C. Bosshart-Pfluger u.a. (Hgg.): Nation und Nationalismus in Europa

Cover
Titel
Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift Urs Altermatt


Herausgeber
Bosshart-Pfluger, Catherine; Jung, Joseph; Metzger, Franziska
Erschienen
Frauenfeld 2002: Huber Verlag
Anzahl Seiten
917 S.
Preis
€ 58,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Voges, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Den „Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto“ hat Urs Altermatt 1970 in seiner Dissertation beschrieben, gegangen ist er ihn nie. 1 Der Schweizer Zeithistoriker, seit 1980 Ordinarius an der Universität Freiburg im Uechtland und seit 2003 deren Rektor, zeichnet sich vielmehr aus durch einen scharfen Blick über die Eidgenossenschaft hinaus.

Diese internationale Perspektive spiegelt sich zum einen wider in den zahlreichen Lehr- und Forschungsaufenthalten, die ihn 1976/77 ans Center for European Studies der Harvard Universität und nach dem Zusammenbruch des Ostblocks u.a. nach Krakau, Budapest, Sarajewo und Sofia führten. Die Weltoffenheit Altermatts belegen zum anderen seine Forschungsfelder: „Geschichte des politischen Systems und der Parteien der Schweiz; Katholizismus, Religion, Politik und Gesellschaft; Minderheiten, Sprachenfragen und Multikulturalität; Nationalismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus“ (S. 12). Die anregenden Forschungen des Schweizers haben ihren Niederschlag in zahlreichen Publikationen gefunden. 2

Beides kommt in der zu Altermatts 60. Geburtstag vorgelegten Festschrift zum Ausdruck: Sie versammelt Beiträge von einer Autorin und 42 Autoren aus zwölf Ländern. Die Vielzahl der Beiträge macht eine vollständige Besprechung des gut 900 Seiten starken Bandes unmöglich. Daher werden im folgenden Beiträge aus den sechs Themenkomplexen, nachfolgend als Zwischenüberschriften angegeben, exemplarisch vorgestellt. Eine sehr knappe Inhaltsangabe zu jedem Beitrag bietet die Einführung der Herausgeber (S. 13-20).

Nation, Kultur, Identitäten

Im ersten Beitrag des Bandes, „Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropa“, wendet sich Moritz Csáky gegen die einseitige Untersuchung von Gedächtnisorten allein auf ihre nationale Funktion hin. Er stellt diesem Konzept einen Forschungsansatz gegenüber, dem es „nicht um eine Rekonstruktion, vielmehr um eine Dekonstruktion von Gedächtnisorten“ (S. 27) geht. Dahinter verbirgt sich das schlüssig begründete Ziel, die Mehrdeutigkeiten in Gedächtnisorten zu erschließen, die sich u.a. durch je eigene Decodierungen des Betrachters oder das Zusammenfließen verschiedener Elemente ergeben. Damit begegne dieser Ansatz der Gefahr, die Erforschung von Gedächtnisorten zur Konstruktion nationaler Identität zu instrumentalisieren. Der wichtigste Hinweis in Csákys anregendem, stellenweise jedoch redundantem Beitrag dürfte darin liegen, dass eine eindimensionale Erforschung von Gedächtnisorten in kulturell dichten Regionen wie Zentraleuropa nicht ausreichend ist.

Der Kirchenhistoriker Mariano Delgado geht bei seinen Ausführungen zu „Religion und Nation in der abendländischen Geschichte“ von der Annahme aus, dass „die religiöse Matrix des Abendlandes, das heißt die Bibel, die in Geschichte und Gegenwart wirksamen Nationenverständnisse beeinflußt hat“ (S. 115). Er identifiziert in der Bibel drei Nationenverständnisse: das alttestamentliche Selbstverständnis Israels als erwählte Kulturnation („Ein Gott, ein Volk, ein Land“ S. 116), die im Alten Testament erwartete, neutestamentlich erfüllte offene Staatsnation („Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ S. 120) und die Weltreiche- bzw. Translationslehre. Nach der Durchsetzung des Christentums als dominierende Religion hätten diese Nationenverständnisse auch ambivalente Erscheinungen hervorgebracht, nämlich „die Pervertierung des Erwählungsgedankens im Sinne christlicher Ausschließlichkeit“ (S. 126), die Anwendung von Zwang im Kontext von Mission und die Interpretation des „auf die Vermeidung einer synkretistischen Verunreinigung der Jahwereligion zielende Vermischungsverbote des Alten Exodus im Sinne eines ethnischen Vermischungsverbotes“ (S. 127). Konkret zeigt Delgado derlei Absichten am baskischen Nationalismus auf, bevor er die Erwartung an die Kirche formuliert, durch Betonung der allgemeinen Gotteskindschaft ausgrenzenden Tendenzen zu begegnen.

Prozesse von Staats- und Nationenbildung

Ist der Beitrag auch betitelt mit „Nation und Nationalismus in der Frühen Neuzeit“, so stellt Volker Reinhardt doch zu Beginn die Frage, ob es einen frühneuzeitlichen Nationalismus überhaupt gegeben habe. Spricht er diesem Phänomen „hegemoniale Wirkungen [...] tiefgreifende Masseneinbindungen [... und] ausschlaggebende[n] Wirkungen in ökonomischen und sozialen Modernisierungsprozessen“ (S. 162) ab und deutet es auch nicht als „eindeutiges Säkularisierungsphänomen“ (ebd.), so beschreibt er es schließlich als „neuartigen Zuordnungsverband, der Legitimität, Superiorität und damit in hohem Maße Anteil an kollektiver Nobilität verspricht“ (ebd.). Nachfolgend beschreibt Reinhardt die Entstehung des Nationenkonstrukts im Hinblick auf dessen qualitative Elemente, z.B. aus Mythologie und Geschichte und aus dem Kanon adeliger Grundwerte, sowie auf die sozialhistorische Dimension des Nationsdiskurses, bezogen auf Konstrukteure und Publikum. Betont wird die Konkurrenz der Nation zum „Postulat der rivalisierenden Konfessionen“ (S. 158). Mit seiner Sprachgewalt schießt der für die epochenübergreifende Fragestellung ausgewiesene Autor leider allzu oft über das Ziel hinaus, so dass die Gedankengänge Präzision einbüßen.

Konstruktion von Erinnerung

Ein treffendes Beispiel hat Henner Kleinewefers ausgewählt, um die Indienstnahme von Geschichtsschreibung für die Begründung nationaler Ansprüche aufzuzeigen: Siebenbürgen, bis 1918 ungarisch dominiert, seither rumänisch. Die historischen Argumente in diesem Konflikt filtriert Kleinewefers für bedeutsame Epochen aus zwei mehr oder weniger repräsentativen Werken heraus, der „Illustrierte[n] Geschichte des rumänischen Volkes“ und der aus ungarischer Perspektive geschriebenen „Kurze[n] Geschichte Siebenbürgens“ (S. 302). Die scheinbare Schmalheit der Datenbasis wird durch die klar zutage tretenden Positionen bzw. Widersprüche relativiert. „Wenn mit historischen Argumenten über Ansprüche gestritten wird, muß man also befürchten, daß von den Parteien bewiesen wird, was zu beweisen war.“ (S. 320). Angesichts dieses Fazits empfiehlt Kleinewefers den historisch Argumentierenden keineswegs die Resignation, sondern mahnt zu vorsichtiger Würdigung der jeweiligen Argumente.

Walther Hofer widmet seinen mit dem Diktum Friedrich Meineckes – „Keine Fahnenflucht vor der Schlacht“ – überschriebenen Beitrag den Warnungen dieses Historikers vor dem Nationalsozialismus. Er zeigt zunächst die historische Entwicklung zu Lebzeiten Meineckes auf und darin eingebettet den Wandel von dessen Anschauungen: „Aus dem konservativen Preußen wurde ein liberaler Deutscher“ (S. 333). Das Fanal des Ersten Weltkriegs habe Meinecke zum Warner vor entartetem Nationalismus werden lassen. An ausgewählten Zitaten aus dem Werk Meineckes weist Hofer dessen weit vorausschauende Einsicht in Ziel und Weg der Nationalsozialisten auf. Die Darstellung verbindet biografische Ideengeschichte mit Thesen zum Untergang der Weimarer Republik zu einer Synthese, in der allein der zu Beginn des Textes explizit benannte, aber stellenweise aufdringlich wirkende persönliche Zugang zum Thema stört.

Ethnisierung von Gesellschaft und Politik

„Eine europäische „Helvetisierung“ oder eine helvetische Europäisierung würde/wird die gesellschaftliche Auflösung der alten Kontroversen, der ethnischen und kulturellen Konflikte im östlichen Mitteleuropa zu einem sozio-kulturellen Kompromiß führen.“ (S. 450). Mit diesem Fazit endet der kurze, impressionistische Text, den László Ódor zur Festschrift beigesteuert hat. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Überwindung sprachlicher Missverständnisse, für anerkennende Versöhnung, gegen Säuberungen und Bombardements. Ódor fordert Verhandlungen, die zur Versöhnung führen, mit dem Ziel Europa nach dem helvetischen Modell. Damit sind mögliche Schritte zur Lösung nationaler und ethnischer Konflikte gewiesen. Bei allem Engagement fehlt der Darstellung aber die argumentative Tiefe.

„Am Balkan nichts Neues?“, fragt Arnold Suppan in seinen Betrachtungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des ehemaligen Jugoslawiens. Suppan benennt zehn „hausgemachte Ursachen und Anlässe“ (S. 453) für den Aufteilungskrieg im ehemaligen Jugoslawien. Diese sind ebenso präzise formuliert wie die anschließende Beschreibung der gegenwärtigen Situation, die von „bis zu zwölf politisch-ethnisch-sprachlich-konfessionell-kulturell differenzierten Einheiten“ (S. 457) geprägt ist. Entgegen dem oben beschriebenen Bedeutungsverlust fordert Suppan in seinen Lösungsansätzen für die Zukunft: „Ob sie es wollen oder nicht, die NATO, die EU, die USA und die UNO müssen ein Interesse an mehr Stabilität am Balkan haben.“ (S. 459) Den Grund dafür sieht er in den sonst zu erwartenden Flüchtlingsströmen, die Lösung in neuen Grenzziehungen zugunsten von Nationalstaaten mit „klaren ethnischen Majoritäten“ (S. 461).

Religion, Nation und Staat

Der Aufsatz Ulrich von Hehls, „Konfession und nationale Einheit“, einer der umfangreichsten Beiträge, gibt einen profunden Überblick über Positionen des Katholizismus zur deutschen Frage in der Ära Adenauer. Der These von „Kontinuitäten und Brüche[n] protestantischer Identitätssuche im nunmehr geteilten Nachkriegsdeutschland“ (S. 734) wird die Klammerfunktion des Katholizismus entgegengesetzt. Diese Funktion wird anhand verschiedener Elemente belegt: die organisatorische Einheit der Bistümer und Verbände, Äußerungen des Episkopats und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, katholische Werte und symbolisches Handeln in Form von Gebetsanliegen und Katholikentagen. Besonders in den Blick genommen wird die Situation des Bistums Berlin nach dem Mauerbau. Der Aufsatz bietet einen guten Ausgang für weitere Forschungen, insbesondere für die als Desiderat benannte Erforschung der Bedeutung der persönlichen Beziehungen für das Festhalten an der Einheit im deutschen Katholizismus.

Der Versuch Wilhelm Dambergs, „Pontifikate und politische Konjunkturen“ zusammen zu betrachten, könnte als Bemühung gedeutet werden, der Kirchengeschichte Aufmerksamkeit in der allgemeinen Zeitgeschichte zu sichern. Indes zeigen die skizzenhaften Ausführungen zu den Pontifikaten Johannes XXIII., Pauls VI. und Johannes Pauls II., dass die päpstliche Amtsführung auch Kind ihrer Zeit ist und somit Hinweise zur Deutung zeitgeschichtlicher Epochen geben kann. Genannt sei nur die annähernd gleichzeitige Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Präsidentschaft John F. Kennedys und das Godesberger Programm der SPD. In der theoretischen Betrachtung der zuvor gemachten Beobachtungen schlägt Damberg als Ergänzung des unzureichenden Säkularisationsparadigmas das der Transformation vor. In der Anlehnung an Habermas nennt er die Kategorie Sinn als möglichen Ansatzpunkt weiterer Forschungen. Die schlüssig formulierten Ansätze verheißen lohnende empirische Untersuchungen.

Zwischen Universalismus und Partikularismus

Czeslaw Porebski geht der Frage „Politische Ordnung – wozu brauchen wir sie?“ nach. Die Exegese der Titelfrage, die Porebski seinem Antwortversuch vorausschickt, liest sich als äußerst komprimierte, aber deshalb auch pointierte Einführung in Kategorien der politischen Philosophie: Ordnungen im Allgemeinen und im Besonderen, Arten politischer Ordnung, deren mit „wir“ bezeichnete Träger und die Notwendigkeit politischer Ordnung. Als Argumente für die politische Ordnung führt Porebski in seiner Antwortskizze sieben Thesen an, aus denen sich drei Hauptlinien herauskristallisieren. Politische Ordnung ist notwendig für das Wohlergehen des einzelnen, für das Gemeinwohl und für das Zusammenleben auf übergemeinschaftlicher Ebene. Das konzentrierte Plädoyer verliert leider stellenweise an Verständlichkeit.

Dem Thema „Die Rolle des Nationalstaates in einer globalisierten Welt“ stellt sich Erhard Busek. Den konzis beschriebenen Phänomenen der Globalisierung stellt er die Möglichkeiten der Reaktion der Nationalstaaten gegenüber. Besonders deutlich wird die dabei hervortretende Ungleichzeitigkeit am Beispiel der transnationalen Kriminalität, der immer noch nur mit nationalen Aktionen begegnet werden kann. Daher konstatiert der Österreicher einen Bedeutungsverlust des Nationalstaates. Eine eindeutige Lösung für die dadurch entstehenden Probleme präsentiert er nicht, doch die extensive Beschreibung der kulturellen Zukunft Europas legt die Vermutung nahe, dass Busek im Multikulturalismus einen Schlüssel für Fragen der Zukunft sieht. Den interessanten Beobachtungen auf nationaler, kontinentaler und globaler Ebene fehlt allerdings eine schlüssige Verbindung.

Die beschriebenen Beiträge sind nur eine knappe Auswahl. Doch schon sie vermögen deutlich zu machen, dass den Herausgebern eine vorbildliche Festschrift gelungen ist, denn die thematisch breite Konzeption korrespondiert mit den vielfältigen Forschungen des Geehrten.

Anmerkungen:
1 Altermatt, Urs, Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto, Zürich 1972.
2 Einige Titel seien genannt: Katholizismus und Moderne, Zürich 1989; Lexikon der Schweizer Bundesräte, Zürich 1991; Das Fanal von Sarajewo, Zürich 1996; Katholizismus und Antisemitismus, Frauenfeld 1999.

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