L. Winkler-Horaček: Monster in der frühgriechischen Kunst

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Titel
Monster in der frühgriechischen Kunst. Die Überwindung des Unfassbaren


Autor(en)
Winkler-Horaček, Lorenz
Reihe
Image & Context 4
Erschienen
Berlin 2015: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIV, 690 S.
Preis
€ 129,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Töpfer, Institut für Klassische Archäologie, Universität Heidelberg

Monster bzw. Mischwesen1, denen sich Lorenz Winkler-Horaček in der stark überarbeiteten Druckfassung seiner 2003 an der Universität Rostock eingereichten Habilitationsschrift widmet, sind ein zentrales Phänomen der frühgriechischen Kunst. Seine etwa den Zeitraum vom 8. bis ins mittlere 6. Jahrhundert v.Chr. ins Auge fassende Untersuchung basiert vor allem auf einer umfangreichen Sammlung korinthischer und ostionischer Vasenbilder, die in Form von Listenwerken in den Anhängen der Arbeit zugänglich gemacht sind. Ausgehend von einer Betrachtung der Bilder als historisches Phänomen gilt sein Interesse primär der Frage: „Was sagen die Bilder über Monster aus und was sagen die Monster über die Zeit aus, in der sie dargestellt wurden? Ziel ist es, die Rolle der Mischwesen in der frühgriechischen Kunst zu untersuchen, ihre Bedeutung aus den Bildern zu erschließen und einen Erklärungsansatz für die Verbreitung des Themas zu finden“ (S. 5).

Im ersten der insgesamt fünf gut bebilderten Kapitel setzt sich Winkler-Horaček kritisch mit der häufigen Interpretation der Mischwesen als (Todes-)Dämonen auseinander, wobei er ausgehend vom modernen Sprachgebrauch seinen Blick rückwärts bis zu Homer und Hesiod richtet. Wie er überzeugend darlegen kann, lässt sich weder der moderne noch der antike Begriff des „Dämon“ mit den Mischwesen verbinden.

Nach diesem Negativergebnis stehen im zweiten Kapitel „Monster ohne Mythen: Die Bilder“ im Vordergrund. Da die Mischwesen gerade in den frühen Darstellungen zumeist nicht in Handlungen eingebunden sind, wurden sie in der Forschung nicht selten als dekorativ oder ornamental und damit implizit auch als bedeutungslos bezeichnet. Einen zielführenderen Ansatz kann Winkler-Horaček aus einer Kombination der von Luca Giuliani eingeführten Unterscheidung eines deskriptiven und eines narrativen Modus in der frühgriechischen Kunst mit den von Nikolaus Himmelmann und Hans-Peter Isler formulierten Überlegungen zu hieroglyphischen Eigenschaften frühgriechischer Bilder gewinnen. Der Fokus verschiebt sich damit weg von der Frage „welche Geschichten das einzelne Bild erzählt“ hin zu „wie die Welt durch diese Bilder beschrieben wird“ (S. 62). Die Annahme einer hieroglyphischen Qualität der Bilder eröffnet zudem die Möglichkeit, Interaktionen bzw. Interaktionsmöglichkeiten auch jenseits konkret dargestellter Handlung in den Blick zu nehmen.

Im Anschluss untersucht Winkler-Horaček die einzelnen Typen von Mischwesen vor allem in Hinblick auf die Herkunft der formalen Vorbilder, ihre Adaption und die griechischen Bildkontexte. Wie sich zeigt, sind die meisten Mischwesen auf den Vorderen Orient und hier vor allem auf nordsyrische und assyrisierende Vorbilder zurückzuführen, während eigenständige griechische Schöpfungen selten sind. Im Zuge der Adaption werden die Formen allerdings stets verändert und den eigenen Sehgewohnheiten angepasst, unter anderem durch die Hinzufügung einheimischer Bildelemente, die dank ihrer hieroglyphischen Eigenwerte die Mischwesen näher charakterisieren. So können Helme ebenso wie bei Kriegern und Jägern kriegerische Eigenschaften andeuten. Ranken, die nicht nur im Umfeld der Mischwesen, sondern auch als Bestandteil ihrer Körper auftreten, setzen diese in Bezug zur fruchtbaren Natur.

In der Synopse wird deutlich, dass Mischwesen stets als Bestandteil einer zwar konstruierten, aber dennoch konkret gedachten Tierwelt inszeniert werden. In dieser werden sie aber nicht als eigenständige Kategorie oder Gruppe wahrgenommen. Vielmehr werden sie bestimmten Tiergruppen zugeordnet, wobei für ihre Einordnung vor allem die Charakteristik ihres Rumpfes ausschlaggebend ist. Ist dieser beispielsweise einem Raubtier entlehnt, erscheint auch das jeweilige Mischwesen in entsprechenden Kontexten. Mischwesen verbildlichen dabei in besonderer Weise den fremden und bedrohlichen Aspekt der Wildnis, „in der Gewalt, unheimliche Aggressivität und lebensspendende Fruchtbarkeit ihren Platz haben“ (S. 163). Die aus späterer Zeit geläufige Verbindung einzelner Mischwesen mit spezifischen mythologischen Figuren ist dagegen erst eine Erscheinung des 6. Jahrhunderts und lässt sich nicht auf frühere Darstellungen übertragen.

Das dritte Kapitel ist einer eingehenderen Analyse der strukturellen Eigenheiten der korinthischen Tierfriese und damit der für die vorliegende Untersuchung wichtigsten Materialgruppe gewidmet. Als Basis dient eine ausführliche statistische Auswertung der relevanten Vasenbilder, wobei Winkler-Horaček vor allem auf quantitative Argumente setzt. Deutlich wird dabei, dass anders als die ostionischen Tierfriese, die mittels parataktischer Reihungen von Tieren deren Nebeneinander in den Vordergrund stellen, die korinthischen Friese mittels antithetischer Kompositionen die hierarchische Ordnung der Tierwelt betonen, in der „verschiedene Kräfte in einem vorstellbaren Raum“ (S. 305) einander gegenübergestellt werden. Die Tiergruppen sind dabei aber nicht narrativ zu verstehen, sondern als Verbildlichung konstruierter Ordnungsprinzipien. Die Mischwesen werden in diese entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu spezifischen Tierkategorien eingebunden. Kaum näher besprochen werden von Winkler-Horaček leider die zwar wenigen, aber dennoch nicht zu ignorierenden Darstellungen, die diesen Beobachtungen nicht entsprechen.

Um seine Ergebnisse kulturgeschichtlich zu kontextualisieren, zieht Winkler-Horaček im Folgenden die homerischen Gleichnisse heran, in denen er eine eng vergleichbare Konzeption der Welt samt einer entsprechenden Hierarchisierung der Tierwelt aufzeigen kann. Raubtiere wie beispielsweise Löwen werden dort zudem nicht nur als Bestandteil der Wildnis, sondern auch als Gegenbild zur menschlichen Zivilisation mit ihren Normen charakterisiert. Ob es im frühen Griechenland tatsächlich noch frei lebende Löwen gab, ist dabei unerheblich, denn „als eine Welt des ‚Draußen‘ konstituiert sich damit eine Wirklichkeit, die zwar über den persönlichen Erfahrungshorizont des Einzelnen hinausgeht, die sich aber an den realen Gegebenheiten und Kräfteverhältnissen der Tierwelt orientiert“ (S. 322).

Im vierten Kapitel „Tierwelt – Adel – Polis“ wird das Phänomen der Tierfriese mit den gleichzeitigen soziokulturellen Entwicklungen und hier vor allem mit der Etablierung der Poleis in Beziehung gesetzt. Die auf den Vasen häufige Kombination von Bildchiffren für menschliches Handeln wie Symposion oder Reigentanz mit Bildern der Wildnis dient vor allem der Kontrastierung, da die Polis sich „in einer ideologischen Antithese zur Tierwelt“ entwickelt (S. 366). Deutlich wird dabei der Wille einer „rationalen Durchdringung der Wildnis“ (S. 368). Die Einbindung der Mischwesen dient vor allem der Überwindung des Unfassbaren.

„Fiktionale Grenzräume im frühen Griechenland“ als diejenigen Zonen, in denen sowohl Raubtiere und Mischwesen als auch die Taten der Helden verortet wurden, sind das Thema des fünften und letzten Kapitels. Vor allem ab dem 7. Jahrhundert verlor die Eschatia als Grenzraum der einzelnen Poleis zunehmend an Bedeutung, wodurch die Wildnis am Rand der Welt stärker in den Fokus geriet. So beschreibt Herodot verschiedene seltsame und teils hybride Wesen, die am Rand der zivilisierten Welt leben, wo die übliche Ordnung anfängt sich aufzulösen. „Damit wird die Peripherie des geographischen Realraumes als Ganzes zu einem spekulativ-fiktionalen Grenzraum.“ (S. 384) Die Tierfriese sind ein Weg der Überwindung, „denn die Monster geben der Tierwelt zwar einerseits einen fremden und bedrohlichen Charakter und verweisen durch sie auf die Randzonen, andererseits nimmt die ordnende Struktur der Friese den monströsen Tierwelten wiederum gerade ihre ordnungserschütternde Kraft“ (S. 393). Im Zuge der Verwendung der Vasen wird „die bildliche Präsentation fiktionaler Grenzräume […] zum Gegenpol für das zivilisierte Handeln der Vasennutzer“ (S. 394). Die Mischwesen sind dabei trotz ihrer menschlichen Anteile eindeutig Teil der Wildnis. „Die Grenze verläuft also nicht zwischen Mensch und Tier bzw. Monster, sondern ebenso zwischen dem Menschen als kulturell handelndem Wesen und den Kreaturen der unzivilisierten Wildnis.“ (S. 394)

Insgesamt gelingt es Winkler-Horaček in sehr überzeugender Weise, den aktuellen Forschungsstand2 zusammenzuführen und auf Grundlage zielführender theoretischer und methodischer Perspektiven zu neuen und weiterführenden Erkenntnissen zu gelangen. Der Entstehungsgeschichte der Arbeit als Habilitation dürfte der trotz des Bemühens um eine durchgängige Argumentationsstruktur tendenziell additive Charakter des stark untergliederten Textes geschuldet sein, was sich vor allem in gelegentlichen Gedankensprüngen und kleineren Wiederholungen äußert. Dies schmälert aber keinesfalls den wissenschaftlichen Wert der Arbeit, die ohne Frage einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Verständnis der frühgriechischen Bilderwelt leistet. Dabei gelingt es Winkler-Horaček in besonderer Weise, die Bilder in den Kontext der soziokulturellen Entwicklungen in der Phase der Polisbildung einzubetten und damit auch als sozialhistorisches Phänomen wahr- und ernst zu nehmen.

Anmerkungen:
1 Wie Winkler-Horaček selbst feststellt, ist der Begriff Monster aufgrund seiner kulturellen Bedingtheit und seiner negativen Konnotation problematisch. Dennoch entscheidet er sich bewusst, auch mit Blick auf ein außerfachliches Publikum gegen die neutrale Bezeichnung Mischwesen, möchte „Monster“ aber mit einer neutralen Konnotation und „weitestgehend als Synonym für Mischwesen“ verstanden wissen (S. 11).
2 Eine bemerkenswerte Ausnahme stellen die Ausführungen zu den frühesten Kentaurendarstellungen in der griechischen Kunst dar (S. 237 f.). Mit Verweis auf einen Beitrag Fittschens von 1969 heißt es, Kentauren bzw. „Rossmenschen“ würden erstmals um 725 v.Chr. auftreten. Die ebenfalls 1969 gefundene, protogeometrische Figur eines Pferdemenschen aus Lefkandi findet dabei weder im Text noch im Anmerkungsteil Erwähnung. Auch wenn die Figur in vielerlei Hinsicht exzeptionell ist, würde man doch mindestens einen Hinweis erwarten.

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