Cover
Titel
Hot Stuff. Gender, Popkultur und Generationalität in West- und Osteuropa nach 1945


Herausgeber
Seegers, Lu
Reihe
Göttinger Studien zur Generationsforschung. Veröffentlichungen des DFG-Graduiertenkollegs »Generationengeschichte« 19
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
219 S., 26 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aline Maldener, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Während die anglo-amerikanischen Geschichts- und Kulturwissenschaften bereits seit mehreren Jahren ihren Blick für popkulturelle Phänomene geöffnet haben1, steckt deren Betrachtung in der deutschsprachigen Historiographie noch weitgehend in den Kinderschuhen. So datiert der erste umfangreiche Doppelband zur „Popgeschichte“, der sowohl theoretisch das Feld der historischen Popkultur vermessen möchte als auch konkrete Fallstudien bietet, aus dem Jahr 2014.2 Insofern erscheint ein Band wie der hier von Lu Seegers vorgelegte gleich unter mehreren Gesichtspunkten als äußerst begrüßenswert. Nicht nur, dass die Hamburger Historikerin damit einen weiteren Schritt zur immer noch stiefmütterlich behandelten geschichtswissenschaftlichen Betrachtung von Popkultur generell unternimmt; sie tut dies darüber hinaus mit einer Ost-West-Perspektive, die sie zudem durch die Kategorien „Generation“ und „Gender“ ergänzt, um so weitere Forschungsdesiderata anzugehen.

Die Herausgeberin lädt dazu ein, einen Blick über den generationsgeschichtlichen Tellerrand hinaus zu werfen und die bisherige Fokussierung der Geschichtswissenschaft auf politische Generationen wie „die 45er“ oder „die 89er“ aufzubrechen. Einleitend betont Seegers, dass auch und gerade Popkultur für die Zeit nach 1945 in West- und Osteuropa generationsstiftend gewesen sei (S. 8). Um die Agenda und die Wirkungen popkultureller Akteure zu ermitteln, versammelt die Herausgeberin Beiträge, die sich mit unterschiedlichen Errungenschaften und Betätigungsfeldern der Popkultur auseinandersetzen, zum Beispiel mit Mode, Musik, Körpererfahrung und Film. Dabei spannt sie die Betrachtung über weite Teile West-, Ost- und Südeuropas – mit Abhandlungen zur DDR wie zur Bundesrepublik (hier auch teilweise vergleichend), zu Ungarn, Jugoslawien, der Sowjetunion sowie zu England und dem postfranquistischen Spanien.

Obwohl die Zusammenstellung der Beiträge insgesamt ausgewogen und gelungen erscheint, tragen doch nicht alle in gleicher Weise zu den in der Einleitung formulierten Zielen bei. Sehr überzeugend ist die Studie von Anna von der Goltz, die für die Bundesrepublik eine Historisierung von „Generation“ als zeitgenössischer Selbstzuschreibung konservativer bzw. gemäßigter „68er“ anstrebt. Durch die Analyse zum Beispiel der geschlechtsspezifischen Kleidungspraxen kann die Autorin nachweisen, dass diese Akteure ihren linken Mitstreitern viel ähnlicher waren, als es sich anhand ihrer Selbstverlautbarungen hätte vermuten lassen. Ein weiterer starker Beitrag – bei dem auch transfergeschichtliche Prozesse der Popkultur eine Rolle spielen – stammt von Sándor Hórvath. Auf der Quellengrundlage ungarischer Polizeiberichte zeichnet er empirisch sehr dicht das Schicksal von Anna R. nach, einem weiblichen Bandenmitglied, das zum „social contact“ der Polizei in der jugendlichen Subkultur wurde. Hórvath beleuchtet plausibel, wie Jugendkriminalität, westliche Popkultur und Generationenkonflikt in Ungarn zusammentrafen: Deviantes jugendliches Verhalten wurde in diesem sozialistischen System als Folge einer Präferenz für westliche Popkultur interpretiert, die nicht nur zum Konflikt im Elternhaus geführt, sondern letztlich auch politische Tragweite erlangt habe, da sie der herrschenden Ideologie widersprach.

Weniger überzeugt haben mich die Beiträge von Julia Benner und Vânia Morais, die mit der literatur- und filmwissenschaftlichen Analyse von Einzelwerken spezifischer Stil-Ikonen (Vivienne Westwood und Pedro Almodóvar) kaum den Anspruch erheben können, eine generelle westeuropäische Perspektive auf das Verhältnis von Gender, Popkultur und Generationalität zu eröffnen (zumal Frankreich, das in puncto Popkultur ebenfalls historiographisch noch wenig erschlossen ist, für Westeuropa hier eine sinnvolle, wenn nicht gar notwendige Ergänzung gewesen wäre). Obwohl Benners primäres Erkenntnisinteresse laut eigener Aussage darin besteht, herauszufinden, welche generationellen Bezüge Westwood in ihrem Werk herstelle und ob auf dieser Grundlage die Punkszene um Westwood als Generation gefasst werden könne (S. 188), arbeitet sich die Autorin hauptsächlich an der Intertextualität von Westwoods Werken ab und überprüft die Rezeption der Romanvorlage von Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ als Denkmodell in Westwoods Schaffen. Die Verknüpfung jener literaturwissenschaftlichen Analyse mit der Idee einer „Generation Punk“ gelingt nicht. Und auch die Gender-Perspektive bleibt nur eine Randnotiz, wenn die Autorin bemerkt, dass Westwoods Mode „mit den Kategorien Sex und Gender“ spiele (S. 189). Ähnlich isoliert und zu spezifisch mutet Morais’ Fallstudie zum Filmschaffen Almodóvars an, in dem – so die These der Autorin – Gender ein konstitutives Element sei, das Generationen überhaupt erst schaffe und vorantreibe (S. 208). Relevanter noch als die Frage nach der Konstruktion von Gender in diesen Filmen anhand der Betrachtung ihrer Protagonisten wäre im Kontext des Sammelbandes diejenige nach der Rolle des Regisseurs und seines Hintergrundes in der „Movida Madrileña“ gewesen, d.h. eine Analyse, inwiefern das filmische Schaffen Almodóvars als Produkt und Reflexion seines Aktivismus zu werten ist und ob es so etwas wie eine „Generation Movida Madrileña“ gegeben haben mag.

Die bis hierhin schlaglichtartig aufgeführten Punkte führen bereits zu den Problemen des Sammelbandes. So begrüßenswert die Bandbreite der Betrachtung von Popkultur und Gender in gleich mehreren west- und osteuropäischen Ländern grundsätzlich ist, so haben wir es überwiegend noch mit dem von Volker Depkat im Zusammenhang der Generationengeschichte schon monierten Problem der Addition nationalstaatlicher Historiographien zu tun.3 Zwar klingen besonders in den Beiträgen im Kapitel zu Südosteuropa und der Sowjetunion immer wieder Kulturtransfers an – hauptsächlich von West nach Ost –, doch werden sie nicht explizit als solche benannt oder tiefergehend analysiert. Der Fokus bleibt letztlich auf dem jeweiligen Ankunftsland selbst. Lediglich der Beitrag von Rebecca Menzel im Abschnitt zu den beiden deutschen Staaten, der die Denkfiguren von West-Pop als Generationenkonflikt und Ost-Pop als Systemkritik durch die Einnahme einer gender- und sozialgeschichtlichen Perspektive neu auf den Prüfstand stellt, arbeitet klar komparatistisch, indem er die Bundesrepublik und die DDR miteinander ins Verhältnis setzt.

Eine weitere Schwierigkeit des Bandes liegt in der teilweise unklaren bzw. zu wenig trennscharfen Terminologie. Während „Populärkultur“ auf S. 7 als „Erzeugnisse und Alltagspraktiken jenseits der Hochkultur“ sowie nach Kaspar Maase als „zentraler Bereich alltäglicher, lebensverbessernder und ästhetisierender Erfahrung“ definiert wird, gibt es vorab keine genaue Festlegung des auch titelgebenden Begriffes „Popkultur“ oder „Pop“, weder in Anlehnung noch in Abgrenzung zum Konzept der „Populärkultur“. Dies hat zur Folge, dass in den Einzelbeiträgen die Terminologie mitunter heterogen anmutet. Seegers selbst benutzt in ihrer Einleitung parallelisierend die Begriffe „Jugendkultur“, „Subkultur“, „Massenkultur“, „Popkultur“ und „Populärkultur“. Wenig nachvollziehbar erscheint ihre Argumentation auf S. 23, wenn sie „Populärkultur“ als Kontrast zur „Mainstream-Kultur“ beschreibt, auf S. 7 in einer Fußnote „Populärkultur“ aber bereits als „Massenkultur“ gedeutet hat, wodurch sich die Frage nach einer sinnvollen bzw. überhaupt möglichen Unterscheidung zwischen „Massenkultur“ und „Mainstream-Kultur“ aufdrängt. Hilfreich für eine klarere Konturierung der Termini wäre es möglicherweise gewesen, die kulturtheoretischen Konzepte des Birminghamer Centre of Contemporary Cultural Studies aus den 1970er-Jahren stärker zu berücksichtigen. Damit hätte sich die Chance ergeben, deren zeitgenössische Deutungen von Jugend- als Subkulturen, ihre verengte Fokussierung auf männliche, deviante, weiße Jugendliche aus gender- und generationsgeschichtlicher Perspektive zu historisieren.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Lu Seegers mit ihrem Sammelband in ein komplexes Feld zeitgeschichtlicher Forschung vordringt und mit der ambitionierten Verknüpfung gleich mehrerer Untersuchungsebenen sowie (nicht unumstrittener) Kategorien wie „Gender“ und „Generation“ interessante und wichtige Blickwinkel für die Historisierung von Popkultur eröffnet. Gleichwohl bleibt die (Re-)Konstruktion von Generationen durch Popkultur durchaus problematisch, insbesondere wenn das diese Generationen einende Element „Pop“ sich als Quellenbegriff einer definitorischen Festlegung entzieht; und vor allem auch dann, wenn die Kategorie „Generation“ keine zeitgenössische Selbst- oder Fremdzuschreibung ist, die es zu historisieren gilt, sondern als retrospektive, analytische Forschungskategorie Verwendung findet. Die schwierige Operationalisierbarkeit der nachträglich geschaffenen Forschungs-Kategorie „Generation“, die in Anlehnung an Mary Fulbrook als einzige das Lebensalter als Faktor bei historischen Ereignissen erfassen könne, räumt die Herausgeberin auf S. 21 selbst ein, wenn sie anmerkt, dass „[a]ltersbezogene Erfahrungen […] stets auch von anderen Faktoren überlagert“ würden, mit „z.T. größerer Relevanz“. Nichtsdestotrotz besticht der Band durch seine thematische und methodische Vielfalt sowie seine interdisziplinäre Ausrichtung. Er bildet damit einen wichtigen weiteren Schritt zur längst überfälligen Historisierung von Popkultur, besonders in der deutschen Geschichtswissenschaft.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa John Storey, From Popular Culture to Everyday Life, London 2014; ders., Cultural Theory and Popular Culture. An Introduction, 7. Aufl., Harlow 2015; Marcel Danesi, Popular Culture. Introductory Perspectives, 3. Aufl., Lanham 2015.
2 Alexa Geisthövel / Bodo Mrozek (Hrsg.), Popgeschichte, Bd. 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld 2014; Bodo Mrozek / Alexa Geisthövel / Jürgen Danyel (Hrsg.), Popgeschichte, Bd. 2: Zeithistorische Fallstudien 1958–1988, Bielefeld 2014; siehe dazu die Rezension von Fernando Esposito, in: H-Soz-Kult, 23.03.2016, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23527> (30.03.2016).
3 Volker Depkat, Rezension zu: Stephen Lovell (Hrsg.), Generations in Twentieth-Century Europe, Basingstoke 2007, und Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2008, in: H-Soz-Kult, 21.11.2008, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-11200> (30.03.2016).