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Titel
Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung


Autor(en)
Stourzh, Gerald
Erschienen
Anzahl Seiten
182 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Acham, Graz

Eines der grundlegenden Charakteristika der Geschichte der Neuzeit ist die gesellschaftliche Umkehrung der Kopernikanischen Revolution: Während die Erde nicht länger als Mittelpunkt des physischen Universums angesehen und den vormals geltenden kosmologischen und theologischen Ordnungsvorstellungen entrückt wird, erscheint der Einzelmensch als Mittelpunkt des moralischen Universums und als Schiedsrichter in allen die menschlichen Belange betreffenden Entscheidungen.

Diese langfristige Entwicklung bildet gewissermaßen die Folie, vor welcher Gerald Stourzh, der Doyen der österreichischen Neuzeithistoriker, im vorliegenden Essay seine rechtshistorischen sowie menschenrechts- und demokratiepolitischen Auffassungen entwickelt. Nach eigenem Bekunden sucht er, der sich Jahrzehnte hindurch mit der Geschichte der Grund- und Menschenrechte sowie der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung befasste, damit der Anregung Jan Huizingas zu entsprechen, jene Elemente einer politisch-rechtlichen Ordnung in ihrer Genese und gegenwärtigen Beschaffenheit darzulegen, die man als „moderne Isonomie“ bezeichnen könnte. Im Anschluss an den Althistoriker Christian Meier, der die Isonomie als eine „Ordnung (staats)bürgerlicher Gleichberechtigung“ kennzeichnete, verwendet der Autor dafür den Ausdruck „Gleichberechtigungsordnung“ (S. 14–16).

Es ist die Ablösung des alten Paradigmas hierarchischer Ordnungen durch jenes neue, für welches der Autor den Satz „Die Menschen sind und bleiben frei geboren und an Rechten gleich“ aus dem Jahre 1789 zur Charakterisierung wählt, die den Leitfaden der in Betracht stehenden Untersuchung abgibt. Gegenüber dem Individuum als Rechtsperson treten in ihr Gruppen und Institutionen des öffentlichen oder privaten Lebens als vorgebliche „Ganzheiten“ deutlich zurück. Das vorliegende Buch umfasst fünf Kapitel: ein den Zentralbegriff sowie die Zielsetzung der Arbeit darlegendes Einleitungskapitel, worauf eines über die „Isonomie in der griechischen Antike“ seit ihrer Lobpreisung durch Herodot im fünften Jahrhundert v. Chr. folgt. Das dritte Kapitel behandelt die vom Frühmittelalter bis ins 18. Jahrhundert reichende „Hierarchie im Diesseits und im Jenseits“. Im zentralen vierten Kapitel werden, im Unterschied zu den „Abstufungen“ im Kapitel zuvor, „Angleichungen“ erörtert, nämlich „Wege zur modernen Isonomie“. Das abschließende fünfte Kapitel stellt in einer „Conclusio“ noch einmal „die beiden Brennpunkte der modernen Isonomie“ dar.

„Ordo“ galt, wie Stourzh gleich zu Beginn von Kapitel III ausführt, „als abgestufte, von Gott ausgehende Weltordnung“ des Mittelalters. In dieser stehe das Verhältnis von „Herr und Knecht“ für verschiedene Varianten der vertikalen Zweierbeziehung: für die von Herren zu Sklaven, von Leibherren zu Leibeigenen, von Grundherren zu Hörigen oder Grunduntertanen, etc. (S. 37). Dies waren Hierarchien innerhalb der umfassenderen abgestuften Gliederung der „oratores, bellatores und laboratores“. Die irdische hatte in der himmlischen Hierarchie ihre Entsprechung (S. 44f.). Erst nach dem Durchbruch der Aufklärung, war es nach Stourzh vorstellbar, in der politischen Praxis jene Form „menschlicher Selbstbestimmung“ ins Werk zu setzen, wie sie „im Postulat der konstituierenden Gewalt des Volkes, in den Erklärungen allgemeiner Menschenrechte und im Prozess der Verfassungsgebung in den amerikanischen Staaten und dann in Frankreich zum Ausdruck kam“ (S. 53).

Wie Stourzh am Schluss seiner Bemerkungen zu verschiedenen „adjektivischen Demokratiebegriffen“ in Kapitel IV (S. 63–74) erklärt, sei es das Ziel seiner Ausführungen im vorliegenden Buch, das Begriffspaar „Menschenrechte und Demokratie“ unter dem gemeinsamen Namen „Isonomie“ als Gleichberechtigungsordnung miteinander zu verbinden. Als die sechs Komponenten dieser politisch-rechtlichen Ordnung benennt er die folgenden und erörtert sie jeweils in einem eigenen Abschnitt: die allgemeine Rechtsfähigkeit, die Gleichheit vor dem Gesetz und besonders die persönliche Rechtsgleichheit, die Entwicklung von „Grundrechten“, die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit und besonders der Individualbeschwerde zur Garantie dieser Grundrechte, die Internationalisierung von Grundrechten als Menschenrechten, schließlich die Demokratie als Verwirklichung des Grundrechts auf Teilhabe an der politischen Gestaltung (S. 75–135). Es sind diese sechs Komponenten der politischen Lebensform zumindest in jenen Ländern, die sich heutzutage auf Demokratie und Menschenrechte berufen, die der Autor in ihrer Gesamtheit mit dem Namen „moderne Isonomie“ bezeichnet.

Im zweiten der soeben erwähnten Abschnitte widmet Stourzh sieben der auch unter dem Namen der „Emanzipation“ bekannt gewordenen Angleichungsbewegungen, die vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert reichen, eingehendere Betrachtungen: der Bauernbefreiung, den Duldungs- und Gleichstellungsprozessen im konfessionellen Bereich, der Emanzipation der Juden und ihrer erneuten Entrechtung, der Gleichberechtigung der Frau, der positiven Diskriminierung, der neuen Rechtsstellung von Indigenen, sowie schließlich derjenigen von Ausländern in ihrem Verhältnis zu „Staatsbürgern“ (S. 84–110). Wie der Autor im Blick auf die Grundrechte ausführt, „beginnt die große, schließlich überragende Bedeutung der Grundrechte in dem Augenblick, in dem sie einklagbar werden. Dies geschah frühzeitig in den Vereinigten Staaten, viel später in Europa und anderen Teilen der Welt“ (S. 113).

Im Hinblick auf die Internationalisierung von Grundrechten als Menschenrechte nimmt Stourzh zunächst ausführlich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wie sie von der UN-Generalversammlung am 10. November 1948 beschlossen wurde, als das bis in die Gegenwart wichtigste einschlägige Dokument Bezug, danach auf die Europäische Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 sowie die im Anschluss daran erfolgten Institutionalisierungen dieses bedeutendsten bislang existierenden Mechanismus zum internationalen Schutz von Menschenrechten. Der bereits 1777 von Alexander Hamilton geprägte Begriff der repräsentativen Demokratie wird vom Autor im sechsten Abschnitt von Kapitel IV als „isonomes“ Element durch die Kennzeichnung der „politischen Demokratie als politischer Teilhabe“ bestimmt (S. 130). In allen sechs Teilbereichen der isonomen Gleichberechtigungsordnung steht, wie Stourzh im abschließenden Kapitel V ausführt, das Individuum als „Rechtsperson“ im Mittelpunkt. Zwei jener sechs Komponenten sind nach Ansicht des Autors für eine isonome politische und rechtliche Ordnung von besonderer Bedeutung: das Wahl- oder Stimmrecht sowie die der Rechtsperson eingeräumte Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde zu erheben oder sogar gegen den Staat wegen Menschenrechtsverletzungen zu klagen (S. 137f.).

Das vorliegende Werk bietet eine vorzügliche Rekonstruktion der Tendenz einer fortschreitenden Institutionalisierung des für die Geschichte der Neuzeit charakteristischen Verlangens nach individueller Autonomie. Dass jene Tendenz, wie andere auch, über das Ziel hinausschießen kann, ist bekannt; bezeugt wird dies exemplarisch durch die persönlicher Raffgier und ungezügelter Eigennützigkeit geschuldeten Verstöße gegen grundlegende Prinzipien der distributiven und der kommutativen Gerechtigkeit. Das Buch von Stourzh wird durch den Einwand, es mangle ihm an der Berücksichtigung einschlägiger materialer Aspekte der Sozialethik, nicht getroffen. Wie der Autor bereits zu Beginn ausführt, ist die „Gleichheit an Rechten und deren Entwicklung […] das Thema dieser Studie über die moderne Isonomie, nicht die unvergleichlich komplexere, das gesamte soziale Leben umfassende […] Frage nach ,faktischer‘ sozialer Gleichheit und ihren möglichen Ausprägungen“ (S. 16).

Stourzh ist sich, wie er unter anderem in einer im Jahre 2000 erschienenen Abhandlung über die „Begründung und Bedrohung der Menschenrechte in der europäischen Geschichte“ dargelegt hat, der Tatsache bewusst, dass der juristische „Überbau“ des Menschenrechtsschutzes samt seiner institutionellen Abstützung heutzutage der Erosion durch relativistische Denkweisen ausgesetzt ist: durch die Preisgabe des Geltungsanspruchs von Werten und Menschenrechtsnormen unter Hinweis auf deren kulturell bedingtes Gewordensein. Dieser Historismus zieht dann Versuche nach sich, die moralisch-rechtliche Anerkennung für eine bunte „Diversität“ an Einstellungen und Verhaltensweisen durchzusetzen, die angeblich nur aufgrund historisch kontingenter sozialer „Konstruktionen“ und Zuschreibungen noch für deviant gehalten werden. Die bei der Reklamierung recht divergierender „Menschenrechte“ zum Ausdruck kommende Beliebigkeit macht diese zu einem Wieselwort der öffentlichen Agitation und raubt deren ursprünglicher Idee die Dignität.

Im vorliegenden Buch tritt die Erörterung möglicher Bedrohungen der Menschenrechte hinter die historisch-systematischen Analysen des komplexen Gefüges der modernen Isonomie zurück. Diese sind nicht nur rechtshistorisch und rechtspolitisch sehr bedeutsam, sondern bilden als soziogenetische Darlegungen des Zusammenhangs von Ideen, Interessen und Institutionen auch einen eminent wertvollen Beitrag zur historischen Soziologie und zur Rechtssoziologie. Man muss Gerald Stourzh dankbar dafür sein, dass er, in der Tradition der besten Vertreter der europäischen Aufklärung stehend, ein Werk verfasst hat, das durchgehend die moralische Urteilskraft mit der Rationalität der historischen Rekonstruktion vereint und daher auch nie dem Verstand entzieht, was es dem moralischen Gefühl zuspricht.

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