A. Löffler u.a. (Hrsg.): Legitur in necrologio victorino

Cover
Titel
Legitur in necrologio victorino. Studien zum Nekrolog von Sankt Viktor


Herausgeber
Löffler, Anette; Gebert, Björn
Reihe
Corpus Victorinum. Instrumenta 7
Erschienen
Münster 2015: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Hugener, Zürich

Am Anfang der Memoriaforschung standen die Erschließung und Auswertung der mittelalterlichen Gedenküberlieferung, insbesondere der früh- bis hochmittelalterlichen Verbrüderungsbücher und Nekrologien. Nachdem das Stichwort ‚Memoria‘ in den vergangenen Jahrzehnten auf immer weitere Überlieferungsformen und Themenbereiche ausgeweitet worden ist, wendet sich eine neue Generation von Forschenden nun wieder verstärkt der materiellen Grundlage des liturgischen Gedenkens zu.

Ausdruck dieser neuerlich intensivierten Beschäftigung mit dem Substrat des mittelalterlichen Totengedenkens ist unter anderem die 2012 publizierte Edition des Nekrologs des Augustiner-Chorherrenstifts Saint-Victor in Paris.1 Neben der Edition in konventioneller Buchform hat das Hugo von Sankt Viktor-Institut in Frankfurt eine Online-Datenbank erarbeitet, mit der sich die Inhalte des Nekrologs sowie weiterführende prosopographische Angaben zu den verzeichneten Personen bequem abfragen lassen.2 ‚Gefeiert‘ wird der Abschluss dieses langjährigen Projekts mit dem nun vorliegenden Sammelband, in dem Forschende aus mehreren Ländern ausloten, welche Erkenntnismöglichkeiten sich bei der Beschäftigung mit dem edierten Nekrolog bieten. Aufgenommen wurden Beiträge in deutscher, französischer und englischer Sprache.

Der Band ist thematisch gegliedert: Im ersten Teil wird das Nekrolog als Quelle und Forschungsgegenstand betrachtet, im zweiten die Frühzeit der Abtei beleuchtet; im dritten Teil erfolgen personengeschichtliche Auswertungen zu Amtsträgern und Religiosen, und der vierte Teil ist Gütertransaktionen, Schenkungs- und Stiftungsvorgängen gewidmet. In der Einleitung stellt die Herausgeberin das Nekrolog kurz vor und lädt dazu ein, die nunmehr vorliegende Edition für weitere Forschungen zu nutzen (S. 11–13). Abgerundet wird das Buch durch eine Gesamtbibliographie (S. 297–359) sowie Indizes der erwähnten Personen, Orte, Werke und Bibelstellen (S. 361–391).

Als bester Kenner der Materie eröffnet Jean-Loup Lemaître den Reigen der Aufsätze, indem er die Erforschung des nekrologischen Schriftguts sowie die Entwicklung des Editionswesens bis zu den Gelehrten des Ancien Régime zurückverfolgt und damit die lange, teilweise auch problematische Tradition der heutigen Memoriaforschung aufzeigt (S. 17–41). Viel kürzer fallen die Ausführungen von Isabelle Guyot-Bachy aus, welche die wenigen Belegstellen auswertet, bei denen Johann von Saint-Victor das Nekrolog im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts als Quelle für seine Weltchronik benutzt hat (S. 37–41).

Beim Vergleich zwischen dem Nekrolog und dem – erst aus späterer Zeit überlieferten – Professbuch der Abtei stellt Anette Löffler fest, dass längst nicht alle Personen, die in das Stift eingetreten waren, auch in dessen Totengedenken aufgenommen wurden. Als Grund führt sie an, dass ein Teil der Professen später in anderen Gemeinschaften unterkam, während andere Namen wohl beim Abschreiben aus einem älteren Nekrolog beiseitegelassen wurden (S. 43–66). Dass manche Personen schlicht vergessen gingen oder vielleicht auch keine entsprechende Stiftung eingerichtet hatten, zieht sie nicht in Betracht.

Constant J. Mews zeichnet den Lebensweg von Wilhelm von Champeaux sowie dessen Begegnungen mit namhaften Zeitgenossen wie Peter Abaelard und Bernhard von Clairveaux nach (S. 71–97). Mews geht davon aus, dass Wilhelm die Klerikergemeinschaft von Saint-Victor an Ostern 1111 (nicht 1108) ins Leben gerufen hat. Dessen äußerst wortkargen Eintrag im Nekrolog der Abtei wertet Mews als Hinweis dafür, dass sich der Konvent nur wenige Jahre später ein völlig neues Selbstverständnis zugelegt habe, das stärker auf den ersten Abt Gilduin als ‚wahren‘ Gründer von Saint-Victor ausgerichtet war.

Joachim Ehlers sucht nach Gründen, weshalb sich der nachmals so berühmte Hugo und sein gleichnamiger Onkel aus Sachsen ausgerechnet Saint-Victor im weit entfernten Paris als Wirkstätte ausgesucht haben (S. 99–117). Er vermutet, dass ihre offenbar reich begüterte Familie in die Kämpfe des ostsächsischen Adels mit Heinrich V. verwickelt gewesen war, worauf die beiden Hugos als letzte männliche Vertreter ihres Geschlechts ins Exil gingen. Aber auch sonst lassen sich Verbindungen der Kanoniker von Saint-Victor ins hochmittelalterliche Sachsen nachweisen.

Die ebenso detaillierte wie umfangreiche Studie von Björn Gebert untersucht systematisch, welche Klöster in Frankreich, Deutschland, England, Italien und Dänemark von Saint-Victor abhängig waren, um festzustellen, ob der viktorinische Klosterverband als ‚Orden‘ im Sinne der Zisterzienser oder eher als ‚Kongregation‘ im Sinne von Cluny aufzufassen sei (S. 119–171). Als Ergebnis hält Gebert fest, dass sich die Viktoriner grundlegend von den beiden genannten Modellen unterschieden, wobei ein Abgleich mit anderen Klosterverbänden noch aussteht. Eine wertvolle Grundlage für weitere Forschungen stellt die angehängte Liste aller viktorinischer Niederlassungen dar, aus der hervorgeht, dass die 1225 im Testament König Ludwigs VIII. genannte Zahl von vierzig Abteien vermutlich zu hoch gegriffen ist.

Gesine Klintworth zeichnet die Leistungen der frühen Äbte hinsichtlich Bautätigkeit, Reformvorhaben, Güterverwaltung sowie Kontakten zu weltlichen und geistlichen Machthabern nach, die – abgesehen vom ersten Abt Gilduin – keine besondere Würdigung im Nekrolog erhalten haben (S. 175–220). Dass die viktorinischen Frauenklöster von Laien besonders geschätzt und daher mit Gaben bedacht wurden, will Erin Jordan nachweisen (S. 221–229). Die wenigen angeführten Beispiele vermögen jedoch nicht zu verdeutlichen, inwiefern sich Stiftungsverhalten und Gebetsgedenken bei jenen Institutionen qualitativ oder quantitativ von anderen unterschieden.

Ralf Lützelschwab sucht nach Gründen für die Aufnahme von Kardinälen ins Nekrolog von Saint-Victor (S. 231–254). Dass die Zahl der verzeichneten Kardinäle ab dem 14. Jahrhundert abnimmt, korreliert er mit dem „Verlust der intellektuellen Strahlkraft“ der ursprünglich so attraktiven Schule (S. 254). Zugleich stellt er fest, dass selbst ein Kardinal, der die Abtei aktiv förderte, „den Sprung ins Nekrolog nicht schaffte“ (S. 240). Auch hier wäre zu bedenken, dass die Aufnahme ins Gebetsgedenken gewöhnlich jenen vorbehalten war, welche zu diesem Zweck eigens eine Stiftung eingerichtet hatten.

Die im Nekrolog verzeichnete Stiftung einer Bibel durch den Pariser Archidiakon Theobald nimmt Matthias Tischler zum Anlass, die älteste vollständig erhaltene mehrbändige Lesebibel der Abtei vorzustellen (S. 259–269). Allgemein der Übergabe von liturgischen Büchern an Saint-Victor widmet sich Anette Löffler in ihrem abschließenden Beitrag (S. 271–295). Im Nekrolog wurde die Stiftung liturgischer Bücher nur bei Personen vermerkt, die nicht dem Konvent angehörten. Bücher, die vormals einem Konventsangehörigen gehört hatten, gingen demgegenüber gemäß Löffler wohl selbstverständlich in den Besitz der Abtei über, ohne dass man dies speziell im Nekrolog vermerkte. Hier hätte vermutlich die Unterscheidung zwischen Schenkung und Stiftung weitergeholfen, die im Titel des Aufsatzes zwar anklingt, aber nicht weiter thematisiert wird. Die einschlägigen Werke von Michael Borgolte zu diesem Thema sucht man in der Bibliographie vergebens.3

Der vorliegende Sammelband kehrt auch insofern zu den Wurzeln der Memoriaforschung zurück, als er vor allem auf herausragende Einzelpersönlichkeiten (Wilhelm von Champeaux, Hugo und Johann von Sankt Viktor) sowie bestimmte Personengruppen (Kardinäle, Äbte, Klosterfrauen, Stifterinnen und Stifter) fokussiert. Neben sozial-, politik- und geistesgeschichtlichen Themen etwas zu kurz gekommen sind die wirtschaftlichen Aspekte des mittelalterlichen Gedenkwesens. Auch die Frage, wie das Nekrolog gebraucht, aufbewahrt und geführt wurde, wird höchstens am Rand behandelt. Seine Inhalte werden in den Beiträgen quellenkritisch kaum hinterfragt, obwohl das Nekrolog lediglich in späteren und nachweislich stark überarbeiteten Abschriften erhalten ist. Von daher wäre bei jedem einzelnen Eintrag danach zu fragen, wann und wieso er in die heute überlieferte Form gekommen ist.

Ebenfalls zu bedauern ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Beiträge auf das Mittelalter konzentrieren; bei einem Dokument wie dem Nekrolog von Saint-Victor, das bis zum Ende des Ancien Régime weitergeführt wurde, drängt sich die Perspektive der ›longue durée‹ doch geradezu auf. Mit der Beschränkung auf die Frühzeit der Abtei werden dagegen die bereits von Gelehrten der Renaissance geprägten Vorstellungen von einem ‚Goldenen Zeitalter‘ mit anschließendem Niedergang perpetuiert.

Diese Kritikpunkte verstehen sich indessen vor allem als Anregung für weitere Forschungen, denn das weit gefächerte Themenspektrum dieses Bandes führt einmal mehr vor Augen, dass nekrologische Schriftstücke als Quellen für die unterschiedlichsten Fragestellungen beigezogen werden können. Deren Analyse bietet bei weitem nicht nur Aufschluss über Personen und Gruppen, sondern auch über soziale, wirtschaftliche und politische Verhältnisse, kulturelle Praktiken sowie historische Deutungsmuster und religiöse Vorstellungswelten.

Anmerkungen:
1 Ursula Vones-Liebenstein / Monika Seifert (Hrsg.), Necrologium abbatiae Sancti Victoris Parisiensis (Corpus Victorinum. Opera ad fidem codicum recollecta 1), Münster 2012.
2 Hugo von Sankt Viktor-Institut an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main: Panorama Victorinum, <http://www.pthsg.de/prosopographie/index.php> (31.01.2016).
3 Die wichtigsten Aufsätze sind nunmehr versammelt in Michael Borgolte, Stiftung und Memoria (Stiftungsgeschichten 10), Berlin 2012; ebenfalls einschlägig: ders. (Hrsg.), Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften, bislang 2 Bde., Berlin u.a. 2014ff.