P. Eitler u.a. (Hrsg.): Zeitgeschichte des Selbst

Cover
Titel
Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung


Herausgeber
Eitler, Pascal; Elberfeld, Jens
Reihe
Histoire 79
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ronald Funke, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Lässt sich mit dem Blick auf das „Selbst“ die „Gesellschaft“ erklären? Schon 2010 beschäftigte sich ein von der Hans-Böckler-Stiftung geförderter interdisziplinärer Workshop an der Universität Bielefeld mit der gesellschaftswissenschaftlichen Bedeutung des Subjekts.1 2015 ist nun der dazugehörige und um weitere Beiträge ergänzte Sammelband erschienen. Nicht nur aufgrund der seither vergangenen Zeit erscheint der Ansatz nicht mehr ganz neu. Denn mit sich vielfach überschneidenden Herausgebern und Autoren sind seit 2009 bereits mehrere Sammelbände zur Frage der historischen Bedeutung des „Selbst“ veröffentlicht worden, wobei sich der Blick auf „Das schöne Selbst“, „Das präventive Selbst“, „Das beratene Selbst“ sowie „Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung“ richtete.2 Sowohl das von den jetzigen Herausgebern Pascal Eitler und Jens Elberfeld formulierte Postulat, die Zeitgeschichte bedürfe einer Historisierung des Subjekts, als auch der theoretische Anspruch einer poststrukturalistischen Gesellschaftsgeschichte erscheinen daher vor allem als Bestätigung und Bestärkung älterer Forderungen. Da trotz unterschiedlicher Schwerpunkte zwischen den einzelnen Bänden einige thematische Wiederholungen auffallen, stellt sich zugleich die Frage des Mehrwerts der mit dem neuesten Buch auf inzwischen einige Dutzend angewachsenen und inhaltlich recht breit gestreuten Beiträge zur „Genealogie des Selbst“.

Die Herausgeber können allerdings durchaus überzeugend begründen, dass die Makrogeschichte der „Gesellschaft“ vielfach nicht ohne die Analyse der Mikrogeschichte des „Selbst“ erklärt werden könne. Der Blick auf die Einzelbeiträge zeigt denn auch, wie gut eine ganze Reihe der Autorinnen und Autoren den gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntniswert der von ihnen betrachteten Subjektivierungs- und Selbstphänomene herausarbeiten. Daneben wird die historiographische Einführung der Herausgeber durch eine eigene theoretische Grundlegung des Soziologen Andreas Reckwitz ergänzt. Darin entwirft er zentrale Leitlinien zu einer poststrukturalistisch inspirierten praxeologischen Subjektanalyse, die sich für verschiedenste kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen fraglos als fruchtbar erweisen kann. Im Hinblick auf das Ziel, eine traditionell noch immer wenig theorieaffine Geschichtswissenschaft stärker als bislang anzusprechen, wäre es aber vielleicht hilfreich gewesen, noch stärker konkrete Verbindungen zu Fragen und Gegenstandsbereichen der historischen Forschung deutlich zu machen.

Demgegenüber sind die 14 interdisziplinären Themenbeiträge, unter anderem aus Geschichte, Soziologie, Medienwissenschaft und Kulturanthropologie, bereits durch eine starke Orientierung an den Theorien der Poststrukturalisten verbunden, vor allem an Michel Foucault. Dabei fällt allerdings auf, dass die Brauchbarkeit der einzelnen Texte weniger mit der Theoriefestigkeit der Verfasser/innen, sondern mit der Qualität ihrer Quellenanalyse korreliert. Die inhaltliche Verbindung der Beiträge tritt eher in den Hintergrund, obwohl sie in drei thematischen Schwerpunkten gebündelt werden. So benennen die Herausgeber überzeugend „Therapeutisierung“, „Politisierung“ und „Emotionalisierung“ als zentrale Themenfelder von gesellschaftlich bedeutenden Subjektivierungsprozessen, wobei sie zu Recht darauf hinweisen, dass sich diese beim genauen Blick auf einzelne Subjektivierungsprozesse häufig überschneiden. Davon unabhängig finden sich aber in vielen der Texte zwei wiederkehrende Beobachtungen: Zum einen ist die Durchsetzung subjektiver Freiheit mit einer wachsenden Zumutung von Selbstverantwortung einhergegangen, wodurch der Rückzug expliziter Regeldurchsetzung letztlich zu neuen impliziten Formen der Disziplinierung geführt hat. Zum anderen erscheinen trotz der Unterschiedlichkeit der beschriebenen Phänomene vielfach vor allem die „langen 1960er-Jahre“ als Zeitraum bzw. Anstoß solcher Prozesse.

In diesem Sinne argumentiert etwa Mitherausgeber Jens Elberfeld bei seinem sehr detaillierten Blick auf das Phänomen der seit den 1960er-Jahren einsetzenden „Therapeutisierungsprozesse im deutschsprachigen Raum“. Deren Erfolg sei im Zuge des „Psychobooms“ weit über medizinische und wohlfahrtsstaatliche Institutionen hinausgegangen und habe mit der Etablierung von Beratungs- und Coachingangeboten über das „Management des Selbst“ letztlich zur neoliberalen Selbstdisziplinierung beigetragen. Einen ganz ähnlichen Befund legt Maik Tändler bei seiner Betrachtung des seit den Bildungsreformen der 1960er-Jahre veränderten Schul- und Erziehungssystems vor. So seien auch hier mit der Forderung nach Idealen wie Eigenverantwortung, Kreativität, Risikobereitschaft usw. Grundprinzipien der ökonomischen Selbstoptimierung und des „unternehmerischen Selbst“ (Ulrich Bröckling) vorweggenommen worden.

Andere Beiträge untersuchen demgegenüber vor allem körperliche Aspekte der Therapeutisierungsprozesse. Marcel Streng beschreibt in seinem Beitrag über Hungerstreik und Zwangsernährung im bundesdeutschen Strafvollzug (1973–1985), wie individuelle Körper durch Szeneratgeber und Selbsttechniken als „Waffe“ gegen den Staat optimiert wurden. Zugleich führte die selbstbestimmte Nahrungsverweigerung jedoch auch zur Zuweisung von Selbstverantwortung für mögliche Gesundheitsschäden. Tobias Dietrich ergänzt unter dem fragenden Titel „Laufen als Heilssuche?“ die Praktik des populären körperlichen Trainings in den 1970er- bis 1990er-Jahren sehr überzeugend mit Aspekten der Spiritualität im Zusammenhang mit dem Boom des „New Age“ und Denkformen des amerikanischen Protestantismus.

Unter dem Schlagwort der „Politisierung“ stellen einige Beiträge anschaulich die Ambivalenz von Politisierungs- und vermeintlichen Entpolitisierungsprozessen dar. So beschreibt Alexa Geisthövel bei ihrer Beschäftigung mit der zeitgenössischen Beobachtung des Disco-Phänomens im Westdeutschland der Jahre 1975–1981 die Widersprüchlichkeit der zahlreichen Projektionen, die auf die gleichermaßen als unpolitisch und anpassungsgestört geschmähten Jugendlichen geworfen wurden. Demgegenüber verweist Peter-Paul Bänziger bei seiner Analyse des „Entpolitisierungsdiskurses“ in der Schweizer Aids-Arbeit der 1980er-Jahre darauf, wie sehr gerade die Forderung von Politikern und Aktivisten, die Aids-Prävention nicht ideologisch zu verhandeln, zur Herausbildung einer gouvernementalen Gesundheitspolitik führte, die auf Erziehung und Mitarbeit „präventiver Selbste“ setzte (S. 263).

Der empirische Belege zugunsten von Verweisen auf zahlreiche bekannte Theoretiker eher vernachlässigende Beitrag von Massimo Perinelli über Migration und deren Folgen in der Bundesrepublik erscheint hingegen wenig überzeugend. Die Ankündigung, sich von klassischen Opfer- wie auch Erfolgsgeschichten der Migration abzugrenzen und stattdessen die gesellschaftlich positiven avantgardistischen Rollen migrantischen Lebens genauer in den Blick zu nehmen, klingt vielversprechend. Allerdings hat Perinelli seine harsche Ablehnung von „Integration“ als „falsches Versprechen und das wirkungsvollste Mittel zur migrantischen politischen Selbstentwaffnung“ (S. 214) sowie die prinzipielle Zurückweisung von Integrationsforderungen auch bereits an anderer Stelle als migrationspolitischer Aktivist veröffentlicht.3 Wenngleich im Sammelband in einem gemäßigteren Ton vorgetragen, drängt sich dennoch der Eindruck auf, dass der Text die Grenze von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zur politischen Bekenntnisschrift stellenweise überschreitet. Auch bei Julia Stegmanns Analyse der „Konstruktion ‚demokratischer‘ Selbste“ in zwei Spielfilmen über Neonazis wäre es wünschenswert gewesen, die Autorin hätte die Subjektivität der einen oder anderen Interpretation deutlicher hervorgehoben und auch einige ambivalentere Deutungen vorgestellt. Ihrer grundsätzlich bedenkenswerten These, die filmische Darstellung diene weniger der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich verbreiteten neonazistischen Ideologemen, sondern eher der Selbstberuhigung der vermeintlichen „Mitte der Gesellschaft“, hätte dies keinen Abbruch getan.

Die abschließenden Beiträge sind unter dem Stichwort der „Emotionalisierung“ zusammengefasst. In einer sehr gewinnbringenden Darstellung analysiert Florian Schleking die besondere Rolle von Rauschmitteln in der Findung und Überschreitung von „Selbst“ und Bewusstsein um 1970. Die von Körper- und Gefühlspraktiken geprägten Selbsttechniken des Drogenkonsums charakterisiert er dabei unter anderem als Aspekte eines „Orientalisierungsprozesses“, der bislang im Gegensatz zu „Amerikanisierung“ bzw. „Westernisierung“ noch recht wenig Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden habe. Demgegenüber bleibt Meike Wolf bei ihrer Beschäftigung mit der Sicht von Frauen mittleren Alters auf die Menopause und die damit zusammenhängende Auseinandersetzung mit dem „hormonellen Selbst“ (S. 387) und der häufigen Selbstwahrnehmung als vermeintliches „Hormonmangelwesen“ (S. 390) zu sehr der Gegenwart verhaftet. Zu Recht verweist sie darauf, dass die Deutung des natürlichen Phänomens der Menopause durchaus nicht natürlich erfolge, sondern erlernt werden müsse. Ihre Darstellung basiert allerdings im Wesentlichen auf qualitativen Interviews mit Frauen, wodurch zwar eine ethnographische Gegenwartsanalyse verbreiteter Vorstellungen erfolgen kann, der historische Blick auf die sozialen und kulturellen Aspekte ihrer Entstehung jedoch zu kurz kommt.

Nicht nur am letztgenannten Beispiel zeigt sich, dass der interdisziplinäre Zugang des Gesamtbandes trotz des gemeinsamen Theoriebezuges mitunter an seine Grenzen gerät. Zwar erweist sich die Überschreitung der Disziplinenschranken bei dem Projekt insgesamt als gelungen, insbesondere was die Identifizierung relevanter Themenfelder und Subjektivierungspraktiken angeht. Dem durch den Titel des Bandes besonders betonten zeithistorischen Anspruch werden jedoch nicht alle Beiträge gerecht, sei es aus methodischen Gründen oder wegen der Beschränkung auf einen zu starken Gegenwartsbezug. Bedauerlich erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass der ohnehin versehentlich nicht alle Autorinnen und Autoren umfassende biographische Überblick am Ende des Bandes vielfach nur die Forschungsinteressen, jedoch kaum die individuelle disziplinäre Herkunft und institutionelle Anbindung nennt. Während einzelne Texte aus dem historischen Konzept des Bandes somit eher herausfallen, könnte man andere naheliegende Themen vermissen, etwa aus der Zeitgeschichte von Ernährung oder Konsumverhalten. Dass es sich durchaus lohnen würde, auch in diesen sowie zahlreichen anderen Bereichen nach der historischen Bedeutung von Subjektivierungspraktiken zu fragen, zeigen jene Beiträge des Sammelbandes, denen es überzeugend gelingt, in ihrer Analyse die Mikro-Ebene des „Selbst“ mit der Makro-Ebene der „Gesellschaft“ in Beziehung zu setzen. Statt weiterer vor allem theoretisch verbundener Sammelbände wäre dann aber wohl eine noch stärker als bislang auf inhaltliche Verschränkung und thematische Auseinandersetzung orientierte Publikation zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht von Florian Schleking, eine ZeitGeschichte des Selbst, Bielefeld 04. / 05.06.2010, in: H-Soz-Kult, 02.08.2010, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3225> (20.01.2016).
2 Vgl. Jens Elberfeld / Marcus Otto (Hrsg.), Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld 2009; Martin Lengwiler / Jeannette Madarász (Hrsg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010; Sabine Maasen / Jens Elberfeld / Pascal Eitler / Maik Tändler (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011; Maik Tändler / Uffa Jensen (Hrsg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012.
3 Vgl. Massimo Perinelli, Strategia Kanak – Recht auf Rechte global. Im Wartezimmer des Weltgeistes…, zuerst erschienen in der links-revolutionären Szenezeitschrift „arranca!“, wieder veröffentlicht in: „Kanak Attak“, o.D., <http://www.kanak-attak.de/ka/text/wissen.html> (20.01.2016).