N. Kleinöder: Unternehmen und Sicherheit

Cover
Titel
Unternehmen und Sicherheit. Strukturen, Akteure und Verflechtungsprozesse im betrieblichen Arbeitsschutz der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie nach 1945


Autor(en)
Kleinöder, Nina
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte 234
Erschienen
Stuttgart 2015: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
384 S., 28 s/w Abb., 30 s/w Tab.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Bluma, Forschungsbereich Bergbaugeschichte, Deutsches Bergbau-Museum Bochum

Nach einem Boom in den 1980er-Jahren erhält die Geschichte der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes in der Geschichtswissenschaft erst seit einigen Jahren wieder eine verstärkte Aufmerksamkeit. Insbesondere in der Wissenschafts-, Technik-, Medizin- und Kulturgeschichte gibt es eine auch international bemerkbare erneute Hinwendung zu Fragen der historischen Formierung und Dynamik unterschiedlicher Arbeitssicherheitsregime und Präventionskulturen. Die vorliegende Dissertationsschrift von Nina Kleinöder zum Arbeitsschutz in der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie nach 1945 knüpft jedoch weniger an diese aktuellen Forschungsarbeiten an, sondern bettet den Arbeitsschutz konsequent in eine unternehmenshistorische Perspektive ein und, das sei vorweggenommen, bietet damit eine innovative methodische und inhaltliche Neujustierung. Zwar war die Arbeitsschutzgeschichte in der Unternehmensgeschichte durchaus präsent, zumal in den Arbeiten zu der auch von Nina Kleinöder untersuchten Eisen- und Stahlindustrie, jedoch war dies selten ein eigenständiger Untersuchungsgegenstand, sondern wurde überwiegend nur als ein Teilaspekt bzw. als ein Sekundärphänomen angesehen, welcher exemplarisch über die Gestaltung der sozialen Beziehungen in Unternehmen Auskunft geben konnte. Eigenständige Arbeiten zur Geschichte der industriellen Risiken und deren Bewältigung lassen sich dementsprechend in der Unternehmensgeschichte auch jenseits der Stahlindustrie kaum finden. Dieses Desiderat geht Nina Kleinöder mit einer originellen Fragestellung und entsprechenden Methoden an.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut. Das kurze, überblicksartige Auftaktkapitel fasst die Anfänge des modernen Arbeitsschutzes in der Stahlindustrie zwischen 1920 und 1945 zusammen. Die ständig steigenden Unfallzahlen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhöhten für die Stahlunternehmen den Druck, aktive Maßnahmen gegen Unfallursachen zu ergreifen, da Unfälle spätestens seit den 1920er-Jahren immer mehr als Kostenfaktor wahrgenommen wurden. Zudem befürchteten die Stahlproduzenten weitreichende Eingriffe des Staates, die die montanindustrielle „Herr-im-Hause-Mentalität“ und den gegenüber den Arbeitern seit dem 19. Jahrhundert gepflegten autoritären Paternalismus bedrohten. Zusammen mit der Hinwendung zu rationalen Methoden der Betriebsführung legte dies den Grundstein für eine wissenschaftliche und statistische Betrachtung des Unfallgeschehens. Der Arbeitsschutz in der deutschen Stahlindustrie vor 1945 ist insbesondere durch die Aktivitäten der sogenannten Sicherheitsingenieure geprägt, die eine systematische und kontinuierliche Sicherheitsarbeit in den Stahlunternehmen sicherstellten. Als zentrale Koordinierungsstelle für Unfallsicherheitsfragen wurden Zentralstellen für Unfallschutz in den Unternehmen eingerichtet, die nicht nur innerbetrieblich wirkten, sondern auch wichtige Scharnierfunktionen gegenüber Gewerbeaufsicht und Berufsgenossenschaft übernahmen. Die Arbeiterschaft sollte über Unfallvertrauensleute in die unternehmerischen Unfallschutzmaßnahmen integriert werden, was allerdings in der Belegschaft nicht immer Anklang fand, da die Kontroll- und Disziplinierungsfunktion dieser Positionen durchaus kritisch gesehen wurde. Parallel dazu entwickelte sich die Unfallverhütungspropaganda, die sich zum Teil stark an amerikanischen Vorbildern orientierte und vor allem Werkszeitschriften und Unfallverhütungsfilme als Medien nutzte.

Der Schwerpunkt der Arbeit von Nina Kleinöder liegt jedoch in der Nachkriegszeit, wobei sie insbesondere nachhaltige Veränderungen im Arbeitsschutz, aber auch betriebliche Traditionslinien im Hinblick auf die Funktion der Sicherheitsingenieure und der Vertrauensleute im Blick hat sowie die Rolle der betrieblichen Kostenfrage und der Unfallverhütungswerbung beleuchtet. Die Forschungslage zum vorhergehenden Zeitabschnitt kann als gut gelten, so dass die weitere Schwerpunktsetzung der Untersuchung auf die Nachkriegsjahre forschungsstrategisch nachvollziehbar ist. Die 1950er- und 1960er-Jahre werden von Nina Kleinöder als eine Phase inner- und überbetrieblicher Verflechtung beschrieben, in der sich ein „Unfallnetzwerk“ innerhalb der Stahlbranche etablierte, welches sukzessive um Wirtschafts- und Fachverbände sowie die IG Metall erweitert wurde.

Mit systematischen Programmen zum Arbeitsschutz in der Stahlindustrie, die durch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) seit dem Ende der 1950er-Jahre durchgeführt wurden, trat zudem eine Europäisierung und Internationalisierung der Verflechtung ein, die sich in der Gründung des Unterausschusses Arbeitssicherheit in der Eisen- und Stahlindustrie bei der EGKS 1958 manifestierte. Auch auf europäischer Ebene stand dabei nicht immer das Wohl der Stahlarbeiter im Vordergrund. Die Angleichung einheitlicher Schutzvorschriften diente vielmehr der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen. Die EGKS war jedoch ein entscheidender Motor für die Etablierung einer europäischen Gemeinschaftsforschung in der europäischen Stahlindustrie zu Arbeitsschutzfragen. Auch inhaltlich konnte sie einige Wegmarken setzen, so zum Beispiel durch Projekte zur Erforschung der psychischen Belastung der Arbeitnehmer, die durch die Verdichtung und Rationalisierung der Arbeit stieg. Die Professionalisierung der Sicherheitsingenieure durch diese betriebliche, branchenübergreifende und internationale Verflechtung nahm dabei kontinuierlich zu. Insbesondere der Erfahrungsaustausch der Akteure über differenzierte Unfallanalysen, konkrete Arbeitsschutzmaßnahmen in einzelnen Betrieben und die statistische Auswertung des Unfallgeschehens gewann seit den 1950er-Jahren weiter an Bedeutung. Dieser Verflechtungsprozess ermöglichte es den Stahlunternehmen, staatliche Regulierungen des Arbeitsschutzes zu beeinflussen, teilweise sogar zu verhindern.

Bis in die 1960er-Jahre hinein konstatiert Nina Kleinöder das Vorherrschen einer reaktiven Unfallverhütung, die vor allem auf Repression und Abschreckung gegenüber der Belegschaft gründete. Auch wenn sich viele Traditionslinien des Arbeitsschutzes bis in die 1980er-Jahre verfolgen lassen, ist die Verschiebung der reaktiven auf die präventive Unfallverhütung in den 1970er-Jahren als klarer Bruch im Unfallschutz der westdeutschen Stahlindustrie auszumachen. Aus dem Arbeitsschutz entwickelte sich somit immer mehr eine wissenschaftlich fundierte, unternehmerische Risikoregulierung. Dies war einerseits technisch-organisatorischen Wandlungsprozessen der Stahlbranche selbst geschuldet – zu nennen wären hier Technisierung, Automatisierung und Zentralisierung – aber auch einem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel bezüglich der Einstellung zu Arbeit und Gesundheit. Die Stahlunternehmen partizipierten hier an einem gesamtgesellschaftlichen Trend, der den betrieblichen Paternalismus in Frage stellte, neue Themen in die Arbeitsschutzdiskussion einschleuste (Umwelt, Ergonomie usw.) und neue Strategien des Gesundheitsschutzes notwendig machte (Individualisierung der Gesundheitsvorsorge, Eigenverantwortung der Mitarbeiter). Durch die starke Mitbestimmung konnten gesellschaftliche Diskussionen wie zum Beispiel zur Humanisierung der Arbeitswelt über die Betriebsräte und Gewerkschaft in der Stahlindustrie viel mehr Wirkung entfalten als in anderen Industriebranchen.

Insgesamt bleibt das Urteil von Nina Kleinöder gegenüber diesen ökonomischen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen der 1970er-Jahre bezüglich des betrieblichen Arbeitsschutzes in der Stahlindustrie jedoch zwiespältig. Zwar sieht sie eine deutliche Zäsur, aber keinen fundamentalen Paradigmenwechsel, wie er für andere gesellschaftliche Bereiche von den Vertretern der Strukturbruchthese für die 1970er-Jahre angenommen wird. Nina Kleinöders Dissertationsschrift fügt damit also der zeithistorischen Debatte über die Charakterisierung der 1970er-Jahre eine wichtige (weil differenzierende) Perspektive hinzu. In der gesamten Arbeit scheinen immer wieder die lang wirkenden Kontinuitäts- und Traditionslinien des Arbeitsschutzes in der Stahlindustrie auf. Den Arbeitsschutz als Geschichte zunehmender Verflechtung zu beschreiben und die Unternehmen in den Vordergrund der Untersuchung zu rücken, bricht manche einseitige Perspektive auf. Das gilt insbesondere für antagonistische Lesarten der Sozial-, Wirtschafts- und Unternehmensgeschichtsschreibung. Demgegenüber macht Nina Kleinöder die kooperative Verflechtung staatlicher, gesellschaftlicher und unternehmerischer Akteure stark, die den westdeutschen (oder rheinischen) Kapitalismus insgesamt nachhaltig prägten.

Methodisch findet die von Nina Kleinöder durchgeführte Verflechtungsanalyse ihre Grenzen, wenn nicht nur die Rolle des Ausschuss- und Kommissionswesens als strukturprägend angesehen wird, sondern auch die Rolle informeller Netzwerke beleuchtet werden soll. Gerade für die westdeutsche Montanindustrie dürften letztere insbesondere im Hinblick auf politische Einflussnahmen nicht ganz unwesentlich gewesen sein. Um hierüber Auskunft geben zu können, fehlte es aber vielleicht einfach an entsprechenden, nur schwer zu beschaffenden, weil oftmals nicht in der offiziellen Überlieferung hinterlegten Quellen. Auch wenn die Arbeit ein wenig an Kompaktheit und Stringenz verloren hätte, wären manch vergleichende Exkurse zum Beispiel zum stark mit der Stahlbranche verflochtenen Steinkohlenbergbau wünschenswert gewesen; zumal für diesen Sektor durchaus aktuelle Forschungsarbeiten zur Geschichte des Arbeits- und Gesundheitsschutzes vorliegen. Das Lesevergnügen wird durch die kleingliedrige Kapiteleinteilung etwas gestört; ansonsten ist die Darstellung erfreulich nachvollziehbar und souverän. Ausgewählte Statistiken und Organigramme ergänzen die Ausführungen sinnvoll in einem Anhang.

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