C. Kaiser u.a. (Hg.): Leiden an der Zivilisation

Titel
Die "jüdische Nervosität" und andere Leiden an der Zivilisation. Konstruktionen des Kollektiven und Konzepte individueller Krankheit im psychiatrischen Diskurs um 1900


Herausgeber
Kaiser, Céline; Wünsche, Marie-Luise
Reihe
Studien zu Judentum und Christentum
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Adams, Berlin

Der vorliegende Sammelband ist aus einer interdisziplinären Tagung des Bonner Sonderforschungsbereichs „Judentum - Christentum. Konstituierung und Differenzierung in Antike und Gegenwart“ im Oktober 2001 hervorgegangen. Der Band beschäftigt sich mit der Darstellung kollektiver und individueller Krankheitskonzepte im Psychiatriediskurs und in angrenzenden wissenschaftlichen und kulturellen Feldern. Die Herausgeberinnen Céline Kaiser und Marie-Luise Wünsche stellen ihrer Einleitung die These voran, dass der „Sprung vom Individuellen ins Kollektive […] eine grundlegende Gedankenfigur um 1900“ gewesen sei. (S. 9) Der Sammelband widmet sich den Spuren dieses Wandels im „Spannungsfeld von Konzepten individueller Krankheit auf der einen und Konstruktionen des Kollektiven auf der anderen Seite“(S. 10).

Daraus ergibt sich eine Zweiteilung des Sammelbandes. Im ersten Teil finden sich Beiträge, die die Konstruktion von Kollektivkörpern an den Schnittstellen des Psychiatriediskurses mit der Völkerkunde, Kolonialmedizin, Literatur, Biologie und Medizin aufzeigen. Innerhalb der wissenschaftlichen und kulturellen Formung von Kollektivkörpern, so Kaiser und Wünsche, komme einzelnen Kollektiven – und hier besonders dem „jüdischen“ – eine wachsende Bedeutung zu, da sie zunehmend als Projektionsfläche für den Wandel vom Individuellen ins Kollektive dienten. Der zweite Teil des Bandes widmet sich zumeist psychoanalytisch orientierten Konzepten der Psychosomatik. Diese Theorien, so die Herausgeberinnen, stellten Anfang des 20. Jahrhunderts eine „echte Alternative zu manchen der epochetypischen Diskurse“ dar (S. 15). Die Psychoanalyse oder psychoanalytische Psychosomatik wäre demnach nicht von Deutungen geprägt gewesen, die Degeneration und Vererbung in der Ursachenerklärung von Pathologien hervorgehoben und somit die Wahrnehmung gesellschaftlicher Gruppen als kollektive Träger von Krankheiten vorangetrieben hätten. Vielmehr sei die Individualität des Kranken, „das Subjekt mit seinen lebensgeschichtlich bedingten Phantasmen, Katastrophen, Träumen und Traumata“, in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt worden (S. 16).

Konstruktionen des Kollektiven in der Psychiatrie widmet sich der aufschlussreiche Beitrag von Volker Roelcke, der dem Bedeutungswandel der Begriffe Kultur und Religion und dem Einflusszuwachs biologischer Lesarten der Rasse und Degeneration in der Psychiatrie nachgeht. Bei der Diskussion um die Neurasthenie oder Nervenschwäche in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts war der krankmachende Einfluss der „Zivilisation“ oder, synonym damit, der „modernen Kultur“, noch als bedeutsam befunden worden. Anhand der rassenpsychiatrischen Forschung von Emil Kraepelin zeigt Roelcke, wie um 1900 rassen- und erbbiologischen Kategorien in der Erklärung psychischer Krankheiten bedeutsam wurden. Soziale oder kulturelle Erklärungen für die Entstehung von Krankheiten erklärte Kraepelin für nicht wesentlich. Im Gegenteil machte er „Rasseneigenschaften“ für die kulturellen Leistungen und religiösen Vorstellungen einer „Rasse“ verantwortlich. Kultur und Religion würden damit, so Roelcke, zu „Derivaten, zu abhängigen Variablen von der Biologie des Menschen“(S. 33). Als Beispiel für den Einfluss der Rasse auf Häufigkeit und Ausformung psychischer Krankheiten wurden häufig „die Juden“ herangezogen. Die biologistische Wende in der Psychiatrie begründet Roelcke durch einen professionspolitischen Wandel Anfang des Jahrhunderts. Durch die Annäherung an die nun für plausibel und modern gehaltenen Naturwissenschaften konnte die Psychiatrie gesellschaftliche Anschlussfähigkeit und Deutungsmacht gewinnen. Außerdem sei dieser Prozess als ein Zeichen einer allgemeinen Tendenz der Zeit zu sehen, in der „Kultur“ und „Religion“ nicht mehr als selbstverständliche Größen galten sondern hinterfragbar wurden.

Walter Bruchhausen erläutert in seinem Artikel über psychiatrische Forschung in den Kolonien, dass die Ureinwohner der Kolonien durch ihre angebliche Naturverbundenheit für psychisch gesünder als die „zivilisationsgeschädigten“ Europäer gehalten wurden. Er konstatiert, dass man dieser Logik folgend eigentlich die These von der krankmachenden Auswirkung der Zivilisation anhand von Studien über die kolonialisierte Bevölkerung hätte überprüfen können. Statt dementsprechend diesen Teil der Kolonialbevölkerung zu untersuchen, wurde jedoch hauptsächlich die „Tropenneurasthenie“ der Europäer, die auf die nervliche Belastung aufgrund des ungewohnten Klimas zurückgeführt wurde, zum Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Obwohl in den Kolonien wenig psychiatrische Forschung an der autochthonen Bevölkerung betrieben wurde, fand der Topos der seelischen Gesundheit der „Primitiven“ Eingang in die Völkerpsychologie, Völkerkunde und Psychoanalyse. Die „Zivilisation“ wurde in diesen Diskursen als Kontrapunkt zu den Kolonien gesetzt und konnte somit eine Differenz zwischen Europäern und Kolonialisierten herstellen. Der detailreiche Beitrag von Bruchhausen weist auf interessante Perspektiven im Diskurs über psychische Krankheiten in den Kolonien hin, eine stringentere Argumentation und prägnantere Herausstellung der Thesen hätte jedoch nicht geschadet.

Otniel E. Dror beschäftigt sich mit der Bedeutung von Emotionen für die Produktion zuverlässigen medizinischen Wissens im angloamerikanischen Kontext. Ein affektbeherrschter Körper galt demnach als Gefahr für eine unverfälschte medizinische Diagnose. Plötzlich auftretende Erregungen wurden für falsche Messergebnisse verantwortlich gemacht, wie z.B. eine erhöhte Anzahl weißer Blutkörperchen. Die Bedeutung, die dem psychologischen Zustand des Patienten zugemessen wurde, korrespondierte dabei mit dem gleichzeitigen Diskurs über emotionale "Typen" an der Wende zum 20. Jahrhundert. Neurotische, nervöse und sensible "Typen" stellten durch ihre "verfälschende" Persönlichkeitsstruktur die Zuverlässigkeit der Untersuchungsergebnisse in Frage. Diese Vorstellung betraf besonders Juden, Frauen und Schwarze, deren psychologischer Zustand generell als übertrieben gefühlsbetont galt und somit lang existierende Stereotype bediente.

Laura Otis befasst sich in ihrer Untersuchung mit der Metapher des „organischen Gedächtnisses“ in Biologie und Literatur der Jahrhundertwende. Das „organische Gedächtnis“ war die damals verbreitete Vorstellung, dass „‚Vererbung’ und ‚Gedächtnis’ dasselbe meinen, „nämlich die Fähigkeit des menschlichen Körpers, Auskunft über die Vergangenheit zu speichern und zu reproduzieren“(S. 75). Diese Denkfigur sei metaphorisch nicht nur in einem einzelnen Wissensgebiet etabliert gewesen, sondern habe sich übergreifend durchgesetzt. Otis deckt die Ursprünge dieser Vorstellung in der Biologie auf, und stellt dar, wie sie in der Völkerpsychologie, der Psychoanalyse und den Werken von Emile Zola, Thomas Mann und Thomas Hardy Einzug hielt.

Anhand einer Untersuchung der medizinischen Dissertation Georges Wulfings aus dem Jahre 1906 weist Céline Kaiser auf die Parallelen zwischen dessen Beitrag zur „Nervosität der Juden“ und Sigmund Freuds Konzept der „Urszene“ hin. Beispiele aus der Thora respektive der Bibel dienten Wulfing als Argument, den Kollektivkörper der Juden als schon immer „nervös“ zu betrachten. Kaiser verbindet diesen Rückgriff auf die Geschichte bei Wulfing mit dem Freudschen Konzept der „Urszene“. Nach Freud könnten in der Psychoanalyse traumatische Geschehnisse erinnert werden, die der Patient nicht selbst erlebt hat, sondern aus prähistorischen Zeiten stammten. Freud hielt es für möglich, dass Neurosen auslösende Traumata wie der Kastrationskomplex oder inzestuöse Beziehungen in Urzeiten einmal Realität gewesen sein könnten und als „Urphantasie“ erinnert würden. Gemeinsam sei den Konzepten von Wulfing und Freud das Element einer vererbten Erinnerung, bzw. des „organischen Gedächtnisses“ (Laura Otis). Unterschiede zwischen Freud und Wulfing sieht Kaiser darin, dass bei Freud die „Urszene“ einen Anfangspunkt darstellt, auf dem sich die Neurose entwickele. Wulfing dagegen setzt keinen Beginn in der Geschichte. Somit wird die Suche nach einer Geschichte der Pathologie „zu einem unentrinnbaren Schicksal, das sich ‚von jeher’ in der naturhaften Verfasstheit des jüdischen Kollektivkörpers eingeschrieben hat“ (S. 107).

Den ersten Teil des Sammelbandes schließen eine Ausstellungsbesprechung von Barbara Schellewald über die Installation „After the Freud Museum“ von der Konzeptkünstlerin Susan Hiller und ein Interview von Céline Kaiser mit der Künstlerin ab. Die Ausstellung basiert auf einer Sammlung von Objekten und Texten, die mit der Person Sigmund Freuds oder Elementen der Psychoanalyse in Zusammenhang stehen.

Der zweite Teil des Sammelbandes nähert sich thematisch den psychosomatischen Ansätzen in der Medizin, wobei zumeist ein klassischer Zugang über die Biografie und Aspekte des Werkes der Wissenschaftler gewählt wurde. Die ersten drei Artikel widmen sich den frühen Psychosomatikern Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker. Ulrich Schultz-Venrath stellt in einem Vergleich der Bedeutung beider für die Fachgeschichte der Psychosomatik fest, dass Ernst Simmel, einer der ersten psychosomatischen Praktiker, durch seine erzwungene Emigration heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Dagegen diente von Weizsäcker in der bundesdeutschen Nachkriegszeit als Identifikationsfigur für Kritiker der Schulmedizin, trotz der Hinweise auf seine ideologische Annäherung und indirekte Verstrickung mit dem Nationalsozialismus und der Euthanasie. Schultz-Venrath plädiert für eine Auseinandersetzung der Psychosomatik mit ihren vergangenheitspolitischen blinden Flecken und für eine nachträgliche Würdigung der in den Lehrbüchern überwiegend verschwiegenen jüdischen Pioniere der Psychosomatik. Marie-Luise Wünsches Beitrag beschäftigt sich mit Ernst Simmels nach dem ersten Weltkrieg entstandenen Arbeiten zur Kriegsneurose und seiner 1946 erschienen Schrift „Antisemitismus und Massenpsychopathologie“. Demnach seien Kriegsneurose und Antisemitismus zwei verschiedene Arten, an der Zivilisation zu erkranken. Der Beitrag von Rainer-M. E. Jacobi stellt zwei wesentliche Elemente von Viktor von Weizsäckers psychosomatischen Auffassungen dar: seine Forderung nach einer Medizinischen Anthropologie und seine Überzeugung, dass das Erzählen der eigenen Krankheitsgeschichte für den Prozess der Heilung bedeutsam sei. Anschließend thematisiert Gerrit Hohendorf die Adaption von Sigmund Freuds Konversionsbegriff auf die Deutung organischer Krankheiten bei Felix Deutsch. Helmuth Sieffert beschreibt die Rolle spiritueller und religiöser Ansätze bei Georg Groddeck. Abgeschlossen wird der Band von einem Beitrag von Matthias Bormuth über den sich von psychotherapeutischen Bestrebungen abgrenzenden Medizintheoretiker Richard Koch und dessen Medizinverständnis zwischen Magie und Wissenschaft.

Der Titel des Sammelbandes könnte zu der Annahme verleiten, dass sich der Band als weiterer Beitrag zu der bisherigen Forschung zur „Nervosität der Juden“ versteht. Bislang wurde dieses Thema einerseits unter dem Aspekt der Bedeutung erforscht, die die Konstruktion einer pathologischen „jüdischen Psyche“ und eines kranken „jüdischen Körpers“ für die Entwicklung von antisemitischen Stereotypen hatte.1 Andere Arbeiten behandelten dagegen die Auseinandersetzung um „jüdische Pathologien“ aus innerjüdischer Perspektive im Zeichen identitätspolitischer Debatten.2 Abgesehen von Céline Kaisers Aufsatz beschäftigt sich jedoch der Großteil der Autoren nur am Rande mit dem „nervösen Juden“. Dessen ungeachtet zeigt der Band auf, in welche unterschiedlichen Felder der Wissenschaften dieser Topos Einzug erhielt.

Der Sammelband bietet ein breites Spektrum von anregenden Beiträgen, sowie einen von den Herausgeberinnen präsentierten anspruchsvollen theoretischen und analytischen Rahmen. Der Verdienst der Artikel zur Psychosomatik im zweiten Teil ist es, auf die Beiträge zur Entwicklung und Anwendung der Psychoanalyse jenseits von Freud hinzuweisen. Bedauerlicherweise arbeiten die meisten dieser Aufsätze jedoch stark biografisch und werkimmanent, wodurch eine Kontextualisierung mit den übergeordneten Themen des Sammelbandes vernachlässigt wird. Diese fehlende inhaltliche Geschlossenheit stellt jedoch ein häufiges Problem von Tagungsbänden dar, besonders bei einem interdisziplinären Projekt wie diesem.

Anmerkungen:
1 Gilman, Sander, The Jew`s Body, New York 1991; Ders., Freud, Identität und Geschlecht, Frankfurt am Main 1994; Hödl, Klaus, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997.
2 Efron, John M., Medicine and the German Jews, New Haven 2001; Ders., Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siècle Europe, New Haven 1994; Hart, Mitchell B., Racial Science, Social Science and the Politics of Modern Jewish Identity, Stanford 2000.

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