A. Bothe u.a. (Hrsg.): Geschlecht und Erinnerung im digitalen Zeitalter

Cover
Titel
Geschlecht und Erinnerung im digitalen Zeitalter. Neue Perspektiven auf ZeitzeugInnenarchive


Herausgeber
Bothe, Alina; Brüning, Christina Isabel
Reihe
Historische Geschlechterforschung und Didaktik – Ergebnisse und Quellen 4
Erschienen
Berlin 2015: LIT Verlag
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Juliane Brauer, Max Planck Institut für Bildungsforschung, Berlin

Digitalisierte Interviews mit Zeitzeugen/innen sind mittlerweile keine Seltenheit mehr, sondern Standard, mit ein paar Klicks im Internet einsehbar.1 Schulklassen lauschen seltener realen Menschen, diverse Lernsoftware und Videos ermöglichen ihnen stattdessen die Auseinandersetzung mit digitalen Erinnerungen.2 An diese „mediale Revolution“ (S. 1) knüpfen Alina Bothe und Christina Brüning an. Im Spannungsfeld von „Geschlecht, Erinnerung und Digitale Medien“ definiert der vorliegende Band ein „neues hochkomplexes Forschungsfeld“ (S. 28). Dabei sind weniger die historischen Analysekategorien Erinnerung und Geschlecht neu3, noch die spezifische Quellengattung videografierter Zeitzeugeninterviews, auch wenn das die Beiträge wiederholt behaupten.4 Neu ist ein Zusammendenken von Erinnerung und Geschlecht mit den Bedingtheiten digitaler Medien.

Der Band geht zurück auf eine Tagung, die 2013 an der Freien Universität Berlin stattfand. Der Ort ist nicht ganz unbedeutend für das Sujet des Sammelbandes. Denn anders als der Titel suggeriert, geht es nicht allgemein um Erinnerung im digitalen Zeitalter. Die Mehrzahl der Beiträge bezieht sich auf das Zwangsarbeiterarchiv und das Visual History Archive der Shoah Foundation und damit auf genau die digitalen Archive, die seit einigen Jahren an der Freien Universität vom Center für digitale Systeme (CeDiS) betreut werden.5 Somit ist der Band als eine Auseinandersetzung mit diesen besonderen Archiven und als Beitrag zur Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus zu verstehen.

Die Beiträge gliedern sich in drei Abschnitte. Unter der Überschrift „Reflexion des technisch-medialen Rahmens“ folgen zwei Artikel, die sich der Entstehung, Erschließung und Archivierung von digitalen Zeitzeugeninterviews widmen. Den mit sieben Aufsätzen größten Teil findet man unter der Überschrift „Erzählräume geschlechtlich geprägter Narrative“. Der Band schließt mit vier Beiträgen zu den didaktischen Herausforderungen.

Die programmatische Einleitung versucht das Forschungsfeld im Dreieck von Geschlecht, Erinnerung und digitalen Medien abzustecken, wobei eindeutig das Hauptaugenmerk im Bereich von Gender liegt, eine Kategorie, die Bothe und Brüning eher als einen „Differenzierungsmodus im Sinne der ‚Intersectional Studies‘“ (S. 8) begreifen, denn als „dichotome Zuschreibung“. Auffallend ist, dass neuere Beiträge zur Gender- und Holocaust-Diskussionen nur am Rande wahrgenommen werden (darauf verweist allein schon das umfangreiche Literaturverzeichnis im Beitrag von Andrea Petö und Helga Dorner im gleichen Band), dennoch macht das selbsternannte Ziel des Bandes „aus[zu]loten, inwieweit Geschlecht eine ergiebige Forschungskategorie für Zeugnisse aus Digitalen Archiven“ (S. 13) sein könne, neugierig. Der Hinweis, dass eben nicht nur Erfahrung und Erinnerung „geschlechtlich kodiert“ seien, sondern ebenso die „Entstehung der Zeugnisse“, ihre „archivarische Rahmung und Bearbeitung“ (S. 28), verweist auf das enorme Erkenntnispotenzial der zentralen Fragestellung.

Auch wenn die meisten Kapitel für sich genommen lesenswert und informativ sind, gelingt es nur wenigen von ihnen konsequent Gender- und Holocaustforschung mit den Spezifika digitaler Zeitzeugenarchive zusammenzubringen. Alina Bothe beispielsweise stellt in ihrem Beitrag heraus, wie ein durch die Kategorie Gender geschärfter analytischer Blick auf videografierte Interviews spezifische Deutungen der Erinnerungen und Erzählungen zulässt. Sie untersucht vergleichend die Interviews des Ehepaares Rivka und Josef Gothard, wobei sie nicht nur auf unterschiedliche Erinnerungen fokussiert, sondern eben auch auf die Interviewsituation, die Bedeutung der Interviewerin, den Rahmen der Produktion von Erinnerung. Lesenswert ist ebenso der Beitrag von Cay Buschmann und Selman Erkovan über das „nicht-heteronormative Erzählen“ von überlebenden Männern, die wegen ihrer Homosexualität verfolgt wurden. Interessant ist weiterhin der als Erfahrungsbericht gehaltene Artikel der Filmemacherin Loretta Walz, die seit über 30 Jahren Interviews mit überlebenden Frauen führt und die Veränderungen in den Erzählungen der Frauen aus Ravensbrück beschreibt.

In der Summe zeigen die Beiträge, welche Vielfalt an Themen die digitalen Archive ermöglichen, die bisher kaum auf der Agenda der Holocaustforschung zu finden waren. In der Hauptsache untersuchen die Artikel gesellschaftspolitische Bedingtheiten von Erinnerungen und ihre Überformungen im Kontext nationaler Geschichtskulturen, wie am Beispiel ehemaliger NS-Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion (Grete Rebstock), von Westzwangsarbeiterinnen (Regina Plasswilm) oder der Vergleichsperspektive von Überlebendenerzählungen in Israel und den USA (Elisabeth Frey). Jenseits dieser Vielzahl an Themen fällt dennoch auf, dass die meisten der Artikel auf das Zusammenspiel von Geschlecht und Erinnerung, beziehungsweise Erinnerung und digitale Medien fokussieren. Damit zeigen sie indirekt, wie schwierig es ist, alle drei Aspekte gleichgewichtig zu berücksichtigen.

Geholfen hätte an diesem Punkt ein systematischer Zugriff auf quellenkritische Analysen der videografierten Interviews. In vielen Beiträgen scheinen dazu instruktive Ideen auf. Die wiederholte Behauptung, dass es bisher nur wenig publizierte Überlegungen in diesem Feld gäbe, hält sich hartnäckig, lässt sich jedoch schnell widerlegen.6 Eine fehlende methodische Sensibilität für das Medium der Überlebendenberichte wird genau dann offensichtlich, wenn in einigen Beiträgen unklar bleibt, ob die Autoreninnen und Autoren aus den zur Verfügung stehenden Transkripten zitieren oder aus dem Video selbst transkribieren. Aspekte der nonverbalen Kommunikation fallen dabei nicht selten unter den Tisch. So gibt es bezeichnende Gesten in den Interviews mit überlebenden Frauen, die die Geschichte weiter „erzählen“, wenn die Worte fehlen. Manchmal sind die Gesten so bedeutungsoffen, dass nur vermutet werden kann, was sie in Verbindung mit dem plötzlichen Schweigen bedeuten. Genau an diesen Punkten ließe sich das Spannungsverhältnis von Geschlecht, Erinnerung und digitalen Medien produktiv weiter denken. Während der Beitrag von Sylvia Carmen Degen zu Recht auf die „Illusion“ einer vermeintlichen Authentizität im Falle der Übersetzungen verweist, verbleibt die Illusion des videografierten Interviews als Text zumeist unkommentiert.

Dennoch ist der Band bemerkenswert auch deshalb, weil er nicht nur die Fragen zum Nutzen der digitalen Archive für die Geschichtswissenschaft diskutiert, sondern mit den Beiträgen zu „didaktischen Herausforderungen“, kenntnisreich den Bogen zum historischen Lernen an Schulen und Universitäten schlägt. Man merkt den Beiträgen an, dass sie empirisch auf langjährigen Erfahrungen beruhen und daher auch souverän den Horizont für die pädagogische Arbeit öffnen können. Es handelt sich um ein instruktives und lesenswertes Kompendium vielfältiger Nutzungsmöglichkeiten, Zugriffe und Problemaufrisse, verbunden mit dem Hinweis auf Grenzen von digitalisierten Erinnerungen. In dieser Vielstimmigkeit regt er an, sich reflektiert mit den vielfach Online verfügbaren Videos auseinanderzusetzen und eigene Fragestellungen zu formulieren.

Anmerkungen:
1 Siehe die Zusammenstellung von annähernd 40 verschiedenen digitalen Zeitzeugenarchiven: Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte <http://www.zwangsarbeit-archiv.de/links/index.html#Digitale-Zeitzeugen-Archive> (03.10.2015).
2 Zum Beispiel: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Zeugen der Shoah. Fliehen – Überleben – Widerstehen – Weiterleben. Lernsoftware mit Videointerviews, Bonn 2013.
3 Jacob Guggenheimer u. a. (Hrsg.), „When we were gender .“ - Geschlechter erinnern und vergessen: Analysen von Geschlecht und Gedächtnis in den Gender Studies, Queer-Theorien und feministischen Politiken, Bielefeld 2013; Anna Reading, The Social Inheritance of the Holocaust: Gender, Culture and Memory, Basingstoke 2002.
4 Zuletzt: Nicolas Apostolopoulos / Cord Pagenstecher (Hrsg.), Erinnerung an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt, Berlin 2013.
5 Siehe dazu das Visual History Archive an der Freien Universität Berlin, <http://www.vha.fu-berlin.de/> (03.102015), und Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte, <http://www.zwangsarbeit-archiv.de/index.html> (03.10.2015).
6 Einen aktuellen und guten Überblick über Literatur zu digitalen Archiven in der Geschichtswissenschaft findet man auf der Seite des Visual History Archive, <http://www.vha.fu-berlin.de/fu/literatur/index.html> (03.10.2015).

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