Cover
Titel
Innocence and Victimhood. Gender, Nation, and Women's Activism in Postwar Bosnia-Herzegovina


Autor(en)
Helms, Elissa
Reihe
Critical Human Rights
Erschienen
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 26,22
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kathleen Zeidler, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig

Die meisten Leser, die den Bosnienkrieg Ende des letzten Jahrhunderts bewusst miterlebt haben, werden sich an die Fernsehbilder von älteren, meist bäuerlich gekleideten und Kopftuch tragenden Frauen in endlosen Flüchtlingstrecks und Flüchtlingslagern, und an verstörende Berichte von massenhaft vergewaltigten und zwangsgeschwängerten muslimischen Mädchen und Frauen erinnern. Genau diese ‚iconic images‘ sind es, so Elissa Helms, die das Bild von der bosnischen Frau als Opfer geprägt haben, und die symbolisch für den Opferstatus der bosniakischen Nation als Ganzes stehen. Um eine moralische Überlegenheit aufgrund des kollektiven Opferseins zu reklamieren, musste die Unschuld möglichst umfassend und ungetrübt sein.

Diese Bilder, zudem geprägt von orientalistischen und balkanistischen Vorstellungen von der patriarchalischen bosnischen Gesellschaft, seien deshalb so wirkmächtig gewesen, weil bosniakische Frauen selbst auch in den Vergewaltigungsdebatten der 1990er-Jahre kaum zu Wort gekommen seien und der Diskurs eher über und für sie als mit ihnen geführt wurde. Dies ändert sich mit der Monographie von Helms was ‚aktivistische‘ Frauen angeht. Vornehmlich von außen von den Intervenierenden der ‚Internationalen Gemeinschaft‘ sei dem ein weiteres Bild hinzufügt worden: das ebenso essentialistische Bild der über jegliche Nationalismen erhabenen (bosniakischen) Frau als ‚peacemaker‘.

In ihrer anthropologisch ausgerichteten Arbeit verfolgt Helms nun das Ziel, auszuloten, wie die Objekte solcher Repräsentationen, also die (bosniakischen) Frauen Bosnien-Herzegowinas, mit diesen umgehen, und auf welche Art und Weise sie diese zurückweisen, aufgreifen oder ignorieren. Dazu hat sie über den langen Zeitraum von 15 Jahren, beginnend in der unmittelbaren Nachkriegszeit, intensive Feldforschung betrieben. Dabei ist ihre Akribie hervorzuheben, ebenso wie die ausführliche Rezeption von Forschungsliteratur aus dem post-jugoslawischen Raum sowie feministischer und postkolonialer Ansätze. Trotz einer kritischen Perspektive schreibt sie stets mit großem Respekt für ihre Gesprächspartner und behandelt diese auf Augenhöhe.

Die Nationalismusforschung ist schon vor geraumer Zeit auf die Genderperspektive ausgeweitet worden, und auch die regionale Forschung zur Geschichte der Jugoslawienkriege hat längst die Wichtigkeit des sozialen Geschlechts erkannt. Elissa Helms ist es nun gelungen, die ebenfalls in jüngster Zeit auch in der Forschung zu Südosteuropa angekommene Thematisierung zivilgesellschaftlicher Akteure auf äußerst gelungene Art mit dem Vorgenannten zu verknüpfen.

Zunächst entfaltet die Autorin knapp, prägnant und auf dem aktuellen Forschungsstand den Kontext, in den die Repräsentationen der bosnischen Frauen eingebettet sind. Sie zeichnet Bosnien als Nachkriegs- und postsozialistische Gesellschaft nach, geprägt von der nach wie vor präsenten internationalen Intervention, Herausforderungen durch nationalistische Parteien im Inneren und durch multiple Transformationen der Gesellschaft, und die damit einhergehende Veränderung moralischer Codes. In einem zweiten Schritt diskutiert Helms die Wissensproduktion über Bosnien, den Balkan, Islam und Gender in der akademischen, politischen und aktivistischen Sphäre.

Im zweiten Kapitel steht eine Rekapitulierung der Kriegsgeschehnisse aus Genderperspektive im Vordergrund. Diese wird sowohl herangezogen, um den Stand der Frauen und des Feminismus im sozialistischen Jugoslawien zu analysieren, als auch die geschlechtlichen Muster der Gewalt in den Jugoslawienkriegen. Besonders der Diskurs um Kriegsvergewaltigungen und andere Arten sexualisierter Gewalt zeigt, wie nationalistische und feministische Interpretationsmuster miteinander konkurrierten und sowohl bosnische und post-jugoslawische als auch internationale Frauenaktivistinnen spalteten. Ebenso vermag die Autorin überzeugend zu zeigen, wie der bosniakische Nationalismus, der aufgrund seiner inhärenten Idee eines multiethnischen Bosnien oftmals nicht leicht als solcher zu erkennen ist, Genderaspekte des Krieges nutzt und wie er sich zu den Vergewaltigungsopfern und zu Kindern aus Zwangsvergewaltigungen positioniert.

Im dritten Kapitel nähert sich Helms ihren eigentlichen Untersuchungsobjekten, indem sie die nach dem Krieg boomende NGO-Szene, insbesondere die Frauenorganisationen, vorstellt. Die Frauenaktivistinnen, die Helms begleitet, beobachtet und interviewt, bewegen sich in einem weiten Feld, von ‚feminismusfreundlichen’ wie Medica Kosova, über religiös-muslimische bis hin zu Überlebenden- und Opferorganisationen wie die Frauen und Mütter von Srebrenica. Sie maßen Genderaspekten in ihrer Arbeit jeweils sehr unterschiedliche Bedeutungen bei und waren allesamt in unterschiedlichem Maße geprägt von den Vorstellungen der vor allem westlichen Geldgeber. Außerdem lavierten sie zwischen ehrenamtlichem Engagement und neoliberaler ‚NGO-isierung‘ und Professionalisierung. Helms betont die (unbeabsichtigte) Rolle der Geldgeber bei der Festigung des Bildes der Frauen als Mütter und Ernährerinnen durch die Fixierung auf ihre besondere Bedeutung als ‚peacemaker‘, wobei ‚handfeste‘ Aushandlungen der Nachkriegsordnung doch nur mit der männlich geprägten politischen Elite geführt wurden.

In den folgenden drei Kapiteln, die den Hauptteil und die eigentliche empirische Forschungsarbeit ausmachen, werden die verschiedenen Repräsentationsstrategien der Frauenaktivistinnen analysiert, und zwar in drei Kategorien, die der Autorin nach in der ‚diskursiven Arena‘ im Nachkriegsbosnien einen dominierenden Platz einnahmen: Nationalismus, das Politische und der Opferstatus.

Bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Frauenaktivismus und Nationalismus macht Helms eine ganze Bandbreite an Strategien aus. Am einen Ende des Spektrums sieht sie Aktivistinnen, die stark konservative Narrative von Geschlechtsunterschieden entwickelten, oder eine moralische Hierarchie aufbauten, indem sie die Rolle von Frauen und Müttern bei der Erziehung von Kindern zu friedliebenden, anti-nationalistischen (= bosniakischen) oder nationalistischen, zur Waffe greifenden (= serbischen) Menschen betonten, womit sie ethnische Unterschiede reproduzierten und einer ‚Versöhnung‘ zwischen den ethnischen Gruppen eher im Weg standen. Am anderen Ende des Spektrums waren Frauen aktiv, die sich selbst als Feministinnen bezeichneten. Für diese stand die Solidarität unter Frauen im Vordergrund, und sie setzten sich für interethnische Zusammenarbeit ein. Dies ermöglichten sie durch ‚strategisches Vermeiden‘ gewisser besetzter Themen. Die zu bewältigenden Herausforderungen für eine interethnische Zusammenarbeit feministischer Aktivistinnen diskutiert die Autorin exemplarisch an zwei Punkten: die NATO-Bombardierung Serbiens, die den feministischen Anti-Militarismus herausforderte, und die Kriegsvergewaltigungen, deren Interpretation als systematisch und ‚genozidal‘ oder aber als in erster Linie gegen Frauen gerichtet die Frauen letztlich spaltete.

Im fünften Kapitel geht es um Frauen im Feld des Politischen, welches durch einen gegenderten Gegensatz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen geprägt ist. Frauen wurden essentialistisch als Gegenpart zur männlichen Prägung der Politik von Gewalt und Korruption konstruiert. Dies geschah, indem die eigentlich oft politische Arbeit der Frauen-NGOs als ‚humanitär‘ dargestellt wurde. Um dennoch die, von der internationalen Gemeinschaft intendierte, Beteiligung an der Politik zu legitimieren, nutzten die Frauen essentialistische Bilder des passiven kollektiven Opfertums und ihrer Mutterrolle, um sich von der destruktiven, negativ konnotierten, Politik der Vergangenheit und der Gegenwart zu distanzieren und sich gleichzeitig als befähigt für eine neu gedachte, idealisierte Politik der Zukunft zu zeigen.

Im letzten inhaltlichen Kapitel wird die öffentliche Repräsentation von vergewaltigten Frauen thematisiert. Kämpfe und Debatten um Entschädigungen, um Zeugenaussagen bei Kriegsverbrecherprozessen und um Authentizität und das Recht über und für Überlebende von Vergewaltigungen zu sprechen, zeigen einen gewissen ‚Wert‘ vergewaltigter Frauen als Symbole des kollektiven Opferstatus, und ihre gleichzeitige Stigmatisierung und Unterlegenheit in Opferhierarchisierung und Opferkonkurrenz. Der Genderaspekt von sexualisierter Gewalt allgemein wurde hingegen in der Öffentlichkeit, auch bei den bosnischen NGOs selbst, kaum thematisiert. Daher stellt Helms die These auf, dass das Schweigen über Vergewaltigungen die anhaltende Macht kollektiver Opfer- und Täternarrative zeigt, die Art und Weise zu diktieren, wie sexualisierte Gewalt verstanden wird.

Äußerst plausibel weist Helms in allen Untersuchungsfeldern das nach, was sie in Anschluss an Fox1 ‚affirmativen Essentialismus‘ nennt. Das heißt, die Selbst- und Fremdrepräsentationen von Frauen in Bosnien-Herzegowina sind von essentialistischen, im Grunde durchaus positiven Vorstellungen von Frauen durchzogen (Frauen als Friedensstifter, als unschuldige Opfer etc.). Helms zeigt überzeugend, wie Frauenaktivistinnen teils bewusst, teils unbewusst, affirmative Bilder von Opfersein und Unschuld strategisch und gewinnbringend nutzten, weil mit ihnen automatisch eine Verneinung der Verantwortung für das im Krieg Geschehene, für moralische Reinheit und Unschuld verbunden waren, die die Rolle von Frauen in der Öffentlichkeit legitimieren konnten. Der Nutzen war jedoch langfristig begrenzt, da die Frauen letztlich ihrer traditionellen Mutterrolle verhaftet blieben und nicht zu ernst genommenen Akteuren auf der politischen Ebene wurden.

Die Grenzen der Geschlechterlogik – Frau als Nation, Mann als Beschützer – werden anhand der Interpretation von sexualisierter Gewalt im Krieg besonders deutlich. Nach dieser Logik bedeutet der Opferstatus der Frau letztlich gleichzeitig auch das Versagen des Mannes. Daher wurden Vergewaltigungen in Bosnien eher nicht ins kollektive Gedächtnis aufgenommen, sondern nur punktuell und gegenüber Internationalen Akteuren thematisiert. Stattdessen nahm Srebrenica den wichtigsten Platz ein, da hier ebenfalls weibliches Opfersein repräsentiert wird, jedoch auf eine günstigere Art und Weise.

Auf Postkonfliktsituationen im Allgemeinen angewendet, macht sich Helms dafür stark, alle Stimmen und Perspektiven zu hören, auch die der ‚Betroffenen‘ selbst. Außerdem sei wichtig, Erklärungsmuster jenseits von Ethnizität und Nationalismus in die Analyse der Konflikte einzubeziehen. Helms zeigt eindrucksvoll, dass man nicht von der kollektiven Gruppe der ‚Frau‘ sprechen kann, sondern das andere Parameter und Kategorien wie Bildung, Stadt-Land-Gefälle etc. ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Selbstverortung und Handlungsleitung der Frauen spielen. Und auch gut gemeinter affirmativer Essentialismus, der Frauen als Opfer und Friedensbringer feiert, trägt nicht zur Befriedung bei, weil dadurch eine ethnische Interpretation des Krieges verstärkt werden kann.

Helms‘ Buch verweist eindrücklich auf das Potential der Genderkritik für die Destabilisierung ethnonationaler Deutungsrahmen, wie sie in Kunst, Wissenschaft und Journalismus bereits fruchtbar gemacht werden. Um wirklich sowohl geschlechtliche als auch ethnonationale Machthierarchien aufzubrechen, müssen kontinuierlich versteckte essentialistische Repräsentationen aufgedeckt werden, die durch Narrative kollektiven Opfertums und die Art und Weise geschaffen werden, wie sie moralische Ansprüche auf Unschuld produzieren.

Anmerkung:
1 Richard G. Fox, Gandhi and Feminized Nationalism in India, in: F. William Brackette (Hrsg.), Women Out of Place. The Gender of Agency and the Race of Nationality, New York 1996, S. 37–49.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch