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Titel
Geschichte als Politik. Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Guth, Stefan
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 45
Erschienen
Anzahl Seiten
VII, 520 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Weber, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Im Rückblick auf die langjährige Tätigkeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission (gegründet 1972) konstatierte der ehemalige polnische Botschafter Marek Prawda, dass mit ihr endlich ein wirklicher Dialog zwischen Deutschland und Polen stattgefunden habe. „Bis dahin“, so Prawda im Jahr 2007, „bestand der Dialog aus zwei Monologen.“ (S. 351) Nun kann man Prawda zustimmen oder nicht. Die Frage aber, ob die schwierigen Beziehungen zwischen der deutschen und der polnischen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert von Dialogen oder nicht vielmehr von einem eingeübten Monologisieren und verfestigten „Nebeneinanderher“ geprägt worden sind, betrifft jedenfalls den Kern dieser Beziehungsgeschichte, die das Thema der 2009 an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Bern angenommenen Dissertation ist. Ihr Verfasser Stefan Guth hat sich schon im Titel dafür entschieden, von einem „Historikerdialog“ zu sprechen. Dessen Geschichte untersucht er in drei Zeitabschnitten – den 1930er-, den 1950er- und den 1970er-Jahren. Obschon sich Guth dankenswerterweise nicht sklavisch an diese zeitlichen Schwerpunkte hält und Abstecher zulässt, sind die Phasen plausibel gewählt. Denn ihm geht es nicht nur darum, eine deutsch-polnische Beziehungsgeschichte zu schreiben, sondern zugleich um eine Betrachtung über das in diesem Fall besonders wirkungsmächtige Wechselverhältnis von Geschichte und Politik. Dass sich dessen situative Dynamiken und Entwicklungen am Ende der Zwischenkriegszeit und zu Beginn der NS-Herrschaft, nach dem Zweiten Weltkrieg und unter den veränderten innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges sowie im Zuge der bundesdeutschen bzw. europäischen Entspannungspolitik besonders prägnant zeigten, liegt auf der Hand.

Guth hat ein eindrucksvolles und überzeugendes Buch vorgelegt. Wer eine sorgfältig recherchierte, auf einer breiten empirischen Basis ruhende und flüssig zu lesende geschichtliche Bestandsaufnahme der deutsch-polnischen Historikerbeziehungen sucht, dem sei diese zweifach preisgekrönte Dissertation nur empfohlen. Mit beeindruckender Kenntnis beschreibt Guth in den insgesamt sechs Kapiteln die deutsch-polnischen Verhärtungen im Schatten von Versailles, diskutiert den Sündenfall der deutschen Ostforschung im „Dritten Reich“ und die Konjunkturen und ideologischen Verrenkungen der polnischen Westforschung sowie die Verständigungsversuche der deutsch-polnischen Historikerkommissionen; derjenigen in der DDR ebenso wie der bereits erwähnten (bundes)deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Dass er sich dabei, wenig überraschend, auf die Orte, Akteure und Institutionen der deutschen Ostforschung und der polnischen Westforschung konzentriert, erlaubt eine besonders aufschlussreiche historische Tiefenbohrung: in die politisch-ideologischen Verrenkungen der polnischen Westforscher um Zygmunt Wojciechowski (1900–1955) ebenso wie in den freimütigen Revanchismus der frühen bundesrepublikanischen Historikergilde.

So distanzierte sich etwa der Doyen der polnischen Westforschung Wojciechowski – „ganz berechnender Realpolitiker“ (S. 142) – schon während des Weltkrieges vom „ostpolnischen Konzept“ der Heimatarmee und schlug sich auf die sowjetische Seite, um seine westpolnische Nationskonzeption in der Geschichtswissenschaft siegreich zu platzieren. Darüber hinaus propagierte das Posener Westinstitut willfährig die von Stalin inszenierte gesamtslawische Solidarität und einen slawisch-germanischen Kulturkampf, bevor Wojciechowski und seine Mitarbeiter in den gefährlichen Strudel der spätstalinistischen Säuberungen gerieten. In der jungen Bundesrepublik wiederum verfolgten die politischen Interventionen der Ostforschung in den ersten Jahren des Kalten Krieges ziemlich unverhohlen das Ziel, die verlorenen Ostgebiete „zurückzuholen“. In Göttingen, wohin bei Kriegsende vor allem die Königsberger Ostforscher geflohen waren, arbeitete der „Göttinger Arbeitskreis für den Deutschen Osten“ um Theodor Schieder zielstrebig daran, den Alliierten zur Vorbereitung der Moskauer Außenministerkonferenz im Frühjahr 1947 die „Unentbehrlichkeit Ostpreußens für Deutschland […] vor Augen zu halten“ (S. 240). Die Beziehung zwischen Politik und Geschichte verlief überall scheinbar zum gegenseitigen Vorteil. „Bis in die späten Fünfzigerjahre“, so Guth, „erblickte das Auswärtige Amt im Göttinger Arbeitskreis ein nützliches Sprachrohr für revisionistische Forderungen, die das offizielle Deutschland so nicht erheben konnte […]“ (S. 241). Gleichzeitig beschreibt der Autor, wie der Kalte Krieg belasteten Ostforschern „einen Rehabilitationspfad“ anbot, „der die intellektuellen Handlanger der nationalsozialistischen Ostpolitik zu Vorkämpfern gegen die sowjetische Bedrohung werden ließ“ (S. 239).

Die im Buch nachgezeichneten Verwicklungen belegen auf überzeugende Art und Weise, in welchem Ausmaß es sich beim Wechselverhältnis von Geschichte und Politik um ein Verhältnis zum beiderseitigen Nutzen handeln kann – zumindest aus zeitgenössischer Sicht. Dabei befand sich die Geschichtswissenschaft keinesfalls in einer passiven Empfängerrolle oder konnte sich als Opfer gerieren. Im Gegenteil vermochten deutsche und polnische Historiker in der Regel ausgesprochen opportunistisch zwischen den „Strategien wissenschaftlicher oder politischer Selbstlegitimation“ zu wechseln (S. 469). Vor dem Hintergrund der zahlreichen Studien, die in den vergangenen Jahren besonders zu den hochproblematischen Aktivitäten der deutschen Ostforschung entstanden sind, kann dieser Befund von Guth nicht überraschen1, ebensowenig wie die Tatsache, dass mit der bundesdeutschen Entspannungspolitik in den 1970er-Jahren eine gewisse Erleichterung in den deutsch-polnischen Historikerbeziehungen eintrat. Das „pragmatische Verständigungsbemühen“ (S. 451) führte zur Gründung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission und leitete deren Arbeit. Auch hier aber verharrte das Fach im Spannungsfeld politischer Interessen und Konjunkturen. So wie die Gründung der Schulbuchkommission politisch motiviert war, hatten die Diskussionen aus politischen Gründen Grenzen, wie Guth am Beispiel des Tabuthemas „Hitler-Stalin-Pakt“ zeigt. Freilich war die deutsch-polnische Historikerkommission zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen einer ungleich stärkeren politischen Indienstnahme ausgesetzt, war doch „Parteilichkeit“ ein Imperativ der geschichtswissenschaftlichen Arbeit im Realsozialismus. Dennoch beurteilt Guth die Arbeit dieser Kommission angenehm balanciert. Er vermeidet voreilige Aburteilungen, indem er etwa auf gewisse Diskussionsräume hinweist, die sogar eine partielle Auseinandersetzung mit dem Hitler-Stalin-Pakt erlaubten.

Zusammengefasst belegt Guths Dissertation, dass im Falle der Beziehung von Geschichte und Politik tatsächlich von einem engen und wechselseitigen Dialog gesprochen werden muss. Anregend für weitere Diskussionen ist, wie Guth diesen Dialog in der Einleitung theoretisch begründet. In Anlehnung an die einflussreichen Arbeiten von Reinhart Koselleck und Jörn Rüsen führt er ihn auf die allmähliche Durchsetzung eines linearen Zeitverständnisses seit dem 18. Jahrhundert zurück und schreibt dem Fortschrittsgedanken eine zentrale Scharnierfunktion zu. Der „Fortschrittsgedanke“, so der Autor, „begründet den gedanklichen Nexus zwischen Geschichte und Politik“ (S. 5). Er macht aus der Geschichte eine mögliche Legitimationswissenschaft für die Politik der Gegenwart ebenso wie für politische Zukunftsentwürfe. Da Guth in seiner Arbeit eine nahezu untrennbare Verflechtung von Geschichte und Politik konstatiert, wirkt die Versicherung, dass es sich hierbei um ein historisches und somit wandelbares Verhältnis handelt, fast tröstlich. Ob die deutsch-polnischen Historikerbeziehungen jedoch ebenso als enger und wechselseitiger Dialog bezeichnet werden können, bleibt nach der Lektüre der Dissertation fraglich. Es ist ein wenig schade, dass Guth diese spannende Frage nicht ernsthaft diskutiert, sondern per se von einem „Historikerdialog“ ausgeht. Dabei demonstriert die im Buch beschriebene Geschichte doch glatt das Gegenteil: Sie legt den Schluss nahe, dass deutsche und polnische Historiker im 20. Jahrhundert und womöglich bis in die Gegenwart hinein oftmals Selbstgespräche führten und dass ein Nebeneinander dominierte, das vom Sich-Verbeißen in alte nationale und liebgewordene Konflikte bestimmt war. Stefan Guths Dissertation zeigt, wie sehr der innige Dialog zwischen Geschichte und Politik einen deutsch-polnischen „Historikerdialog“ eher verhinderte. Es waren wohl, wie Marek Prawda beklagte, tatsächlich nur zwei Monologe.

Anmerkung:
1 Stellvertretend: Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005; Corinna Unger, Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1945–1975, Stuttgart 2007; Michael Fahlbusch / Ingo Haar (Hrsg.), Völkische Wissenschaft und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn 2010.