Cover
Titel
Agenten – Patrioten – Westaufklärer. Staatssicherheit und Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR


Autor(en)
Wiegmann, Ulrich
Erschienen
Berlin 2015: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edith Glaser, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Kassel

Als ich das hier zu besprechende Buch das erste Mal in einer Buchhandlung ausgelegt sah, war der Griff zu dieser Veröffentlichung zunächst vorrangig nicht motiviert durch mein wissenschaftliches Interesse an den Arbeitsergebnissen eines geschätzten Kollegen, sondern die pure Neugierde auf die Aufdeckung von Stasi-Verstrickungen in der Elite der DDR-Pädagogik steuerten den Blick auf die ersten Seiten. Aber der Berliner Bildungshistoriker Ulrich Wiegmann bedient diese Wissbegierde nicht. Er hatte sich entschieden, „Klarnamen und überwiegend Funktionsbezeichnungen zu vermeiden“ (S. 11), weil „die Enttarnung von inoffiziell für die Stasi tätigen Mitarbeiter/innen der APW“ (ebd.) nicht seine Aufgabe als Wissenschaftler sein sollte. Aber ihn interessieren die Menschen, die Wissenschaftler/innen, die als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) vom Staatssicherheitsdienst der DDR angeworben und in der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) beschäftigt worden waren. Er fragt: „Was taten sie im geheimdienstlichen Auftrag? Was rechtfertigt ihre öffentliche Verachtung und teilweise berufliche Ausgrenzung bis heute? Wie böse war ihr Handeln? Oder war es nur banal? Menschlich böse banal?“ (S. 9) Schon diese Fragen verweisen darauf, dass hier keine Institutionengeschichte der erziehungswissenschaftlichen Großforschungseinrichtung der DDR vorgelegt wird.1 Auch die Auswirkung staatlicher Überwachung auf inhaltliche Orientierungen und Produktivität der APW stehen nicht im Fokus. Es sind (berufs-)biographisch orientierte Fallgeschichten. Sie leiten die chronologische Abhandlung über die Verstrickung zwischen der Staatssicherheit mit dem 1949 gegründeten Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut über die 1970 eingerichtete Akademie der Pädagogischen Wissenschaften bis hin zum personellen Umbau und der Neustrukturierung pädagogischer Forschungseinrichtungen zwischen Herbst 1989 und der Wiedervereinigung 1990. Die Materialbasis dafür sind die einschlägigen Quellen im Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung sowie beinahe 100 umfangreiche Personen- und Sachakten aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Gespräche mit ehemaligen IM dienten mehr der Bestätigung der aus der Quellenauswertung gewonnenen Erkenntnisse als dass sie selbst Quellen für die Forschung waren (vgl. S. 8).

In drei Kapitel ist die Abhandlung gegliedert. Zunächst wird die Verbindung zwischen Stasi und pädagogischem Zentralinstitut beschrieben. Orientiert an bekannten Fällen, wie dem von Max-Gustav Lange, der einer der führenden Erziehungswissenschaftler der jungen DDR war und 1950 noch Westberlin „übersiedelte“, und dem von Hans-Herbert Becker, der nach seinem Vorschlag für Differenzierungen in der Einheitsschule und dem Bekanntwerden seiner NSDAP-Mitgliedschaft ebenfalls neue Berufsperspektiven in der BRD suchte, und an mehreren anonymisierten Personen, arbeitet Wiegmann heraus, dass in den Anfangsjahren keineswegs die totale Überwachung der Pädagogischen Institution gegeben war. Erst nach dem Mauerbau 1961 stellte die Stasi über die Mitsprache bei den Stellenbesetzungen unter den Mitarbeitenden eine gewisse Systemtreue her. Für die in den ersten 20 Jahren angeworbenen IM wird „Geltungsstreben bis hin zu Geltungssucht“ (S. 126) sowie ein gewisses Gefälle zwischen bescheinigter wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit und eigener Einschätzung davon konstatiert.

Das zweite Kapitel über die APW gliedert sich in drei Teile, die mit „Aufstieg und Fall“, „Linien-IM“ und „Inoffizielle (Außendienst-)Mitarbeiter“ überschrieben sind. Das erste Unterkapitel macht noch einmal das Problem verifizierbarer Daten bzgl. einer IM-Tätigkeit deutlich. Zwar konnte für 101 Mitarbeitende (14,4 Prozent), darunter ca. 25 Prozent Frauen, eine Verpflichtung belegt werden, aber manche Akteneinsichten wurden verwehrt, manche geschredderten Bestände befinden sich noch in der Rekonstruktion. Mit diesen Zahlen lag der Verpflichtungsgrad in der APW gleichauf mit anderen Bereichen wie Post und Militär. Welcher Art die IM-Tätigkeit war, wie man dazu kam und wie solche Rekrutierungen wieder zurückgenommen wurden, wird an vielen „Fällen“ erzählt. Klar wird hierbei, dass es bei der Arbeit der IM nicht darum ging, „sich eines äußeren Feindes zu erwehren“ (S. 269), sondern „politisch-ideologische Stimmungsbilder und von der schul- und wissenschaftspolitischen SED-Linie abweichende Auffassungen zu identifizieren“ (ebd.). Klar wird auch, welche disziplinären Teilbereiche – neben der Leitung der APW – als kontrollrelevant von der Stasi angesehen wurden: Es waren nicht nur diejenigen mit „Westkontakten“, wie die Arbeitsstelle für Auslandspädagogik oder das Institut für Fremdsprachenunterricht, sondern auch jene, die den Kern des DDR-Schulwesens ausmachten, wie die Institute für Polytechnische Bildung und für gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht und die, welche die Vermittlung (Institut für Didaktik und Unterrichtsmittel) ins Zentrum stellten.

Im dritten Teil thematisiert Wiegmann den Umbau bzw. das Ende beider Institutionen. In der sehr detaillierten Beschreibung von Rücktritt und Neuausrichtung wird auch die mögliche Beteiligung des Ministeriums für Staatssicherheit bei den Empfehlungen für die neue Leitung thematisiert. Auffallend in diesem Prozess ist die Dominanz ehemaliger IM in den Leitungsfunktionen der neuen Gremien und der alten Institute, die dort an der Neuausrichtung der Akademie arbeiteten, aber zugleich ihre eigenen Verstrickungen in das alte System nicht APW-öffentlich gemacht haben.

Das in den Eingangsfragestellungen eingewobene Fragment über die „Banalität des Bösen“, welches ja mit Hilfe Hannah Arendts einen Vergleich der nationalsozialistischen Diktatur mit der SED-Herrschaft herstellt, sei „nicht einmal näherungsweise geeignet, das Verhalten der APW-IM zu verstehen und zu begreifen.“ (S. 362) Wiegmann benennt das Ausspionieren der IM, welches um des eigenen Vorteils willen getan wurde, als Vertrauensbruch und Verrat, aber dieses Tun habe andere nicht direkt in die Gefängnisse der Staatssicherheit geführt.

Die Unzufriedenheit der Rezensentin am Ende des Buches basiert nicht auf der unerfüllten Erwartung nach den Klarnamen der IM. Das „Distanzgebot“ (S. 359) des Autors bleibt weiterhin nachvollziehbar, auch wenn er es manchmal nicht einhält (z.B. S. 354). Die Unzufriedenheit speist sich einerseits symbolisch aus den 123 Abkürzungen, wovon weit über die Hälfte der Sprache der Kader entstammt, die Abläufe codieren und verschleiern, und somit die Leserin zur Distanz an der Sache zwingen und eine dichte Beschreibung für Insider bleiben. Andererseits kommt sie aus der Unklarheit der Erkenntnis- und Schreibintention. Was wollte der Autor eigentlich präsentieren? Ergebnisse aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung, aus einem biographischen oder aus einem politikwissenschaftlichen Zugang? Diese Unklarheit resultiert meines Erachtens aus zwei Punkten: Es ist kein expliziter Theoriebezug benannt, psychoanalytische Theorieangebote werden dezidiert zurückgewiesen (S. 8). Über die in die IM-Akten eingelegten Berichte der Führungsoffiziere findet sich keine explizite systematische Quellenkritik. Und wenn man anstrebt, „diese Quellen [...] sprechen zu lassen“ (S. 10), dann sind leider die „Produktionsbedingungen“ der eigenen, für die Rezensentin trotzdem aufklärende Erzählung nicht ausreichend reflektiert. Aber vielleicht wollte sich Wiegmann auch gar nicht in eine der wissenschaftlichen Subdisziplinen einordnen, weil es ihm schlussendlich um ethische Fragen ging – nämlich um die nach der schuldhaften Verstrickung der IM als Wissenschaftler/innen in das Überwachungssystem der Stasi innerhalb der pädagogischen Großforschungseinrichtung der DDR. Aber auch dazu wäre es – vor allem um die notwendige wissenschaftliche Distanz zum Gegenstand zu haben – hilfreich gewesen, sich für ein explizites Theorieangebot zu entscheiden und die qualitativ-methodische Herangehensweise zu klären.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Andreas Malycha, Die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR 1970–1990: zur Geschichte einer Wissenschaftsinstitution im Kontext staatlicher Bildungspolitik, Leipzig 2008; Sonja Häder / Ulrich Wiegmann (Hrsg.), Die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Frankfurt am Main 2007.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch