V. Berghahn: Europa im Zeitalter der Weltkriege

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Titel
Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt


Autor(en)
Berghahn, Volker
Reihe
Europäische Geschichte
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
205 S.
Preis
€ 10,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Owzar, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist vor allem eine Geschichte der Diktaturen und Weltkriege. Insofern unternimmt Volker Berghahn mit seinem Buch über „Europa im Zeitalter der Weltkriege“ keinen geringeren Versuch, als auf knapp 200 Seiten einen Gesamtüberblick über jene Epoche abzuhandeln, die Eric Hobsbawm nicht ohne guten Grund als „Katastrophenzeitalter“ bezeichnet hat. 1 Weil Krieg und Terror vor allem von deutschem Boden ausgingen, ist es nur konsequent, dass Berghahn insbesondere Deutschland in den Blick nimmt. Auch das „stalinistische Gewaltexperiment“ erfährt eine eingehendere Behandlung (S. 103-109). Dass indes einige Kapitel der europäischen Geschichte, etwa der spanische Bürgerkrieg, unterbelichtet bleiben, lässt sich mit dem begrenzten Raum entschuldigen, der dem Verfasser zur Verfügung stand. Auch dass die Greueltaten der NS-Kollaborateure nicht weiter betrachtet werden, ist zu vertreten. Schließlich, so Berghahn, wäre es zu den „Mordaktionen gegen Minderheiten und vor allem gegen Juden [...] ohne die deutsche Oberherrschaft“ kaum gekommen (S. 148).

Problematisch an Berghahns Darstellung über „Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt“, so der Untertitel, ist denn auch nicht ein Mangel an Informationen. Berghahn hat die Seiten zur Ausbreitung der Fakten bestens genutzt. Problematisch ist vielmehr der Versuch, den Prozess eskalierender Gewalt mit einer einzigen These in den Griff zu bekommen. Diese sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch ziehende These lautet: Es gab in Europa eine Alternative zu den Gewaltorgien zwischen 1914 und 1945. Den auf industrielle Waffenproduktion orientierten Regimes der „Gewaltmenschen“ stand das Modell einer demokratisch verfassten, „friedlichen massenproduzierenden und massenkonsumierenden Industriegesellschaft“ gegenüber (S. 12).

Dieses zivile Gesellschaftsmodell sieht Berghahn vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika verwirklicht; in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten sie die realexistierende Kontrastfolie zur Entwicklung in Europa. Namentlich Henry Ford wird von Berghahn zum Protagonisten dieser liberal-kapitalistischen Konsumgesellschaft verklärt, „die eine Rationalisierung der Produktion nicht zur Erzeugung von todbringenden Waffen“ vorantreibe, sondern „um die Gewinne aus industrieller Massenproduktion durch Preissenkungen an die Konsumenten weiterzugeben und so deren Lebensstandard zu verbessern“ (S. 83).

Manches an dieser These erinnert an Norbert Bolz' kürzlich veröffentlichtes „Konsumistisches Manifest“. Auch hier wird der Konsumismus zum „Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus“ des Fanatismus, konkret des religiösen Fanatismus, erhoben. 2 So wie Bolz auf die Nutzlosigkeit militärischer Mittel im Kampf gegen den Terror verweist und stattdessen den „Marktfrieden“ als Antidot empfiehlt, fordert Berghahn einen Export der Konsumgesellschaft in die Dritte Welt, um einer weiteren Gewalteskalation vorzubeugen, die unweigerlich auf den Westen zurückschlagen müsse. Berghahn wörtlich: „Die dunkle Seite der Globalisierung, die der Westen während der optimistischen neunziger Jahre nicht zur Kenntnis nahm, wird langsam sichtbar. Eine erste Probe dessen, was den Westen erwartet, wenn der New Deal nicht angeboten wird oder scheitert, erhielt die Welt im September 2001“ (S. 177).

Spätestens hier wird deutlich, dass Berghahns These viel zu allgemein gehalten ist, um den konkreten historischen Prozessen zwischen 1914 und 1945 gerecht werden zu können. Unklar bleibt etwa, warum „die Gewaltmenschen“ sich durchzusetzen vermochten. Einerseits unterstellt Berghahn, implizit wie explizit, dass die Menschen so etwas wie eine freie Wahl zwischen der Konsumgesellschaft und der Gewaltherrschaft gehabt hätten: „Es gibt immer Alternativen, und das trifft auch auf Europa in dieser Epoche zu.“ (S. 12) Andererseits behauptet er einen kausalen Zusammenhang zwischen demokratischer Zivilgesellschaft und sozioökonomischer Prosperität, „daß eine demokratische politische Kultur immer auf Sand gebaut [sei], wenn die Wirklichkeit zunehmenden Wohlstandes“ fehle (S. 15). Warum allerdings die Gewaltherrschaft in den von der Weltwirtschaftskrise heimgesuchten Ländern Europas jeweils höchst unterschiedliche Formen und Ausmaße annahm, darauf findet der Leser keine Antwort.

Das liegt nicht zuletzt an der Begrifflichkeit. Was unter dem nahezu ahistorisch anmutenden, allgegenwärtigen Terminus „Gewaltmensch“ zu verstehen ist und was ihn dazu macht, wird an keiner Stelle definiert. Zwar differenziert Berghahn in seiner Darstellung der Jahre 1932 bis 1938 in Deutschland zwischen drei Typen: den in machtpolitisch-militärischen Kategorien denkenden Berufsoffizieren, den sozialdarwinistisch-rassistisch orientierten Parteibonzen und Ministerialbürokraten sowie den ebenfalls antisemitisch eingestellten kühl-kalkulierenden Machttechnikern (S. 127-129). Sonst aber verzichtet Berghahn auf eine systematische Typologie des „Gewaltmenschen“. So verweist er zwar auf einschlägige Darstellungen wie Christopher Brownings differenzierte Studie über das Reserve-Polizeibataillon 101. 3 Von dem Ursachenbündel aber, das Browning und andere Historiker für die Beteiligung „ganz normaler Männer“ am Judenmord ausgemacht haben, konzentriert Berghahn sich auf die ideologische Komponente: auf den Rassismus im Allgemeinen, den Antisemitismus im Besonderen.

Ausschließlich ideologische Ursachen sind es auch, die Berghahn für die Verbrechen der Kolonialstaaten ausmacht. Immerhin – und das ist keine Selbstverständlichkeit – bricht Berghahn mit seinem Kapitel über den „Fluch des Ethnonationalismus und Kolonialismus“ (S. 29-42) die eurozentrische Perspektive an mehreren Stellen des Buches auf. Zumal er nicht nur den Expansionsdrang und die daraus resultierenden „Katastrophen für die nichteuropäischen Gesellschaften, voran für die Afrikaner“ (S. 33) beschreibt, sondern auch eine kongolesische Augenzeugin zu Wort kommen lässt. Deren ausführlich zitierte Leidensgeschichte vermag angesichts des komprimierten Textes beim Leser eine um so stärkere Wirkung zu entfalten (S. 34f.). Was wiederum die Plausibilität der anschließenden, leider nicht systematisch verfolgten These unterstreicht: dass „das gewaltsame 20. Jahrhundert [...] nicht zwei, sondern drei totalitäre Systeme: Kommunismus, Faschismus und den europäischen Kolonialismus“, behauste (S. 36).

Eine zufriedenstellende multikausale Erklärung für die Bestialitäten der belgischen Kolonialtruppen sucht man indes ebenso vergebens wie für die sowjetischen Massenverbrechen. Stets verweist Berghahn auf ideologische Motive und Dispositionen. Darüber hinausgehende Erklärungsmuster werden nicht erörtert, so wie auch auf die einschlägigen Ansätze aus Nachbardisziplinen wie der Psychologie und den Sozialwissenschaften nicht verwiesen wird. 4 Schließlich räumt Berghahn auf der vorletzten Seite selbst ein, dass er eine „Antwort auf die psychologische Frage, warum Männer [...] fähig und bereit sind, wehrlose Frauen, Kinder und alte Menschen zu foltern und anschließend eigenhändig zu ermorden“, schuldig geblieben ist (S. 178).

Trotz all dieser Einwände: für die wachsende Zahl an Lesern, die nach knappen und instruktiven Überblicksdarstellungen verlangt, ist Berghahns Buch durchaus zu empfehlen, zumal es den Stoff nicht nur übersichtlich gliedert, sondern auch auf einem aktuellen historischen Wissensstand präsentiert und gelegentlich auch diskutiert.

Anmerkungen:
1 Siehe Hobsbawm, Eric, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts,
München 1995, S. 21; S. 37-281.
2 Bolz, Norbert, Das konsumistische Manifest, München 2002, S. 16.
3 Vgl. Browning, Christopher, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon und die
„Endlösung“ in Polen, Reinbek 1996.
4 Für einen knappen aktuellen Überblick zur soziologischen Gewaltforschung siehe
Bonacker, Thorsten, Zuschreibungen der Gewalt. Zur Sinnförmigkeit interaktiver, organisierter und gesellschaftlicher Gewalt, in: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis 53 (2002), S. 31-48, insbesondere S. 31-34.

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