S. Berger u.a. (Hrsg.): Nationalizing Empires

Cover
Titel
Nationalizing Empires.


Herausgeber
Berger, Stefan; Miller, Alexei
Reihe
Historical Studies in Eastern Europe and Eurasia
Erschienen
Anzahl Seiten
700 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Rochow, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) / Friedrich-Schiller-Universität, Jena

Nach wie vor nimmt das „heilige Dreieck“(S. 575) von Ernest Gellner, Benedict Anderson und Eric Hobsbawm eine dominante Stellung in der Nationalismusforschung ein.1 Dies geht mit der etablierten Dichotomie eines zivilen und eines ethnischen Nationalismus einher, die mit einer geografischen Teilung in West- und Osteuropa zusammenfällt. Diese Schemata zu überwinden, hat sich dieser Sammelband zum Ziel gesetzt. Dabei nähern sich die 16 Autorinnen und Autoren dem Untersuchungsgegenstand aus der Perspektive des Imperiums.

In einer thematischen Hinführung sowie einer theoretischen Reflexion zum Thema beginnen Alexei Miller und Stefan Berger die Analyse mit einer Annäherung an das Thema. Es wird deutlich, dass die Schwäche der vergleichenden Imperiumsforschung, nämlich ihren Untersuchungsgegenstand nicht allgemein gültig definieren zu können, gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, eine breite Auseinandersetzung anzustoßen. Dabei werfen sie immer wieder den in der Forschungsliteratur weiterhin formulierten Gegensatz zwischen Nation und Imperium auf, um diesen stets kritisch zu hinterfragen und schließlich herauszuarbeiten, dass diese beiden Begriffe sich weniger gegenseitig ausschließen als die Gegenüberstellung suggeriert.

Die Beitragenden legen den Fokus dabei nicht auf die zentrifugalen Kräfte, die oft an den Peripherien der Imperien wirkten, sondern auf das Zusammenwirken von Zentrum und Peripherie dieser Staaten. Denn, so die Grundannahme des Bandes, letztlich konnten sich die nationalen Bewegungen erst in den spezifisch imperialen Kontexten entwickeln. Damit gehen beide Prozesse – Nationsbildung und die Erhaltung des Imperiums – eine enge Beziehung ein.

Der Sammelband unterteilt sich in zwei Teile. Auf den ersten etwa 500 Seiten versammeln die Herausgeber eine Anzahl von Fallstudien, die im Wesentlichen alle Imperien Europas des 19. Jahrhunderts abdecken. Die Darstellungen reichen von der iberischen Halbinsel im Westen über Frankreich, Großbritannien, Deutschland, die Habsburgermonarchie bis nach Russland im Osten. Dazu kommen im Norden außerdem Dänemark und im Süden Italien sowie das Osmanische Reich. Die Aufsätze wurden von namhaften Expertinnen und Experten auf den jeweiligen Gebieten verfasst und behandeln die Fälle jeweils in einer longue durée Perspektive, wobei der Fokus entsprechend den Ankündigungen in der Einleitung auf dem langen 19. Jahrhundert liegt. Dies hat zunächst den Vorteil, dass auch am Thema Interessierte ohne viel Vorwissen die Argumentationen der Autorinnen und Autoren nachvollziehen können. Bei kürzeren Beiträgen nehmen die Betrachtungen außerhalb des 19. Jahrhunderts jedoch oft einen überproportional großen Raum ein.

Was die verschiedenen Aufsätze leisten, ist zunächst, eine Bandbreite an Forschungsansätzen und den Forschungsstand in Bezug auf das jeweilige Imperium aufzuzeigen. Allen ist gemein, dass sie die Terminologie hinterfragen und nach dem Selbstverständnis eines Imperiums fragen. In allen Fallstudien werden die Rückwirkungen des Reiches auf den Kern und die Kernnation dargestellt und analysiert. Stefan Berger wendet hierfür am Beispiel des Deutschen Reiches ein Modell an, das die geografischen Peripherien in vier Kategorien unterteilt und Andrea Komlosy weist in ihren Überlegungen in Bezug auf Österreich-Ungarn auf die Schwierigkeit hin, den eigentlichen Kern eines Reiches zu bestimmen. Wie wichtig hierfür Prozesse an den Peripherien waren, wird besonders am Beispiel des spanischen Reiches durch die Untersuchung von Xosé-Manoel Núñez und des russischen Imperiums anhand des Textes von Alexei Miller deutlich.

Gleich zwei Beiträge sind dem französischen Fall gewidmet. Der kürzere behandelt Prozesse der Nationsbildung im Reich Napoleons I., wohingegen der Einfluss des französischen Überseereiches auf die verschiedenen Regionen gegen Ende des 19. Jahrhunderts im zweiten Beitrag eine Rolle spielt. Robert Aldrich hebt in diesem Zusammenhang den wesentlichen Unterschied zwischen Frankreich und anderen Kolonial- und Imperialmächten immer wieder hervor: Frankreich war eine Republik. Auch wenn sich dies auf das Selbstverständnis des Landes auswirkte, so zeigt doch der direkte Vergleich mit dem britischen oder dem deutschen Fall, wie sehr sich die Prozesse der Verflechtung zwischen Überseegebieten und Kernregionen ähnelten. Viele Beiträge haben in diesem Zusammenhang auf die Stärkung einer nationalen Identität mit Hilfe eines imperialen Narratives hingewiesen, die lokale Identifikationsmuster schwächte oder sie in nationale integrierte. Ebenfalls am deutschen Beispiel – aber auch am italienischen, herausgearbeitet durch David Laven und Elsa Damien – wird die Entstehung nationalistischer Ideologien deutlich, die nicht nur ihren Inhalten, sondern auch ihren Formen und ihren Sprachen nach auf Entwicklungen der 1920er Jahre vorausweisen.

Der eigentliche Vergleich der vorangestellten Beiträge erfolgt im zweiten Teil des Bandes. Aufbauend auf den Fallstudien lassen die Autoren die behandelten Fälle unter einer thematisch präziser formulierten Überschrift noch einmal Revue passieren und kommen somit zu neuen Erkenntnissen der vergleichenden Imperiumsforschung. Der Schwerpunkt wird hier auf die Frage nach der Legitimität von Imperien gelegt. Wo Jean-Frédéric Schaub Kontinuitäten aus der Frühen Neuzeit aufdeckt, nähert sich Jörn Leonhard diesem Thema anhand einer vergleichenden Untersuchung imperialer Konfliktmanagementstrategien an und hebt die Komplexität sowie die Dynamik des ausgehenden 19. Jahrhunderts hervor.

Alfred J. Rieber behandelt in seiner Darstellung ein Thema, das sonst nur wenig Niederschlag in dem Band findet: die militärischen Entwicklungen im habsburgischen, russischen und osmanischen Reich. Er hebt die Modernität der militärischen Institutionen hervor und erkennt in den Offizierskorps eine sich formierende Interessengruppe, die über die Lebensdauer der Imperien hinaus eine wichtige Rolle spielte.

Die beiden Beiträge von Philipp Ther und Dominic Lieven runden den Sammelband inhaltlich ab. Ther führt zunächst eine Auseinandersetzung über den Terminus „imperial nationalism“ und regt an, eher von Nationalismen zu sprechen. Er versteht die dezidiert imperialen Nationalismen als Reaktion auf nationale Bewegungen verschiedener Bevölkerungsteile eines Reiches. Lieven fragt abschließend noch einmal nach dem Selbstverständnis von Imperien. Er beendet das Buch mit einem Verweis auf die Aktualität der Auseinandersetzung mit dem Thema „Imperium“ in Anbetracht weltpolitischer Entwicklungen.

Die Leistung des Bandes besteht klar darin, eine Vielzahl von Fallstudien zusammenzubringen und so den sonst stark geografisch zentrierten Untersuchungen eine alternative Betrachtungsweise gegenüberzustellen. Durch die Varietät der Studien können die Dichotomien erfolgreich überwunden und Ähnlichkeiten aufgezeigt werden. Gleichzeitig zeigt die Vielfalt der methodischen Ansätze, wo nach wie vor Forschungsbedarf besteht. Die reichhaltigen Anmerkungen geben hierzu weiteren Aufschluss.

Was den Autorinnen und Autoren nicht gelingt, ist die terminologische Weiterentwicklung. Um klar abgrenzbare Begrifflichkeiten benennen und definieren zu können, sind die Beiträge und Ansätze zu unterschiedlich. In diesem Zusammenhang ist die Betrachtung über mehrere Jahrhunderte wenig geeignet, um Klarheit über „Nation“, „Reich“ oder „Nationalismus“ zu gewinnen. Der Beitrag Alexei Millers, in dem der Bedeutungswandel von Begriffen deutlich wird, und der Aufsatz Philipp Thers hätten aus diesem Grund an vorderer Stelle verständnisfördernd wirken können.

Etwas unverhältnismäßig erscheint der relativ kleine Umfang des zweiten Teils des Bandes, der die eigentliche Vergleichsleistung erbringt. Transnationale Forschungsansätze2 oder Fragen einer histoire croisée, die nationale bzw. imperiale Grenzen überwindet, haben nur punktuell ihren Niederschlag finden können. Dies ist teilweise dem Untersuchungsgegenstand geschuldet. Es gelingt dem Band aber, wichtige Impulse zu geben. Er fügt sich damit in die neuere Forschungsliteratur ein3 und weist gleichzeitig in mehrere Richtungen für weitere Untersuchungen. Eine davon liegt in der geografischen Ausweitung der Untersuchungsobjekte über die im 19. Jahrhundert in Europa präsenten Staaten hinaus.

Anmerkungen:
1 Vgl. Ernest Gellner, Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999 (1. Aufl. 1983); Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 2005 (1. Aufl. 1983); Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt am Main 2005 (1. Aufl. 1990).
2 Vgl. z.B. Philipp Ther, The Transnational Paradigm of Historiography and Its Potential for Ukrainian History, in: Georgiy Kasianov / Philipp Ther (Hrsg.), A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukrainian Historiography, Budapest 2009, S. 81–114.
3 Vgl. z.B. Timothy Baycroft / Mark Hewitson (Hrsg.),What is a Nation? Europe 1789–1914, Oxford 2006.