T. Winkelbauer (Hrsg.): Geschichte Österreichs

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Titel
Geschichte Österreichs.


Autor(en)
Lackner, Christian; Mazohl, Brigitte; Pohl, Walter; Rathkolb, Oliver; Winkelbauer, Thomas
Herausgeber
Winkelbauer, Thomas
Erschienen
Stuttgart 2015: Reclam
Anzahl Seiten
647 S.
Preis
€ 38,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carlo Moos, Universität Zürich

Der starke Sammelband mit rund 600 Seiten Text weckt Erwartungen, die er angesichts der zeitlichen Breite des Themas und der inhaltlichen Ausrichtung der einzelnen Teile kaum für alle Leserinnen und Leser erfüllen wird. Ziel ist, wie der Umschlagtext formuliert, eine Gesamtdarstellung der Geschichte Österreichs als multiperspektivische Raum-Geschichte, und da erweist sich bereits ein erstes Problem, weil sich der angepeilte geographische und politische Raum im Verlauf seiner Geschichte ständig veränderte: während Jahrhunderten als immer grösser und vielseitiger werdendes Völkerkonglomerat, das in der Folge in wesentlich kürzerer Zeit schrumpfte und zuletzt abrupt auf das Gebiet der heutigen Republik dieses Namens reduziert wurde. Der Herausgeber, Thomas Winkelbauer, stellt sich einleitend sehr gekonnt dem Problem des Österreichbegriffs mit seinen (bis 1918) drei Bedeutungsebenen als Kronland, Cisleithanien und Gesamtmonarchie, und ebenso der Frage nach dem räumlichen Umfang der österreichischen Geschichte, für die er von Betrachtungen Gerald Stourzh’ von 1991 ausgeht1 und sie bis zu Arno Strohmeyer und seiner „multiperspektivischen Raumgeschichte“ von 2008 fortführt.2 Zu Recht kann gerade in dieser Hinsicht gesagt werden, dass jede „Geschichte Österreichs“ letzten Endes ein Konstrukt sei (S. 31) bzw. gemäß Arno Strohmeyer diskursiv konstruiert wird.3

Laut Vorwort wird im vorliegenden Band unter Österreich für die Zeit vor 1918 in etwa jener Raum verstanden, der von einem oder mehreren der in der heutigen Republik gelegenen politischen, ökonomischen und kulturellen Zentren aus beherrscht oder beeinflusst wurde, wobei eingeräumt wird, dass das Buch für den Zeitraum 1526–1918 durchaus als Versuch einer problemorientierten Geschichte der Habsburgermonarchie gelesen werden könnte, deren Schwerpunkt aber auch hier auf den österreichischen Ländern im engeren Sinne liege (S. 12f.).

In verschiedenen ungleich zusammengesetzten Blöcken, auf die hier nur höchst sporadisch eingegangen werden kann, werden auf der Zeitachse zunächst das römische und frühmittelalterliche (Walter Pohl, 15 v. Chr. bis 907) sowie das hoch- und spätmittelalterliche Österreich (Christian Lackner, 907 bis 1278 und 1278 bis 1519) behandelt, wo mit dem Werden der Länder die föderale Struktur der heutigen Republik wurzelt (S. 76) und sich dem Haus Österreich mit der burgundischen Ehe Maximilians I. zuletzt eine neue politische Welt auftat, die Europa veränderte (S. 152). Darauf folgt die frühneuzeitliche Habsburgermonarchie (Thomas Winkelbauer, 1519 bis 1740) mit ihren durch Personalunion verbundenen Länderkonglomeraten als eine „aus zusammengesetzten Monarchien zusammengesetzte Monarchie“ (S. 161) und mit der Pragmatischen Sanktion von 1713 als Grundgesetz bis 1918 (S. 195). Der Weg längs der Zeitachse setzt sich fort mit der in drei Teilen (1740 bis 1815, 1815 bis 1848/49 und 1848 bis 1918) von Brigitte Mazohl präsentierten Monarchie der Neuzeit mit ihrer bis heute als großes Reformzeitalter geltenden Epoche Maria Theresias und Josephs II., die trotzdem ein nur durch die Dynastie zusammengehaltenes Kompositum blieb (S. 322); sodann mit dem im europäischen Vergleich industriell verspäteten Vormärz-Österreich (S. 377) sowie mit ihrem angesichts der Völkervielfalt immer virulenter werdenden Gegensatz zum Leitprinzip des 19. Jahrhundert im ethnisch homogenen Nationalstaat (S. 395) und mit Parteien, die sich im Abgeordnetenhaus als Vertreter der Nationalitäten verstanden (S. 424). Schließlich problematisiert Oliver Rathkolb Österreich als Republik, deren erste, ein „Staat wider Willen“, auf die Anfänge, das „Wendejahr“ 1927, den zweifachen Bürgerkrieg 1934, das austrofaschistische Regime und sein Verschwinden im Dritten Reich (mit einer unseligen Coda seit 1986) zentriert wird, während bei der zweiten den politischen Lagern und ihrer Erosion sowie den Kanzlern gefolgt und weiter auf den Staatsvertrag, die Neutralität, das Wirtschaftswunder und die Kulturgroßmacht Wert gelegt wird, die selbst dann Erfolg liebt, wenn er wie bei Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek auf Österreich-Kritik beruht (S. 587).

Während sich die zeitlich früheren Teile des Werks um territoriale und dynastische Fragen drehen, sind die späteren vornehmlich struktur-, diplomatie- und in Teilen militärgeschichtlich ausgerichtet, aber (mit Ausnahme bei Oliver Rathkolb) weniger wirtschafts- und sozialgeschichtlich und (mit Ausnahme von Brigitte Mazohl) erstaunlich wenig kulturgeschichtlich.

Grundsätzlich liefert der in allen seinen Partien, die jeweils mit einem Epochenüberblick und Datenreihen beginnen, einheitlich gegliederte Band die Informationen, die man von einer „Überblicksdarstellung der Geschichte Österreichs vom Frühmittelalter bis ins 21. Jahrhundert“ (S. 28f.) erwartet, wenngleich sie unterschiedlich präsentiert werden. Auf je eigene Weise sind aber alle Beiträge inhaltlich einleuchtend und gut lesbar und bewegen sich dort, wo ich es beurteilen kann, auch auf dem Stand der Forschung. Rundum überzeugend wirken vor allem die drei von Brigitte Mazohl sehr differenziert verfassten Kapitel zur Habsburgermonarchie zwischen 1740 und 1918 durch ihre inhaltlich Dichte und argumentative Stringenz. Sie gipfeln meines Erachtens zu recht im Schluss, dass es „letztlich die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg war, die einem möglicherweise kranken, aber nicht unheilbaren System den Todesstoß versetzt hat“ (S. 425), was aus wirtschaftshistorischer Sicht ebenfalls zutrifft (S. 461). Nicht ganz nachvollziehbar erscheint demgegenüber der Mitte Januar 2016 in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ erschienene Verriss des Beitrags von Oliver Rathkolb4, worin sich meines Erachtens eine nur bedingt in die Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Buch passende Aversion ihres Verfassers gegen das von Rathkolb prominent vertretene Projekt „Haus der Geschichte Österreichs“ ausspricht.

Ein kleiner Vorbehalt gegenüber dem an sich gut gelungenen Sammelband soll abschließend insofern formuliert werden, als nicht ersichtlich wird, für welche Leserschaft das Buch letztlich intendiert war. Zwar formuliert das Vorwort zu dieser (mit 647 Seiten!) „handlichen“ Geschichte Österreichs als Zweck, eine von Fachleuten verfasste und ohne spezielle Vorkenntnisse verständliche Überblicksdarstellung sein zu wollen (S. 13), doch fehlt für ein Wissenschaftspublikum jedenfalls der Apparat, der durch breite Literaturhinweise am Ende des Bandes nicht aufgewogen wird, während das Werk als Einführung für eine allgemeiner interessierte Leserschaft eher zu umfangreich, zu spezialisiert und oft zu detailreich sein dürfte.

Anmerkungen:
1 Jetzt in: Gerald Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, (Studien zu Politik und Verwaltung 99) Wien 2011, S. 11–36.
2 Arno Strohmeyer, „Österreichische“ Geschichte der Neuzeit als multiperspektivische Raumgeschichte: ein Versuch, in: Martin Scheutz, Arno Strohmeyer (Hrsg.), Was heißt „österreichische“ Geschichte? Probleme, Perspektiven und Räume der Neuzeitforschung, Innsbruck 2008, S. 167–197.
3 Strohmeyer, Raumgeschichte, S. 186.
4 „Ein Land ohne Länder?“, in: Die Presse 16.01.2016.

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