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Titel
Die Adolf-Hitler-Schulen 1937–1945. Suggestion eines Elitebewusstseins


Autor(en)
Hülsheger, Rainer
Reihe
Materialien zur Historischen Jugendforschung
Erschienen
Weinheim 2015: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Miller-Kipp, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Elite-Rede und Elite-Propaganda gehören zu einer politischen Diktatur wie das Amen zur Kirche. Ihre Funktion ist stets, die Machthaber und Führungskader als solche nach außen zu legitimieren und nach innen kollektiv-psychologisch zu festigen. Auslese, soziale Formierung und Erziehung variieren historisch, aber stets gehören besondere Institutionen, zumeist Schulen und Schulungseinrichtungen dazu. Genau dort treten Brüche, treten Widersprüche zwischen Propaganda und Wirklichkeit zutage, sei es, dass soziale Daten, institutionelle Prozesse und/oder pädagogische Praxen der Elite-Behauptung oder dem Elite-Anspruch nicht entsprechen, sei es, dass der Schul(ungs)erfolg ihm nicht gerecht wird. Für die „Elite-Schulen“ der nationalsozialistischen Diktatur1 – hier die Adolf-Hitler-Schulen (AHS), die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA2) und die Reichsschule der NSDAP Feldafing – ist längst auf solche Widersprüche hingewiesen, dabei ist die Elitezuschreibung als Propaganda und als Bewusstseinsphänomen beschrieben worden.3 Jetzt legt Rainer Hülsheger für die AHS einen Band vor, der im Untertitel verspricht, sich dem Zustandekommen eben dieses Elite-Bewusstseins wieder zuzuwenden – die jüngste Veröffentlichung in einer langen Reihe. Daher stellt sich die Frage nach dem historischen und/oder historiographischen Zugewinn.

Die Geschichtsschreibung zu den „Eliteschulen“ des „Dritten Reiches“ – neben den oben genannten zählen dazu noch die SS-Junkerschulen und die NS-Ordensburgen, auf letzteren waren viele AHS provisorisch untergebracht – verläuft in charakteristischer Kurve. Zu den beiden Oberschulen, AHS und NPEA, beginnt sie Mitte der 1960er-Jahre mit naiver institutionsgeschichtlicher Rekonstruktion.4 Gegen sie gerichtet erscheint 1973 die erste gründliche und bis heute grundlegend kritische Studie von Harald Scholtz, selbst ehemaliger AH-Schüler.5 Ihr folgt ein Vierteljahrhundert später wie auf Verabredung ab 1997 eine Flut von Erinnerungsliteratur – die Ehemaligen drängte es zur Mitteilung; sie ist überwiegend positiv. Diese Flut verebbt ziemlich abrupt mit 2010.6 Mittendrin erscheint das Buch von Barbara und Rolf Feller, das die Erinnerungserzählungen unkritisch antinomisch ordnet, zugleich aber auch eine quellengesättigte institutionelle Rekonstruktion liefert.7

Angesichts dieser Geschichtsschreibung sieht Hülsheger das Verdienst seiner Publikation darin, einen „Gesamtüberblick“ zu leisten, der „stärker in die Tiefe“ ginge als „die vorangegangene Literatur“, und dies auf „breiter Quellenbasis“ (S. 13). Nun ist die historische „Tiefe“ eher ein Mystikum, und ich kann sie dem Band auch nicht attestieren. Im Gegenteil: Er liefert die bislang vollständigste Darstellung der AHS und enthält das reichhaltigste Quellenmaterial.8 Dieses stammt aus privaten Sammlungen; dazu hatte Hülsheger das Glück, über das ganze Privatarchiv von Franz Albert Heinen9 verfügen zu können; auf staatliche Archive greift er, anders als alle Autoren vor ihm, nicht mehr zurück. Hülshegers Stärke sind die Fakten. Sie summieren sich in 14 jeweils einzelnen Sachverhalten gewidmeten Kapiteln zu einer wünschenswert vollständigen institutionellen Rekonstruktion, zu detaillierter Beschreibung der Schulbauten und des Schulbetriebs, der Schulklientel, des Unterrichts (Fächer, Medien, Gestaltung), des Schulalltags, der Unternehmungen und der außerschulischen pädagogischen Praxen, darunter besonders beachtlich die gesellschaftlichen „Bewährungseinsätze“ vom Lagerdienst bis zum aktiven Kriegseinsatz. Veranschaulichung des Schulbetriebs zieht Hülsheger dabei vor allem aus den von ihm angestellten „Befragungen“ (S. 5) sowie aus bereits publizierten Erinnerungen ehemaliger AH-Schüler, insgesamt 37 Stück. Zur Beschreibung bzw. Benennung der normgebenden Erziehungszwecke, darunter hier erstmals auch die für die AH-Schüler ausgegebenen Umgangs- und Benimmregeln, greift Hülsheger kommentarlos auf offiziell ausgegebenes Schrifttum zurück. So geraten pädagogische Programmatik und pädagogische Propaganda der AHS in dieses Buch, ohne dass sich der Autor ihrer historisch-kritisch annähme. Das setzt Vertrauen in den Leser voraus.

Erinnerungsliteratur und „Befragungen“ wären auch das Material dafür, der im Untertitel des Bandes thematisierten Bewirkung von Elitebewusstsein nachzugehen, allein Hülsheger nutzt die „Sichtweisen“ (S. 8) der Ehemaligen nur zur erzählenden Alltagsbeschreibung. Eine (kollektiv)psychologische Analyse dieser „Sichtweisen“, eine Systematik der mentalitären Wirkungen und, vor allem, des psycho-emotionalen Wirkungszusammenhangs bleiben aus, an vorliegende Studien dazu wird nicht angeknüpft. In zwei Kapiteln durfte man das aber durchaus erwarten: Im Kapitel „Indoktrination – Mentalitätsprägung“ (Kap. 7), dort werden jedoch nur die Unterrichtsmittel indoktrinatorischer Absicht und einige Wirkungseindrücke aufgereiht, oder im Kapitel „Neubeginn nach 1945“ (Kap. 14); dort hält sich Hülsheger aber wiederum nur an Fakten, er verfolgt die beruflichen Laufbahnen ehemaliger AH-Schüler und verzeichnet sie tabellarisch. Sie ergeben ihm „deutliche Anhaltspunkte für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn“ (S. 254) nach 1945, was ihn den ganzen Band mit der Feststellung schließen lässt, dass „ehemalige Schüler […] über positive Dispositionen [verfügen], die sowohl in ihnen selbst als auch in der äußeren Situation zu suchen sind, um einen Neubeginn nach […] 1945 zu meistern“ (S. 256) – das ist leider nur eine Allerweltsfeststellung. Löst der Band also das suggestive Versprechen seines Untertitels nicht ein, so liefert er doch vorzügliches Material für anschließende Studien.

Anmerkungen:
1 Die nationalsozialistische Erziehungspropaganda redete von den „Besten“, von „Besten-“ und von „Führerauslese“, der Elitebegriff wurde dazu erst in der Sekundärliteratur nach 1945 supponiert.
2 Populär auch „Napola“, was historisch nicht korrekt ist. „Napola“ hießen genau die zweiwöchigen „Nationalsozialistischen Schulungslager“, die der Reichserziehungsminister der Abiturientia 1934 vor der Meldung zum Abitur zur Pflicht machte; der Erlass wurde im selben Jahre wieder aufgehoben.
3 Zuerst bei Harald Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973; ferner Gisela Miller-Kipp, „Klasse Schule – immer genug zu essen, wenig Mathematik“. Elitebildung im „Dritten Reich“ oder über die Herstellung von Elite-Bewusstsein, in: Jutta Ecarius / Lothar Wigger (Hrsg.), Elitebildung – Bildungselite, Opladen 2006, S. 44–66.
4 Horst Ueberhorst, Elite für die Diktatur, Düsseldorf 1969.
5 Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen.
6 Vgl. auch das „Quellen- und Literaturverzeichnis“ bei Hülsheger (S. 259ff.); dort ist die autobiographische Erinnerungsliteratur irritierenderweise ohne quellenkritische Unterscheidung der Literaturgattungen zusammen mit der Sekundärliteratur vor und nach 1945 aufgeführt; als Auslassung fällt auf: Johannes Leeb (Hrsg.), Wir waren Hitlers Eliteschüler. Ehemalige Zöglinge der NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, Hamburg 1998.
7 Barbara Feller / Rolf Feller, Die Adolf-Hitler-Schulen. Pädagogische Provinz versus Ideologische Zuchtanstalt, Weinheim 2001. Die Ordnung der Erinnerung basiert auf 31 narrativen Interviews.
8 45 Stück, bei Feller / Feller, Die Adolf-Hitler-Schulen, sind es 36 Stück; soweit es sich dabei um Überlassungen Ehemaliger handelt, sind die Gattungen identisch (Schulhefte, Zeugnisse, Lehrpläne, Schülerzeitungen, Elternbriefe, persönliche Fotos usw.).
9 Ihm dankt Hülsheger (S. 7), ohne ihn dem Leser bekannt zu machen. Heinen, Sachbuchautor aus Schleiden (Sitz der Standortentwicklungsgesellschaft Vogelsang) verfolgte die Geschichte der Ordensburg Vogelsang und ist bei deren Umformatierung zum Bildungs- und Erinnerungsort 2002ff. engagiert.

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