Titel
Mars und Minerva. Militär und Bildung in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Gesammelte Beiträge


Autor(en)
Stübig, Heinz
Erschienen
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Renate Hinz, Institut für Allgemeine Didaktik und Schulpädgogik, TU Dortmund

Bildungshistorische Betrachtungen des 18. und 19. Jahrhunderts skizzieren für das preußische Staatsgebiet einen vielfältigen Wandlungsprozess, der in ökonomischen, politischen und kulturellen Bereichen partielle Modernisierungen hervorruft, durch die einerseits tragfähige Reformen implementiert, andererseits aber auch Rückführungen in traditionelle Strukturen eingeleitet werden. Die ihnen inhärente Ambivalenz von ‚Verändern‘ und ‚Bewahren‘ lässt sich auch für die militärischen Bildungsaspirationen nachweisen, die das Verhältnis von Pädagogik und Politik in spezieller Weise prägen und das Militär in der ihm übertragenen Sozialisationsfunktion zu einem bedeutsamen Bildungsfaktor stilisieren. Initialpunkt für diese Entwicklung ist die dem Krisentheorem verpflichtete Notwendigkeit, Preußen in seiner aus der Kriegsniederlage von 1806/07 resultierenden desolaten Lage durch die Mobilisierung innerer Kräfte zu neuer Staatsmacht zu verhelfen. Die in bildungsreformerischer Absicht formulierte Zielsetzung, jeden heranwachsenden Einwohner zu einem selbstverantwortlich handelnden Gesellschaftsmitglied zu erziehen, das befähigt ist, die Stabilisierung des Staates durch die Stärkung eines nationalen Identitätsbewusstseins zu unterstützen, schlägt sich nicht nur im Ausbau des Schulsystems, sondern in entscheidender Weise auch in der militärischen Bildung und Erziehung nieder. Sie geht mit einer Transformation des Kriegsbegriffes und einem entsprechenden Wandel militärischer Kampfstrategien sowie einer organisatorischen und strukturellen Neugestaltung der Armee einher. Erwartungsgemäß vollzieht sich dieser Prozess nicht geradlinig – vielmehr lassen sich neben der Durchsetzung grundlegender Reformwerke auch Verwerfungen und Divergenzen nachweisen, mit denen die Komplexität des Modernisierungsstrebens in den Fokus rückt. Ihrer Analyse widmet sich der von Heinz Stübig publizierte Sammelband.

Bereits der Obertitel „Mars und Minerva“ verweist mit der Symbolisierung der zerstörerischen Kraft durch den Kriegsgott einerseits und der Bedeutsamkeit von Wissenschaft durch die Göttin der Weisheit und strategischen Kriegsführung andererseits auf die neu definierten, zum Teil aber auch konfligierenden Anstrengungen Preußens im Versuch seiner Neuordnung. Ihm subsumieren sich elf Einzelbeiträge, die in ihrer auf das erkenntnisleitende Interesse ausgerichteten Perspektive, „Untersuchung des vielfältigen Beziehungsgefüges zwischen der bewaffneten Macht und den zeitgenössischen Bildungs- und Erziehungsvorstellungen“ (S. 7) zu sein, jeweils mit einer abgeschlossenen Thematik für sich stehen, ohne den Gesamtfokus aus dem Auge zu verlieren.

Als Zentrum des neuen Denkens wird die zeitgenössische Forderung nach einer auf Enthusiasmus und selbstständigem Handeln der Militärangehörigen beruhenden Kriegsführung hervorgehoben, deren Grundpfeiler in einer besseren Bildung sowie der sozialen und ökonomischen Aufwertung des Soldaten und Offiziers gesehen werden. Mit dem Aufsatz „Berenhorst, Bülow und Scharnhorst als Kritiker des preußischen Heeres der nachfriderizianischen Epoche“ (21 Seiten) thematisiert Stübig eben dieses militärische Bildungsanliegen, das darüber hinaus zu einer Identifikation der gesamten Bevölkerung mit dem Krieg führen soll. Dass das Bestreben der preußischen Regierung, die Kriegsführung zu einer nationalen Angelegenheit zu machen, wesentlich durch ein der Heeresreform zugrundeliegendes pädagogisches Denken gestützt wird, legitimiert sich mit der Sehnsucht nach einer standesübergreifenden Begeisterung für den Kampf um das Vaterland. „Im Kern ging es um die Überwindung der Feudalstruktur mit ihren scharfen gesellschaftlichen Abgrenzungen zugunsten einer Gesellschaftsordnung, in deren Mittelpunkt der Begriff der Nation rückte“ (S. 158). Der Beitragstitel „‚Den Geist der Armee zu erheben und zu beleben, die Armee und Nation inniger zu vereinen‘. Die nationalpädagogischen Vorstellungen der preußischen Militärreformer“ (26 Seiten) verweist in diesem Kontext auf ein zentrales Moment des preußischen Reformwerkes, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht bei gleichzeitiger Bildungsvermehrung ‚für alle‘ als Grundvoraussetzung für die politische Wiedererstarkung Preußens definiert. Dass sich der Anspruch einer Professionalisierung aller Militärangehörigen letztendlich nur partiell realisieren lässt, wird in dem Kapitel über „Die preußisch-deutsche Armee als ‚Schule der Nation‘ im 19. Jahrhundert. Institutionelle Verflechtungen und pädagogisch-politische Auswirkungen“ (22 Seiten) zurecht auf das nachweisliche Scheitern der mit den Pädagogisierungsabsichten zugleich intendierten „Verbürgerlichung des Heeres“ zurückgeführt, auch wenn militärische Wertvorstellungen in weite Bereiche der Gesellschaft übernommen werden. Die Frage, wie und in welchem Maße die (pädagogischen) Ansätze der Heeresreform in die Öffentlichkeit hineinwirken konnten, führt zu einer Darstellung des Zusammenhangs von strukturellen und organisatorischen Neuerungen, die neben dem Erziehungsgedanken, „die Masse der gezogenen Rekruten zu treuen und gehorsamen Untertanen zu erziehen“ (S. 282), vor allem Garantien der sozialen Absicherung für ausscheidende (Unter-)Offiziere sowie neue Formen sozialer Akzeptanz gegenüber den durch Aufhebung der Exemtion ins Militär eingetretenen Bürger schaffen. Sie führen zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Anerkennung und Autoritätsübernahme, die das staatliche Vorankommen stärkten. Allerdings verlaufen die reformerischen Entwicklungen nicht ohne die Entstehung von Brüchen. Hierauf weisen die Ausführungen über „Die preußischen Reformen: ein ‚bürokratisch kontrolliertes Programm‘“ (23 Seiten) hin, die die zeitliche Wende zum Beginn 19. Jahrhunderts und das Reformwerk als eine defensive, ‚von oben‘ gelenkte Modernisierung erkennen lassen. Sie spiegelt sich in einer Lockerung Jahrzehnte lang geltender Exemtionen, grundlegenden Veränderungen militärischer Strukturen und Zugangsberechtigungen sowie einer Humanisierung des Strafrechts und der Realisierung des Partizipationsgedankens mittels Einführung der Wehrpflicht wider, die wesentliche Schritte darstellen, um das Militär in das Konzept der preußischen Reorganisation zu integrieren, aber ohne dabei staatssichernde Zuverlässigkeiten aufzugeben.

Eine weitere Argumentationslinie der Beitragssammlung widmet sich der Umsetzungen des Bildungsanspruches. Hier richtet sich der Blick sowohl auf institutionelle Neuorientierungen als auch auf eine theoriegeleitete Begründung von Ausbildungsplänen. Während der Aufsatz „Kadettenanstalt und Kriegsschule Potsdam. Bildung und Erziehung des Offiziersnachwuchses im preußischen König- und deutschen Kaiserreich“ (26 Seiten) anhand ausgewählter Bildungsanstalten in exemplarischer Weise die Ausbildungssituation und den mit ihr einhergehenden – zugegebener Maßen die intendierte (bildungs-)reformerische Zielsetzung nur bedingt unterstützenden – Sozialisationsprozess beleuchtet, hebt eine Auseinandersetzung mit Adolph Diesterweg auf eine biografische und werkimmanente Konkretisierung „Zum nationalpädagogischen Diskurs in Deutschland während des 19. Jahrhunderts“ (29 Seiten) ab, in dessen Zentrum die Beleuchtung des sich traditionell wandelnden Nationalbewusstseins steht.

Mit einer eigenen Akzentsetzung wird die im pädagogischen Reformdenken eingeforderte Wissenschaftsorientierung durch Beiträge zum Stand militärischer Fachzeitschriften sowie zu Bedingungen akademischer Ausbildungen aufgegriffen. In einem exemplarischen Vorgehen dokumentiert Stübig mit der von Scharnhorst gegründeten „Militair Bibliothek“ (40 Seiten) den öffentlichen Diskussionsort über Unterrichtsfächer, taktische Feldoperationen und Ausbildungsmerkmale der Soldaten und Offiziere. Die Einrichtung einer universitären „Professur der Kriegswissenschaften“ (21 Seiten), die erstmalig 1787–1805 in Marburg existiert, steht in ihrer Besetzung durch Franz Karl Schleicher für die – im Beitrag „Das höhere militärische Bildungswesen im Zeichen der Aufklärung“ (27 Seiten) eingeforderte – Befähigung des Soldaten zu einem situationsadäquaten militärischen Handeln, das in einem expliziten Bemühen um ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Praxis Studieninhalte und -methoden erfordert, die durch die Übernahme von Selbstverantwortung und Eigenständigkeit notwendige Revisionen der Kriegsführung zulassen.

Mit den skizzierten inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, die sich um generelle zeitgeschichtliche Darstellungen von institutionellen Entwicklungen, biografische Einschübe und Hinweise auf Publikationen sowie Reformvorhaben zur Sicherung nationaler Ansprüche ranken, entwickelt Heinz Stübig eine Mehrperspektivität, mit der es gelingt, den Facettenreichtum der auf unterschiedlichen Ebenen gelagerten Bemühungen des Modernisierungsprozesses zu verdeutlichen. Die Herausgabe eines Sammelbandes mit thematisch unterschiedlichen, zum Teil bereits an anderen Orten publizierten Texten, erweist sich dabei als eine probate darstellerische Form, um dem Aspektenreichtum gerecht zu werden, auch wenn zahlreiche argumentative Überschneidungen oder Wiederholungen zugegebenermaßen die Folge sind und eine abschließende, die Vielschichtigkeit bündelnde Zusammenfassung am Ende des Buches vermutlich zu einer noch stärkeren Fokussierung des quellenbasierten Forschungsanliegens geführt hätte. Zugleich bietet sich mit der eher offen gehaltenen Vorgehensweise aber auch die Möglichkeit, das neu auftretende Verhältnis von Tradition und Moderne in seinen Ambivalenzen aufzuzeigen sowie Chancen und Grenzen des sogenannten ‚deutschen Sonderwegs‘ zu benennen. Dieses geschieht in einem akribisch analysierenden Vorgehen, durch das Stübigs ‚Mars und Minerva‘ eine informative und zugleich anschauliche Lektüre verspricht.

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