten als grausame Barbaren fern jeder Zivilisation - als „indios bárbaros“ -, die militärisch besiegt werden mussten. Die verwendeten Begriffe verweisen auf die Exklusion der Apachen und Comanchen aus der mexikanischen Gesellschaft. Aufständische aus den Reihen der sesshaften indigenen Bevölkerung wurden zwar ebenfalls als barbarisch bezeichnet, ihren Ursprung sah die liberale Presse jedoch in der zivilisierten Gesellschaft, aus der sie ausgeschert seien. Der Ausschluss dieser Indios war demnach nicht so strikt wie der von Apachen und Comanchen.

Die Studie wirft einige Fragen auf. Zum einen erscheint es lohnenswert, das Konzept einer homogenen Nation, wie es um die Jahrhundertmitte formuliert wurde, näher zu betrachten. Die zitierten Quellen sprachen von Weißen und Indios als „Söhnen des gleichen Landes“, die aber keine homogene Nation bilden würden (S. 231). Angesichts des mexikanischen Staatsbürgerschaftsrechts stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, stärker zwischen der Staatsangehörigkeit der indigenen Bevölkerung und ihrer Inklusion in die Nation zu unterscheiden. Daran anschließend wäre auch der Diskurs über die Apachen und Comanchen zu überdenken. Zwar fand angesichts der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und mexikanischen Siedlern eine kulturelle Grenzziehung statt, mit der sie aus der imaginierten mexikanischen Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, gleichzeitig war ihr Status als Staatsbürger auch deshalb unklar, weil sie zwischen den USA und Mexiko pendelten. Schließlich wäre es sinnvoller gewesen, die Untersuchung der aufständischen sesshaften Bevölkerung nicht von derjenigen über die sesshaften Indios allgemein abzutrennen. Verweist doch die Exklusion aufständischer indígenas nicht nur aus dem nationalen Kollektiv, sondern auf der Halbinsel Yucatán im Süden Mexikos auch von der Staatsbürgerschaft (S. 221) darauf, dass die Anerkennung der sesshaften indigenen Bevölkerung als integralem Bestandteil der mexikanischen Nation ausgesprochen prekär war. Ähnliche Maßnahmen gegen Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen, die im 19. Jahrhundert ebenfalls an vielen Rebellionen beteiligt waren, hat es nicht gegeben.

Abschließend lässt sich feststellen, dass Heimann ein wichtiges Thema behandelt und es ihr gelungen ist, die Vielfalt und Differenzierung liberaler Vorstellungen über die indigene Bevölkerung Mexikos insgesamt überzeugend darzustellen. Sie kommt dabei zu einigen interessanten Ergebnissen, wie etwa im Hinblick auf die sozialliberale Strömung, der bisher zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Außerdem kann sie nachweisen, dass die Konstruktion des mestizischen Charakters der mexikanischen Nation bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Allerdings handelt es sich weniger um eine Begriffsgeschichte, als vielmehr um eine Ideengeschichte, die zudem recht konventionell ist. Zum einen geht die Autorin das Problem lediglich aus der Perspektive der hauptstädtischen politisch und publizistisch aktiven Liberalen an. Sie versucht nicht, Quellen zu erschließen, mit deren Hilfe Aussagen über das Selbstbild der von außen als Indios Bezeichneten möglich wären. Damit bleibt offen, inwieweit der Begriff identitätsbildend wirkte und Anleitung zu kollektivem Handeln gab. Zum anderen erwähnt Heimann immer wieder die Einflüsse europäischen Denkens auf die mexikanische Ideengeschichte, die fast als Anhängsel der europäischen Entwicklungen erscheint. Damit verpasst Heimann die Chance, anhand des Indio-Begriffs auf die grundlegende Verschiedenheit der mexikanischen bzw. lateinamerikanischen Gesellschaften und auch der ideengeschichtlichen Entwicklungen zu europäischen zu fokussieren, was nicht unbedingt mit einer Exotisierung einher gehen muss, wie die Autorin zu befürchten scheint (S. 252). Trotz dieser Kritik handelt es sich um eine gut lesbare Darstellung, die allen an der Indio-Problematik Interessierten empfohlen sei.

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