H. Lessing u.a. (Hrsg.): Umstrittene Beziehungen

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Titel
Umstrittene Beziehungen. Protestantismus zwischen dem südlichen Afrika und Deutschland von den 1930er Jahren bis in die Apartheidzeit


Herausgeber
Lessing, Hanns; Dedering, Tilman; Kampmann, Jürgen; Smit, Dirkie
Reihe
Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 26
Erschienen
Wiesbaden 2015: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 771 S., 1 Abb., 1 Karte, 3 Tab.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisa Bauer, Konfessionskundliches Institut des Evangelischen Bundes, Bensheim

Der vorliegende, in jeder Hinsicht gewichtige Band stellt die zweite Publikation des „Studienprozesses zur Rolle der Kirchenbeziehungen zwischen Deutschland und dem südlichen Afrika“ dar. Dieser Studienprozess wurde 2007 von der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Vereinten Evangelischen Mission angestoßen. Er umfasste schließlich 14 Kirchen und Missionswerke in Deutschland, Namibia und Südafrika, die gemeinsam die Rolle der Auslandsarbeit deutscher Kirchen im kolonialen südlichen Afrika aufarbeiteten und 2011 als Ergebnis eine Publikation vorlegten.1 Die gute Erfahrung der Zusammenarbeit und die „sehr positiv aufgenommenen Ergebnisse der ersten Phase“ (S. 2) bewogen die beteiligten Institutionen und Kirchen, diesen Studienprozess unter Mitwirkung von neun weiteren Kooperationspartnern fortzusetzen, und zwar in der zweiten Phase mit Blick auf die Zeit der 1930er-Jahre, des Zweiten Weltkriegs und der Apartheid. Das war insofern außergewöhnlich, als sich zum ersten Mal in der deutschen Kirchengeschichte „tatsächlich alle Kirchen, Kirchenbünde und Missionswerke mit Verbindungen ins südliche Afrika gemeinsam mit diesem für alle hoch relevanten Thema“ (S. 3) auseinandersetzten. Der Sammelband, der das Ergebnis dieser zweiten Phase des Studienprozesses bildet, ist, so die Selbstaussage der Herausgeber in der Einleitung, „interdisziplinär und partizipatorisch“ ausgerichtet (S. 13). Die Aufsätze sind jeweils auf Deutsch oder auf Englisch verfasst, mit vorangestellten kurzen Zusammenfassungen in beiden Sprachen.

Die 39 Beiträge, die in Detailuntersuchungen „die Rolle der Kirchen und Missionsgesellschaften im Kontext der politischen Entwicklung“ (S. 14) erörtern, weisen eine große Spannbreite hinsichtlich ihrer Methoden und Perspektiven auf. Nach der instruktiven Einleitung in das Thema durch Hanns Lessing, einen der beiden Studienprozesskoordinatoren, folgen die fünf Themenfeldern zugeordneten Untersuchungen der Chronologie und einer regionalen Fokussierung. Im ersten Kapitel werden in sechs Einzelstudien die Kirchen und Missionswerke im südlichen Afrika vor dem Hintergrund ihres Umgangs mit dem Nationalsozialismus untersucht. Das umfasst die Wahrnehmung des Verhältnisses von Deutschem Reich / Deutschland und Südafrika seit dem Ersten Weltkrieg (Tilman Dedering), die Beziehungen des Kirchlichen Außenamtes zum südlichen Afrika (Jürgen Kampmann) sowie die Haltung von deutschen oder deutschsprachigen Christen und Gemeinden im südlichen Afrika während des „Dritten Reiches“, die in mehreren Aufsätzen thematisiert wird (Martin Eberhardt, Lothar Engel, Katrin Zürn-Steffens, Isabel Cristina Arendt). Die Ambivalenzen werden sehr deutlich: einerseits eine offen pro-nationalsozialistische Haltung, andererseits die Abwehr nationalsozialistischer (Kirchen-)Politik in Bekenntnisgemeinden.

Im zweiten, vergleichsweise schmalen Kapitel „Protestantische Einflüsse auf die Ausformung der Apartheid“ werden vor allem ethnologie- und mentalitätsgeschichtliche, diskursanalytische sowie bildungspolitische Einzelaspekte im Hinblick auf die – besonders durch die deutschen Missionsgesellschaften im 19. Jahrhundert vorbereitete – protestantische Prägung der Apartheid untersucht. Zwar etwas losgelöst in diesem thematischen Block, aber nichtsdestotrotz instruktiv ist eine kurze Studie zum mäßigenden Einfluss der ökumenischen Bewegung auf die Apartheid in den Niederländisch Reformierten Kirchen während der Zeit von 1948 bis 1986 (Piet Meiring).

Im dritten Teil „Unabhängigkeit der Kirchen und Streben nach Einheit“ erfolgt ein Perspektivwechsel hinsichtlich der Akteure: Hier kommen nun afrikanische Freiheitsbewegungen und regionale afrikanische Gruppen mit ihren Zielen, Vernetzungen und Handlungsstrategien zur Sprache (Aufsätze von Kevin Ward, Erhard Kamphausen, Henning Melber). In fünf weiteren Beiträgen werden die Haltungen deutscher Kirchen, Gemeinschaften und Missionsgesellschaften sowohl in Südafrika als auch in Deutschland bezüglich der Apartheid analysiert. Es zeigt sich ein vielfältiges Bild mit verschiedenen, durchaus widersprüchlichen Handlungsstrategien. Diese ergaben sich unter anderem aus einer zögerlichen Ablehnung der Apartheid, der beginnenden Aufarbeitung des Rassismus in den 1960er-Jahren sowie aus Polarisierungen in den evangelischen Kirchen in Deutschland bei der Auslandskirchenpolitik seit den 1970er-Jahren.

Das vierte und fünfte Kapitel bilden thematisch eine Einheit, sind aber regional unterschiedlich ausgerichtet: Während der vierte Teil zum Problem der Apartheid und dem christlichen Kampf gegen diese in Afrika selbst führt („Christliche Auflehnung gegen die Apartheid“), wendet sich der Blick im fünften Kapitel wieder nach Europa bzw. Deutschland („Der deutsche Protestantismus: zentraler Schauplatz der Auseinandersetzung um die Apartheid?“).

In den Beiträgen zur Situation im südlichen Afrika selbst werden wesentliche Institutionen, Personen und Ereignisse analysiert, unter anderem die Bedeutung des „Christian Institute of Southern Africa“ (Ben Khumalo-Seegelken), der theologische Hintergrund des Wirkens von Bischof Manas Buthelezi (Sibusiso Masondo) oder der Offene Brief der beiden lutherischen Kirchen in Namibia von 1971 an den südafrikanischen Premierminister (Paul Isaak). Aber auch weniger bekannte zeithistorische Phänomene kommen in den Blick, die wiederum einen Eindruck von dem tiefgreifenden Mentalitätswandel in den 1970er- und 1980er-Jahren geben, zum Beispiel die Umgestaltung der Ausbildung am „Department for Religious Studies“ der Universität von Natal in Pietermaritzburg (Gunther Wittenberg) oder, theologiegeschichtlich bemerkenswert, die Rezeption der Theologie Karl Barths im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika (Rothney Tshaka).

Der in der fünften thematischen Einheit vollzogene Perspektivwechsel nach Deutschland erhellt ebenfalls einen gravierenden Mentalitätswandel, unter anderem auf dem weiten Feld der deutsch-deutschen Politik im Hinblick auf die Südafrika- und Apartheid-Frage (Hans-Georg Schleicher) und der kirchenpolitischen Bedeutung des südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampfes in den Kirchen der DDR (Hans Mikosch). Das Hauptaugenmerk der Beiträge liegt auf den Handlungsstrategien verschiedener kirchlicher Gruppen gegen die Apartheid (Aufsätze von Martin Keiper, Martin Stöhr, Warner Conring, Moritz Gräper, Sebastian Tripp). Der Wandel dieser Strategien in den 1970er-Jahren kommt paradigmatisch in dem (heute eher vorsichtig wirkenden) Zitat „Die Alternative zur Apartheid ist im Grunde keine Apartheid“ zum Ausdruck, das dem Beitrag zur Neuorientierung der Haltung der EKD zu Südafrika am Anfang der 1970er-Jahre (Rudolf Hinz) vorangestellt wurde. Auf der Synode 1974 beantwortete der Afrika-Referent des Kirchlichen Außenamtes mit diesem Satz spontan die Frage, welche Alternative es zum System der Apartheid gebe.

Die Breite der durch die Mikrostudien angeschnittenen Themen ist erheblich. Ebenso breit sind die historiografischen Zugriffe, die von ideen- und theologiegeschichtlichen Ansätzen über Politik- und Institutionsgeschichte bis zu biografischen Skizzen reichen. Durch die Beteiligung sowohl von Zeithistorikern als auch von kirchlichen Zeitzeugen als Autoren der Beiträge changiert der Band punktuell im Bereich zwischen historiografischer Forschung und persönlich gefärbtem Arbeitsbericht (was die Anschaulichkeit naturgemäß eher befördert). Als ein erster Schritt der Aufarbeitung der Haltung deutscher Kirchen, Missionsgesellschaften und Gemeinden zum Problem der Apartheid in der Zeit von den 1920er- bis zu den 1980er-Jahren ist der Band allerdings kaum zu überschätzen. Die Fülle der Einzeluntersuchungen zeigt die Komplexität des gesamten Feldes an. Übergreifende Thesen sind beim derzeitigen Stand der Forschung kaum möglich und in dem Band selbst klugerweise gar nicht erst angestrebt worden. Auf jeden Fall ist zu wünschen, dass diesem bemerkenswerten Ergebnis des kirchlichen Aufarbeitungsprozesses nun weitere, zeithistorisch fokussierte und historiografisch zugespitzte Untersuchungen folgen.

Anmerkung:
1 Hanns Lessing u.a. (Hrsg.), Deutsche evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, Wiesbaden 2011; engl. Ausg.: dies. (Hrsg.), The German Protestant Church in Colonial Southern Africa. The Impact of Overseas Work from the Beginnings until the 1920s, Wiesbaden 2012.