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Titel
Afghan Modern. The History of a Global Nation


Autor(en)
Crews, Robert D.
Erschienen
Cambridge MA 2015: Belknap Press
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
£ 22.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Casula, Historisches Seminar, Universität Zürich

Afghanistan: archaisches und isoliertes Land; endemische Gewalt und pathologische Antimodernität; radikaler Islam und „Grab der Imperien“. Unzählige populäre Publikationen replizieren diese Klischees. Aber auch wissenschaftliche Arbeiten bleiben oft oberflächlich. So steht bei John Griffiths und Stephen Tanner die Geschichte Afghanistans als eine Abfolge von Konflikten im Vordergrund1, während Thomas Barfield und Meredith Runion zwar gute Überblickswerke bieten, aber Afghanistan über lange Zeiträumen betrachten und damit nur skizzenhaft porträtieren.2 Robert D. Crews will mit „Afghan Modern“ zu Recht mit solchen einseitigen oder oberflächlichen Betrachtungen brechen: Er möchte keine konventionelle Geschichte Afghanistans schreiben, die bei den Ursprüngen beginnt und dann eine Abfolge von Ereignissen nacherzählt. Ihn interessiert die Rekonstruktion jener Verbindungen, die hochmobile Afghanen seit Jahrhunderten zu der sie umgebenden Welt geknüpft haben. Warum ist die Suche nach Ursprüngen nicht immer der Königsweg der Geschichte? „Weil es bei solch einer Suche in erster Linie darum geht, das Wesen der Sache zu erfassen, ihre reinste Möglichkeit, ihre in sich gekehrte Identität.“3 Genau auf so einer Ablehnung eines unveränderlichen Wesens Afghanistans fußt Crews seine Arbeit. Er geht nicht „von den Anfängen aus und auf die Gegenwart zu“4, sondern beginnt beim Aktuellen, bei der Globalität Afghanistans, und geht auf deren Anfänge zurück. Crews bricht mit Ursprungs-Kategorien wie „Rasse“ oder „Nation“ und legt den Fokus auf Mobilität und Austausch. Er schreibt keine Geschichte der Nationswerdung oder der „Stämme“ nach. Er beginnt also nicht wie beispielsweise Habibo Brechna bei den „Ariern“5, sondern thematisch bei den „Imperialen Kosmopoliten“ Afghanistans des 15. Jahrhunderts. Gekonnt schüttelt Crews damit alle Vorstellungen über ein rückständiges Afghanistan ab. Es entsteht das facettenreiche Bild eines seit langem modernen, vernetzten Raums, der zu verschiedenen historischen Zeitpunkten auf verschiedene Arten „global“ war.

Globalism ist der Schlüsselbegriff des Buches, der im Deutschen am ehesten im Beck'schen Zustandsbegriff der Globalität seine Entsprechung findet.6 Denn Globalism bezeichnet bei Crews zweierlei (S. 2): Erstens ein hohes Ausmaß an physischer Mobilität, die Afghanen schon immer ausgezeichnet hat. Crews betont wiederholt die wichtige Rolle, welche die afghanische Diaspora und die Zirkulation von Exilanten gespielt haben. Globalism bezeichnet, zweitens, alle Formen der „Hyperkonnektivität“ (S. 301) und verweist auf ein Afghanistan, das schon immer Kreuzungspunkt globaler Ströme und Flüsse war, von Menschen, Waren und Ideen. Diese Globalität spürt Crews im ersten und zweiten Kapitel in der imperialen Vergangenheit Afghanistans auf. Kapitel 3 beschreibt, wie der afghanische Staat versucht hat, „Körper“ für die eigenen modernisierenden Projekte nutzbar zu machen. Kapitel 4 beschreibt das Afghanistan des frühen 20. Jahrhunderts als Zentrum von Modernisierungsbewegungen. Dabei propagierten afghanische Intellektuelle auch eine „progressive Religiosität“ (S. 124), sahen im Islam kein Modernisierungshindernis und vertraten damit Positionen zum Verhältnis Staat-Religion wie zuvor westliche Denker, zum Beispiel Alexis de Tocqueville.7 Im fünften Kapitel hebt Crews hervor, wie das sich ausbreitende globale Finanzsystem in den 1930er-Jahren auch Afghanistan erfasste. Gleichzeitig versuchte der afghanische Staat, eine nationale Identität zu schaffen, die sich in ein System konkurrierender Nationalismen einfügen konnte. Kapitel 6 situiert Afghanistan als Austragungsort einer wachsenden Rivalität zwischen den Supermächten. Es waren besonders die USA, die anfangs wichtigster Partner Afghanistans waren. Das Land wurde zeitgleich auch zum Touristenziel (S. 191) und nahm an verschiedenen internationalen Strömungen teil, einschließlich der 1968er Studentenbewegung (S. 204–207). Afghanen wurden zu „Konsumenten internationaler Trends in Musik, Literatur und Kino und übernahmen die neusten westlichen Frisuren und Moden“ (S. 208). In Kapitel 7 distanziert sich Crews explizit von der verbreiteten Vorstellung, dass revolutionäre Afghanistan der späten 1970er-Jahre sei ein rein sowjetisches Projekt gewesen (S. 233). Crews betont dagegen den genuin afghanischen Impetus zur sozialen Transformation nach 1978. Er betrachtet die 1980er-Jahre als gekennzeichnet durch eine völlige Entgrenzung der afghanischen Politik (S. 232). Das letzte Kapitel stellt Afghanistan als „At the center of humanity“ vor: Crews erklärt unter anderem, wie die westliche Besatzung nach 2001 das Land in neue globale Ströme integrierte.

Das Buch von Robert Crews liefert einen außergewöhnlich lesenswerten Beitrag zur Erforschung Afghanistans. Anders als viele der genannten Standardwerke verfolgt „Afghan Modern“ konsequent eine präzise Fragestellung: Was hat Afghanistan immer wieder zu einer in globale Flüsse und Ströme eingebundenen Nation gemacht? Damit hat das Buch auf den ersten Blick Schnittmengen zur Arbeit von Robert Nichols8, geht aber klar darüber hinaus. Das Kapitel über die 1980er-Jahre ist vielleicht am emblematischsten für den von Robert Crews verfolgten Ansatz. Bezeichnenderweise erfahren die Leser in diesem Abschnitt nur wenig über die sowjetische Besatzung Afghanistans. Stattdessen eröffnet Crews die komplexen Beziehungen zwischen den Mudschahedin und den afghanischen Flüchtlingen in Pakistan, er beschreibt die Anwerbung von Kämpfern im Ausland und zeigt, wie die USA viel Energie aufwendeten, um einen militant-religiös unterfütterten Widerstand materiell und ideologisch zu fördern (S. 254–259). In der immer wieder auftauchenden Diskussion über die Rolle feministischer Ziele erklärt Crews, wie diese in unterschiedlichen Epochen von verschiedenen Akteuren instrumentalisiert wurden.9

Nicht immer klar ist die Unterscheidung zwischen Modernität und Globalism. Die starke Betonung der Globalität Afghanistans würde „Afghan Global“ zu einem brauchbaren alternativen Titel machen. Dass Crews letztlich beide Begriffe nicht synonym verwendet, zeigt sich aber bereits in den ersten Kapiteln des Buches, die nicht das Bild eines modernen, wohl aber eines vernetzten Raums zeichnen. Auch im letzten Kapitel argumentiert Crews, dass die Taliban in vielerlei Hinsicht als Feind der modernen Welt erscheinen (S. 277) aber zugleich eigene Formen von Globalism vertraten (S. 278), die sich beispielsweise in der Suche nach Anschluss zur muslimischen Welt sowie im Bemühen um Anerkennung durch die Staatengemeinschaft äußerten. Es ist vielleicht besonders Afghanistans Globalism, die es dem Land erlaubt hat, Teil der modernen Welt zu werden. Eine zweite, offensichtliche Schwierigkeit in diesem Zusammenhang ist, dass Crews zwar überzeugende Argumente dafür liefert, Afghanistan als in globale Ströme eingebunden zu sehen, oft aber scheint sich diese Inklusion Afghanistans auf bestimmte Orte zu beschränken. Im 15. Jahrhundert waren dies Kandahar oder Herat, heute besonders der Flughafen in Bagram mit seinen 20.000 „Expats“ aus der ganzen Welt (S. 284). Die Globalität Afghanistans erfasste Land und Bevölkerung immer graduell, was Crews nur sporadisch andeutet (z.B. S. 228). Globalität beschränkt sich aber auch auf bestimmte Gruppen, wie Intellektuelle oder die schiitische Minderheit. Letztere war beispielsweise in ein internationales Netzwerk von schiitischen Geistlichen und Gelehrten eingebunden (S. 293). Es geht bei Crews also nicht einfach nur um eine „westliche“, „weiße“ oder „neoliberale“ Globalität. Crews zeigt überzeugend auf, dass sich afghanische Intellektuelle immer wieder als Träger universeller Ideen gesehen haben, darunter Pan-Islamismus (S. 129), universal humanity (S. 138), Anti-Kolonialismus (183ff., S. 237f.) sowie „Fortschritt und Aufklärung“ (S. 232). Modernität und Globalität scheinen dabei oft als Reaktion aufzutreten, zumindest im „Atomic age“, als das Land von ausländischen Kapital, Experten, Ideen und Diaspora-Rückkehrern „überrannt“ (S. 217) wurde. Hier hätte Crews vielleicht auch an die Diskussion über multiple oder verwobene Modernen anschließen können, um Spezifik und Nicht-Linearität der Modernisierung sowie die „koloniale Differenz“ in der afghanischen Moderne weiter zu betonen.10 Sprachlich ist das Buch flüssig und gut lesbar geschrieben. Crews stützt sich auf eine große Vielfalt von Quellen in verschiedenen Sprachen. Ihm gelingt, die Geschichte Afghanistans vom 15. Jahrhundert bis heute unter einem wesentlichen, bisher unterbelichteten Gesichtspunkt zu erfassen und in ein neues Licht zu stellen: nicht mehr als vergessener und verwunschener Gewaltraum, sondern als Teil eines globalen Netzwerkes, als Träger einer Globalität, die Afghanistan „mit unserem eigenen modernen Zustand“ verbinden (S. 307, S. 311).

Anmerkungen:
1 John Griffiths, Afghanistan. Land of Conflict and Beauty, London 2009; Stephen Tanner, Afghanistan. A Military History, Philadelphia 2009.
2 Thomas Barfield, Afghanistan. A Cultural and Political History, Princeton 2010; Meredith L. Runion, The History of Afghanistan, Westport 2007.
3 Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Daniel Defert, Michel Foucault, Dits et Ecrits, Bd. 2, 1970–1975, Frankfurt am Main 2002, S. 166–191, hier S. 168.
4 Georges Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt 1979, S. 12.
5 Habibo Brechna, Die Geschichte Afghanistans, Zürich 2012.
6 Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt am Main 1997.
7 Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, Vol. II. Paris 1990, S. 34.
8 Robert Nichols, A History of Pashtun Migration, 1775–2006, Oxford 2008.
9 Lila Abu-Lughod, Do Muslim Women Really Need Saving?, in: American Anthropologist 3 (2002), S. 783–790.
10 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 1 (2000), S. 1–29; Shalini Randeria, Verwobene Moderne, in: Soziale Welt 15 (2004), S. 155–178, hier S. 156.

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