S. Karner u.a. (Hrsg.): Der Kreml und die Wiedervereinigung

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Titel
Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990. Interne sowjetische Analysen


Herausgeber
Karner, Stefan; Kramer, Mark; Ruggenthaler, Peter; Wilke, Manfred
Reihe
Kriegsfolgenforschung, Sonderband 16
Erschienen
Berlin 2015: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Abt. Bildung und Forschung, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU), Berlin

Die überraschende deutsche Wiedervereinigung ist seit Jahren ein zentrales Thema der zeithistorischen Forschung in Deutschland, aber auch in den USA, England, Frankreich, Russland oder Polen. Mit der Vereinigung öffneten sich die Türen für ein neues Europa und eine völlig veränderte Weltlage. Diese Veränderungen sind auch in unserer Gegenwart seismologisch heftig zu verzeichnen, wie ein täglicher Blick in die Nachrichtenlage andeutet. Die Welt ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur enger zusammengerückt, die Interdependenzen sind auch deutlicher wahrnehmbar als noch in früheren Zeiten. Die seit einigen Jahren in der Forschung debattierte Frage, inwiefern „1989“ überhaupt eine so starke Zäsur darstellt wie damals gemeinhin angenommen und ob die Umbrüche im sowjetischen Machtbereich nicht vielmehr Ausdruck eines längeren, in den frühen 1970er-Jahren einsetzenden Paradigmenwechsels darstellten, wird die wissenschaftlichen Debatten wohl noch lange beschäftigen. Inwiefern sie dabei allerdings die Diplomatie- und die Geschichte der internationalen Beziehungen tangieren, scheint gegenwärtig noch offen. Denn zumindest für den Ost-West-Konflikt bleibt „1989“ fraglos ein Fixpunkt.

Den Überblick über den Forschungsstand zu behalten, fällt mittlerweile ebenso schwer wie es kaum noch zu zählende wissenschaftliche Monographien, Aufsätze, Erinnerungsberichte und nicht zuletzt Dokumenteneditionen gibt. Und dennoch erscheinen fast regelmäßig neue Werke, die zumeist neue Aktenfunde präsentieren und fast folgerichtig behaupten, ganz neue Einblicke in jene nationalen und internationalen Zusammenhänge zu bieten, die die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ermöglichten. Auch der hier vorzustellende Band bildet da keine Ausnahme. Unter der Herausgeberschaft von nicht weniger als elf Personen aus vier Staaten versammelt der Band – wie schon sein Vorgänger1 – 41 Dokumente russischer Provenienz aus dem Zeittraum vom 12. November 1989 bis 20. Februar 1991. Darunter befinden sich Botschaftsberichte, Reden, Gesprächsniederschriften, Berichte aus dem ZK der KPdSU, Aufzeichnungen von Telefongesprächen oder auch Tagebucheinträge eines engen Mitarbeiters des sowjetischen Außenministers. Die Dokumente sind interessant und ergänzen bisherige Editionen mit Schriftstücken anderer Provenienzen aus anderen Staaten. Dass sich der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi und der PDS-Ehrenvorsitzende Hans Modrow nur wenige Tage vor dem 3. Oktober 1990 an KPdSU-Chef Michail S. Gorbatschow wandten und ihn eindringlich unter Berufung auf „die Ereignisse 1933, 1939 und 1941“ (S. 324) baten, im „humanistischen Sinne auf den weiteren Gang der Dinge in Deutschland Einfluss zu nehmen“ (S. 325), damit sich so etwas wie 1933ff. nicht wiederhole, zeigt einmal mehr, in welchen Perzeptionen die SED / PDS 1990 noch herumschwamm. Solche und andere Dokumente, die überwiegend die internationalen Entwicklungen beleuchten, sind interessant, aber vom Grundsatz her bereits bekannt gewesen.

Auch diese Edition erfüllt nur mit einer gewissen Großzügigkeit wissenschaftliche Standards: die Auswahlkriterien werden nicht benannt und bleiben unklar; eine wissenschaftliche Kommentierung erfolgt praktisch nicht; beides zusammen genommen lässt den Eindruck einer gewissen Willkür bei der Dokumentenauswahl entstehen.

Die ausführliche Einleitung (S. 13–108) von Stefan Karner, Mark Kramer, Olga Pawlenko, Peter Ruggenthaler und Manfred Wilke bietet allerdings einen souveränen Überblick über die internationalen Rahmenbedingungen, die zur deutschen Einheit führten. Im Zentrum des Aufsatzes, der theoretisch weitgehend dem Diktum folgt, „große Männer machen Geschichte“, steht die „Beweisführung“, dass nach Aktenlage mit der Sowjetunion und mit Gorbatschow nicht vereinbart worden sei, dass die NATO sich nicht nach Osten ausweite. Diese Argumentation der Autoren fällt überzeugend aus, auch wenn sie längst nicht die ersten sind, die das zeigen konnten. Hervorzuheben ist vor allem, dass die Verfasser die inneren Auseinandersetzungen im sowjetischen Machgefüge herausstellen. Dass sie dabei nicht frei von Geschichtspolitik agieren, zeigen einzelne Passagen, in denen sie Gorbatschow ebenso wie Helmut Kohl oder andere Politiker überhöhen und zugleich andere Player mit offenkundiger geschichtspolitischer Absicht abwerten. Für einen wissenschaftlichen Band muten die beigefügten Fotos vieler „großer Männer“ antiquiert und eigentlich peinlich an, zumal die (zum Teil unvollständigen) Bildunterschriften dies noch bekräftigen. Auch im Text finden sich eine Reihe von fehlerhaften Darstellungen, etwa wenn die DDR-Volkskammer im Dezember 1989 als reaktionsbereit (S. 33) dargestellt wird oder völlig an der Realität vorbeizielend behauptet wird, die Blockparteien CDU und LDPD hätten für die Streichung von Artikel 1 aus der DDR-Verfassung gesorgt (S. 53). Auch dass sich im Vorfeld der Volkskammerwahl nur zwei Lager gegenübergestanden hätten, die von Hans Modrow einerseits und der „Allianz für Deutschland“ andererseits repräsentiert worden seien, ist historisch viel zu undifferenziert. Methodisch gebe es manches zu kritisieren, so wenn Richard von Weizsäcker und Hans-Dietrich Genscher attestiert wird, sie wären gegen die Einheit nach Artikel 23 GG gewesen und als Quelle dafür die Erinnerungen von Kohl angegeben werden oder der Runde Tisch angeblich an einem Tag (19.10.) Beschlüsse fasste, an dem es ihn definitiv nicht gab (gemeint ist der 19.2.). Trotz solcher Mängel aber bietet diese Einführung einen raschen Einstieg in außenpolitische Zusammenhänge, die die deutsche Einheit möglich machten.

Insgesamt bleibt auch bei diesem Band ein zwiespältiger Eindruck, der vor allem durch fehlende editorisch-wissenschaftliche Sorgfalt und unklare Auswahlkriterien hervorgerufen wird, während die historische Hinführung vor allem für Einsteiger ins Thema geeignet ist. Der Band könnte sich zudem gut als Lehrmaterial erweisen, weil er auch ein Anschauungsstück dafür bietet, wie unzureichend wissenschaftliche Editionen ausfallen können. Das könnte für die Stärkung des Methodenbewusstseins bei Studierenden und Nachwuchswissenschaftler/innen noch als unverhoffter Nebeneffekt wirken.

Anmerkung:
1 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Rezension zu: Stefan Karner / Mark Kramer / Peter Ruggenthaler / Manfred Wilke / Alexander Bezborodov u.a. (Hrsg.), Der Kreml und die "Wende" 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente, Innsbruck 2014, in: H-Soz-Kult, 26.03.2015, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23467> (24.02.2016).

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