Cover
Titel
Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958–1992). Herausgegeben und eingeleitet von Meik Woyke


Autor(en)
Brandt, Willy; Schmidt, Helmut
Reihe
Willy-Brandt-Dokumente 3
Erschienen
Anzahl Seiten
1.104 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jan Hansen, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Über Willy Brandt, Helmut Schmidt und ihre Beziehung zueinander ist schon viel gesagt worden. Zum einen haben Medien bereits damals kolportiert, wie uneinig die beiden Sozialdemokraten in vielen Punkten waren. Zum anderen haben Historiker wieder und wieder von dieser „schwierigen Freundschaft“ erzählt.1 Wenn nun der vollständige Briefwechsel der beiden Politiker in einem über 1000 Seiten dicken Buch erscheint, wirft das zunächst einmal die Frage auf, was es denn substantiell Neues zu sagen gibt, und ob solch ein Editionsprojekt überhaupt noch zeitgemäß ist. Doch der Reihe nach.

Die Edition ist eine Koproduktion der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Chronologisch abgedruckt ist die gesamte direkte schriftliche Kommunikation zwischen den beiden SPD-Politikern aus den Jahren 1958 bis 1992. Der Band, der durch den Bonner Historiker Meik Woyke bearbeitet und eingeleitet worden ist, umfasst 717 Einzeldokumente. Sie stammen vor allem aus den Beständen von Willy Brandt und Helmut Schmidt im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn sowie Schmidts Privatarchiv in Hamburg-Langenhorn.

Der erste Brief ist auf den 13. September 1958 datiert; Schmidt, damals aufstrebender Bundestagsabgeordneter aus Hamburg, wies den Regierenden Bürgermeister von Berlin auf ein „Schmutz-Pamphlet“ gegen ihn hin (Dok. 1) – im Anmerkungsapparat vermutet Woyke, dass es mit Brandts Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu tun hatte. Die letzte Nachricht brachte Schmidt am 17. Juni 1992 zu Papier, also knapp vier Monate vor Brandts Tod (Dok. 717). Dazwischen liegen über 700 Schriftstücke, mit denen sich Schmidt und Brandt in wechselnden Funktionen und vor wechselndem historischem Kontext bedachten. Ersterer war dabei weitaus aktiver: Schmidt verfasste insgesamt 419 Briefe an seinen Parteifreund, Brandt dagegen nur 298.

Beide pflegten ein meist konstruktiv-loyales Verhältnis während der Großen Koalition (1966–69). Als Brandt in das Kanzleramt eingezogen war, begann Schmidt aber zunehmend auf politische Unabhängigkeit als Minister zu pochen (1969–74). Er reklamierte im Kabinett geradezu eine Sonderstellung für sich und seine Politik (Dok. 137). Dezidiert anders verfolgte er seine Prioritäten schließlich als Bundeskanzler (1974–82). Dass sich sein Vorgänger für den Nord-Süd-Dialog engagierte und auf ein gerechteres Weltwirtschaftssystem hinarbeitete, konnte Schmidt so nicht nachvollziehen (Dok. 563, 572). Unübersehbar wurde die Kluft im Streit um den NATO-Doppelbeschluss und die „Nachrüstung“ (Dok. 614, 615). Während Schmidt die Notwendigkeit von Gleichgewicht und Abschreckung betonte, versuchte Brandt, das Erbe seiner Entspannungspolitik zu bewahren.

Nicht von ungefähr erreichte die Korrespondenz ihren Höhepunkt im November und Dezember 1982, kurz nachdem die sozial-liberale Koalition gescheitert war und die SPD auf den Oppositionsbänken Platz genommen hatte. Die beiden Altkanzler sandten sich verbitterte Zeilen zu, in denen sie um die Deutungshoheit über die jüngsten Ereignisse rangen (Dok. 649–653). Am 11. November übermittelte Schmidt dem SPD-Vorsitzenden Brandt eine Botschaft, in der es unverblümt hieß: „Wir sind eben tatsächlich seit einem Jahrzehnt verschiedener Meinung über Aufgabe und nötige Gestalt der deutschen Sozialdemokratie“ (Dok. 652). Der Streit war eskaliert.

Eine kleine Typologie der Briefe: Die Edition beinhaltet Nachrichten, die Brandt und Schmidt als Sozialdemokraten verfassten und in denen es vorwiegend um innerparteiliche Angelegenheiten, um Parteifreunde und -feinde oder um wichtige programmatische Fragen ging (exemplarisch Dok. 85, 91). Sie umfasst zweitens Korrespondenz, die in der Bürokratie entstand und in der Schmidt und Brandt als Amtsträger sprachen (also als Bundeskanzler, Wirtschafts-, Finanz- und Verteidigungsminister; Dok. 188). Sie enthält drittens Briefe, die das persönliche Verhältnis der beiden Männer betrafen (Dok. 404, 405). Wichtig sind viertens die sogenannten „Neujahrsbriefe“, die Schmidt bis 1977/78 unter anderem an Brandt zu verschicken pflegte (Dok. 424, 453, 486, 527). Das waren umfangreiche Programmschriften, in denen er über die politischen Prioritäten für das kommende Jahr räsonierte.

Besonders reizvoll sind viertens die kleinen, handgeschriebenen Zettelchen, die Schmidt und Brandt während langer Gremiensitzungen austauschten (Dok. 631). Gerade jene Dokumente, die nicht von Mitarbeitern geglättet wurden, lassen spannende Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Schreibstile zu. Während Schmidt im Laufe der Jahre immer häufiger in einen Stakkato-Stil verfiel, aber dennoch zu sehr weitschweifigen Gedankengängen neigte, formulierte Brandt von Anfang an knapp und nicht selten einsilbig. So erlaubt die Edition vielfältige Einblicke in den Wandel des kommunikativen Stils über mehr als drei Jahrzehnte.

Bei dem anzuzeigenden Buch handelt es sich nicht um eine historisch-kritische Edition, sondern um eine Leseausgabe. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Schmidt und Brandt wird der Gang ins Archiv also nicht entbehrlich. Eine Reihe von Briefen ist überdies schon an anderen Orten editiert (Berliner Ausgabe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Dokumente zur Deutschlandpolitik) oder in der einschlägigen Forschungsliteratur ausführlich paraphrasiert worden. Auch inhaltlich wirft die Edition kein neues Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik, die Sozialdemokratie oder das Wirken von Schmidt und Brandt. Aber sie versammelt an einem Ort ungekürzt und vollständig Dokumente, die als Quellen zur Sozialisation, zum Politikverständnis und zum persönlichen Verhältnis zweier prägender Gestalten der alten Bundesrepublik befragt werden können.

Hier setzen aber Fragen an. Leider erfährt der Leser oder die Leserin dieser Edition nichts über die Materialität der Briefe. Woyke macht in der Einleitung allgemeine Angaben über verwendetes Papier, Formate und Schreibmedien. Doch gibt es im Dokumentenkopf oder den Anmerkungen keine Information zu den einzelnen Briefen – außer der Notiz, dass sie handschriftlich verfasst wurden. Das ist umso bedauerlicher, als neuere kulturgeschichtliche Fragestellungen gerade diesen scheinbaren Nebensächlichkeiten verstärkt ihre Aufmerksamkeit zuwenden und sie zum Ausgangspunkt fruchtbarer Analysen machen.

Auch wird man ganz grundsätzlich fragen müssen, ob die Edition eines Briefwechsels als Literaturgattung der Komplexität des Politischen noch angemessen ist, wenn sie Politik auf die Korrespondenz zweier Männer verkürzt. Vor dem Hintergrund der geschichtswissenschaftlichen Theorie- und Methodendiskussion in den letzten 30 Jahren erscheint mir das zumindest fragwürdig. Hat die Sozialdemokratie nicht zur Genüge erfahren, was es bedeutete, auf gesellschaftliche Transformationen Rücksicht nehmen zu müssen? Mit anderen Worten: In welchen Sozialbezügen die SPD und ihre Führungsfiguren standen, hätte im Anmerkungsapparat mitunter stärker gewichtet werden können.

Nichtsdestotrotz ist die Edition von großem Wert für die Geschichtswissenschaften und angrenzende Disziplinen: Nimmt man die Briefe als Prisma, kann man durch sie auf gesellschaftliche Konfliktlagen, auf größere Problemkonstellationen und Lösungsansätze schauen. Beachtlich ist auch die Erschließungsarbeit, die mit Sacherläuterungen und Querverweisen auf nicht selten halbseitigen Anmerkungen sowie einem umfassenden Personen- und Sachregister die Dokumentensammlung zum Sprechen bringt.

Anmerkung:
1 So zuletzt Gunter Hofmann, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freundschaft, München 2012.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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