P. Roisko: Gralshüter eines untergehenden Systems

Cover
Titel
Gralshüter eines untergehenden Systems. Zensur der Massenmedien in der UdSSR 1981–1991


Autor(en)
Roisko, Pekka
Reihe
Medien in Geschichte und Gegenwart 31
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die vorliegende Studie analysiert den Höhepunkt, den Wandel und die Auflösung des sowjetischen Zensursystems von der Herrschaft Leonid Brežnevs bis zum Zusammenbruch der UdSSR Ende 1991. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des politischen, kulturellen und institutionellen Wandels in der späten Sowjetunion. Zugleich wirft das Thema die Frage der Kontinuität russischer Staatlichkeit vom Zarenreich bis in die Gegenwart auf: Die Kontrolle der Öffentlichkeit war und ist stets eine Priorität der verschiedenen Regime.

Der Verfasser stellt seine Studie in den historischen Kontext der sowjetischen Geschichte. Die sowjetische Zensur ging bereits auf die Tage nach dem Oktoberumsturz zurück, als Lenin die liberale Presse verbieten ließ. Obwohl sich der sowjetische Staat in der Regel nicht zur Zensur bekannte, war sie ein zentrales Mittel zur Herrschaftssicherung. Sie ging weit über den Kernbereich des Politischen hinaus und umfasste auch die schönen Künste und die Distribution statistischer Informationen. Außerdem versuchte sowjetische Herrschaft stets, die Kommunikation mit dem Ausland zu kontrollieren. Das Spielfeld, auf dem die sowjetischen Zensoren agierten, war weit.

Der empirische Teil der Studie beschäftigt sich mit der Arbeit der Zensurbehörden im „entwickelten Sozialismus“ Brežnevs und endet mit der Auflösung sowjetischer Strukturen unter Michail Gorbačev. Der Verfasser zeichnet das Bild einer Öffentlichkeit, die vom Parteistaat durchherrscht wird. Das System kontrollierter Information begann bei der Selbstzensur der Journalisten, Schriftsteller und Künstler, die ihre Werke veröffentlicht sehen wollten. Das System sowjetischer Zensur wurde von der Behörde Glavlit verwaltet und durchgesetzt. Dieser bürokratische Behemoth steht hier im Zentrum der Analyse; zugleich weist der Autor jedoch mit Recht darauf hin, dass Glavlit auch nur eine Behörde im sowjetischen Machtgeflecht war und sich mit der Geheimpolizei und insbesondere mit dem mächtigen Apparat des Zentralkomitees abstimmen musste. Und schließlich galt bis zum Ende der Sowjetunion in besonders exponierten Fällen, dass – wie schon unter Lenin und Stalin – das Politbüro bzw. der Generalsekretär persönlich entschieden, was wo und in welcher Fassung veröffentlicht wurde. Letztlich saß der oberste Zensor im Kreml.

Während der Herrschaft Leonid Brežnevs spielte Zensur eine entscheidende Rolle bei der Sicherung parteistaatlicher Herrschaft. Sie war eine Stütze der kommunistischen Diktatur. Keine offizielle Veröffentlichung entkam den Zensurkriterien, die vom ZK aufgestellt wurden. Nur persönliche Protektion, der spätsozialistische Schlendrian oder die Untergrundkultur des samizdat führten dazu, dass gelegentlich Texte erschienen, die nicht dem offiziellen Narrativ folgten. Die empirische Arbeit Pekka Roiskos zeigt, wie weit der Durchherrschungsanspruch reichte. Jede Kritik an der herrschenden Ordnung wurde unterdrückt und zu Recht interpretiert der Verfasser die sowjetische Zensur als Teil jener Stagnation, die so charakteristisch für die Epoche war. Aus seinen Untersuchungen erfahren wir, wie die Zensur in so verschiedenen Bereichen wie Landwirtschaft, Geschichte, Kultur oder auch Außenpolitik intervenierte. Selbst die Periodika befreundeter Parteien aus dem Ostblock und die Zeitungen westlicher Kommunisten wurden von den Sowjets stets beargwöhnt. Als „faktologische Zensur“ bezeichnet der Verfasser zudem die Praxis, dass unzählige Tatsachen aus der sowjetischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht berichtet werden durften (S. 48). Spätestens hier zeigte sich, wie sehr der Kontrollanspruch der Staatspartei zur Petrifizierung der Gesellschaft beitrug.

Interessante Aspekte der perestrojka und glasnost‘ werden ebenfalls in der Studie herausgearbeitet. Was als Wirtschaftsreform von oben begann („Beschleunigung“), gewann an Dynamik durch die Losung glasnost‘ („Offenheit“), die zunächst keineswegs auf eine Aufhebung der Zensur zielte. Vielmehr sollte Gorbačevs verordnete Offenheit dazu beitragen, verkrustete Strukturen aufzubrechen, neue Themen zu setzen und Unterstützer der alten Ordnung zu diskreditieren. In Notfällen – wie etwa bei der Katastrophe von Tschernobyl – waren der Berichterstattung immer noch enge Grenzen gesetzt. Allerdings zeigte es sich bald, dass es schwierig war, neue Grenzen des Sagbaren zu ziehen. Die Journalisten verloren zunehmend den Respekt vor ihren Vorgesetzten und die Angst vor der Partei. Einzelne Publikationen begannen sich durch Grenzüberschreitungen zu profilieren – sie besaßen in Aleksandr Jakovlev einen Fürsprecher, der das Ohr des Generalsekretärs hatte. So fiel seit 1986 ein Tabu nach dem anderen und auch die bürokratischen Strukturen der Zensur wurden sukzessive entmachtet. Zudem wurde die Kommunikation mit dem Ausland unter Gorbačev sukzessive normalisiert. Die Störung ausländischer Radiosender wurde eingeschränkt und mehr Publikationen durften die sowjetischen Grenzen passieren. Noch dramatischer als in Moskau waren die Folgen der glasnost‘ jedoch an der sowjetischen Peripherie. In den baltischen Staaten oder im südlichen Kaukasus etablierten sich nationale Öffentlichkeiten, die sich rasch aus der Vormundschaft des Zentrums befreiten. Neben dem schonungslosen Blick auf die Vergangenheit traten hier auch ethnische Konflikte ans Licht und trugen zum Ende des Vielvölkerreiches bei.

Nach dem gescheiterten Putsch vom August 1991 sah es für einen Moment so aus als wären die Mauern der autoritären Ordnung unwiederbringlich eingestürzt. Tatsächlich war dies jedoch nur vorübergehend der Fall. Bereits der neue russische Herrscher Boris El’cin verbündete sich 1993 wieder mit Armee und Geheimpolizei und legte damit das Fundament für die Rückkehr zur Autokratie. Sein Nachfolger Vladimir Putin beseitigte die Reste medialer Pluralität bereits im ersten Jahr seiner Herrschaft. Gerade weil die Zensur der Gegenwart ohne eine Behörde wie Glavlit auskommt, ist sie vermutlich so effektiv. Von einer freien Öffentlichkeit ist Russland – wie die meisten post-sowjetischen Staaten mit Ausnahme des Baltikums und der Ukraine – wieder ähnlich weit entfernt wie im Spätsozialismus. Die Offenheit der perestrojka blieb Episode.

Dank der detaillierten Studie Roiskos wissen wir mehr über die Funktionsweise der Zensur im letzten Jahrzehnt sowjetischer Herrschaft. Eng an den Quellen argumentierend zeigt er wie das System trotz seiner Absurditäten half, die Parteiherrschaft zu sichern. Besonders faszinierend ist darüber hinaus der Einblick in die Jahre des Wandels, in denen für wenige Jahre das Versprechen der Offenheit gesellschaftliche Energien in der späten Sowjetunion freisetzte. Nicht nur für Kommunikations- und Medienwissenschaftler, sondern auch für Zeithistoriker und für diejenigen, die sich für die Voraussetzungen der postsowjetischen Ordnungen interessieren, ist dieses Buch daher eine gewinnbringende Lektüre. Es lädt außerdem, wie bereits eingangs angemerkt, zum weiteren Nachdenken über Kontinuität und Wandel autoritärer Ordnungen im post-sowjetischen Raum ein.

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