K. Deecke: "Staatswirtschaft vom Himmel herabgeholt."

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Titel
"Staatswirtschaft vom Himmel herabgeholt.". Konzeptionen liberaler Wirtschaftspolitik in Universität und Verwaltung 1785–1845: Ausprägungen und Brechungen am Beispiel Ostpreußens und Vorpommerns


Autor(en)
Deecke, Klara
Reihe
Studien zu Policey, Kriminalitätsgeschichte und Konfliktregulierung
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
XI, 683 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Justus Nipperdey, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

„Staatswirtschaft vom Himmel herabgeholt“ – das Titelzitat macht plastisch deutlich, worin es in Klara Deeckes überarbeiteter Fassung ihrer Greifswalder Dissertation geht: Nicht um abstrakte Theorien ökonomischer Zusammenhänge und damit die oftmals beklagte theoretisch defizitäre Smith-Rezeption im deutschen ökonomischen Denken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; sondern um die „konkreten Ausprägungen liberaler wirtschaftspolitischer Konzeptionen mit ihren Modifikationen und Brüchen“ (S. 6), und zwar parallel in der universitären Wirtschaftswissenschaft und der wirtschaftspolitischen Verwaltungspraxis. Deecke möchte somit einerseits feststellen, wie sich die Universitätsgelehrten die Umsetzung der liberalen Lehren vorstellten und wie sie jene an die örtlichen Gegebenheiten anpassten; und andererseits, welche Rolle diese Konzeptionen in der Verwaltung spielten und in welchem Verhältnis Wissenschaft und Verwaltung vor Ort standen.

Zu diesem Zweck hat die Autorin zwei Untersuchungsgebiete für einen Vergleich ausgewählt: Ostpreußen mit der Universität Königsberg und Schwedisch Vorpommern/Neuvorpommern mit der Universität Greifswald bzw. der landwirtschaftlichen Akademie Eldena. Beide Regionen verbinden neben der Lage an der Ostsee weitere Gemeinsamkeiten wie die Dominanz agrarischer Interessen und die preußische Verwaltung ab 1815. Ebenso deutlich sind jedoch auch die strukturellen Unterschiede, die sich während des Untersuchungszeitraums sehr deutlich auf die Reflexion über und Umsetzung von wirtschaftsliberaler Politik auswirken.

Im zweiten Kapitel widmet sich Deecke zunächst allen relevanten Königsberger und Greifswalder Professoren samt deren wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Im Königsberger Fall sind das prominente Namen wie Christian Jacob Kraus oder der später in Berlin tätige Johann Gottfried Hoffmann, wohingegen die Greifswalder Professoren sehr viel weniger bekannt sind. Dieses Kapitel erinnert in seiner Abfolge von Personen mit ihren jeweils aus Publikationen ableitbaren ökonomischen Vorstellungen zwar am ehesten an klassische Dogmengeschichten der Nationalökonomie, setzt aber in der Konzentration auf die Wirtschaftspolitiktheorie eigene Akzente. Im Zentrum des Interesses stehen also weniger systematische Überlegungen zum Funktionieren des Wirtschaftssystems als die professoralen Vorstellungen und Rechtfertigungen konkreten wirtschaftspolitischen Handelns. Diese Ansichten beziehen sich auf die zeitgenössischen Großthemen wie Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Frühindustrialisierung und Pauperismus, die sich oft in Bewertungen begrenzter tagespolitischer Probleme manifestieren. Das wirtschaftspolitische Verwaltungshandeln in Königsberg und Stralsund zwischen 1785 und 1845 zeichnet das folgende Dritte, 240 Seiten lange Kapitel chronologisch nach. Methodisch, inhaltlich und in Bezug auf die Quellenbearbeitung ist dies der Kern des Buches: hier kann man die Implementierung wirtschaftliberaler Konzeptionen, die Widerstände und den mal größeren, mal kleineren Einfluss der Universitätsgelehrten in actu nachvollziehen. In den Kapiteln vier und fünf folgt dann die Darstellung der personellen Verflechtungen zwischen Universität und Verwaltung sowie eine vergleichende Analyse, die alle vier Untersuchungselemente (Königsberger Professoren, Greifswalder bzw. Eldenaer Professoren, Regierung Königsberg, Regierung Stralsund) systematisch zusammenführt.

Königsberg wird dabei seinem Ruf als Epizentrum der Rezeption und Verbreitung des Wirtschaftsliberalismus gerecht, nicht nur in der universitären Wirtschaftswissenschaft, sondern auch in der Verwaltung. Mit dem Beginn der Amtszeit des Kammerpräsidenten Hans Jakob von Auerswald 1802 macht Deecke einen enormen Reformschub ‚vor den Reformen’ aus. Auf Berliner Anfragen, welche ostpreußischen Manufakturen zu fördern seien, reagierte man in Königsberg mit einer Generalkritik der kameralistischen Manufakturpolitik. Stattdessen schlug man die Aufhebung des Zunftzwanges und des Königsberger Stapelrechts vor, was in Berlin abgelehnt wurde. Die Kammer argumentierte regelmäßig mit Rekurs auf wirtschaftsliberale Prinzipien, Auerswald selbst sprach wörtlich von „den liberaleren Grundsätzen der Kameralbehörden“ (S. 308). Die mit den preußischen Reformen gebotene Möglichkeit zur Umgestaltung der Wirtschaftsordnung ergriffen die Königsberger Beamten mit Eifer und steigerten noch ihre ideologischen Rechtfertigungen, immer in enger Verbindung mit den Universitätsprofessoren. Ein Hauptvertreter des Liberalismus, Karl Heinrich Hagen, diente über 30 Jahre parallel als Professor und Regierungsrat. Seit Mitte der 1820er-Jahre verschwanden allerdings die prinzipiellen Überlegungen aus den Verwaltungsberichten, wohl eher aufgrund der nun durchgesetzten Akzeptanz wirtschaftsliberaler Prinzipien als wegen der zunehmenden Kritik an den Mängeln des Systems.

Greifswald und Stralsund erweisen sich als ganz anderes Pflaster. Bis 1815 hielten Regierung und Gelehrte strikt an kameralistischen Prinzipien fest, die sie beim Übergang an Preußen zu verteidigen suchen. Weder die Gewerbefreiheit noch die preußische Agrargesetzgebung wurde auf Neuvorpommern ausgedehnt. Nach 1817 setzte sich auch hier eine gemäßigt liberale Richtung durch, die etwa die weiterhin bestehende Zunftverfassung möglichst liberal auslegte. Einige Jahre lang wurden die Standpunkte der Verwaltung prinzipiell hergeleitet, nie jedoch mit namentlichem Bezug auf Wirtschaftstheoretiker, wie es in Königsberg regelmäßig vorkam. Wie in Ostpreußen erlahmte der ideologische Eifer Mitte der 1820er-Jahre wieder, auch wenn die Verwaltung sich in Einzelentscheidungen weiter an wirtschaftsliberalen Kriterien orientierte. Als Hauptaufgabe setzte man sich nun die ökonomische Bildung und Erziehung der Untertanen, gerade auch zu ökonomischer Rationalität, die man ihnen entgegen des liberalen Credos nicht zutraute.

Deecke teilt diese Entwicklungen in eine Konstituierungs-, Konsolidierungs- und Krisenphase, die in ihren Untersuchungsobjekten ungleichzeitig auftraten. So findet sich etwa die Krisenphase, die durch die Reflexion über die Mängel und unerwarteten Folgen des Wirtschaftsliberalismus gekennzeichnet ist, an der Greifswalder Universität ab ca. 1833, an der Königsberger Universität und in der Stralsunder Verwaltung jedoch überhaupt nicht, weil dort die weitere Liberalisierung als Lösung angepriesen wurde. In diesem Fall ist die Phaseneinteilung nützlich, da sie der Schärfung des Ergebnisses dient. An anderer Stelle lenkt aber gerade die Phaseneinteilung den Blick auf Probleme der Darstellung. Denn die Konstituierungsphase lässt Deecke immer mit dem Auftreten der ersten expliziten wirtschaftsliberalen Ideen enden (obwohl die eigentliche Konstituierung ja dann erst beginnen kann). Obgleich sie immer wieder die Mischung liberaler und kameralistischer Konzepte erwähnt und der bisherigen Dogmengeschichte vorwirft, diese übersehen zu haben, trennt sie selbst doch ebenfalls sehr scharf zwischen beiden Richtungen. Dies mag aus heuristischer Sicht notwendig sein, wenn man das Auftauchen und die Durchsetzung liberaler Vorstellungen untersucht, es bringt aber gewisse Nachteile mit sich. Insbesondere erscheint der Kameralismus hier als monolithisches Gedankengebäude und alle Elemente, die dort angeblich nicht hineinpassen – etwa eine positive Wertung des menschlichen Gewinnstrebens oder der Glaube, dass Eigentümer besser als Pächter wirtschaften würden – werden dem Liberalismus zugeschlagen. Diese Dichotomie verzerrt die Untersuchung der Zeit vor 1800 (oder in Pommern vor 1815). Erst nach der tatsächlichen Smith-Rezeption konstituieren sich in den öffentlichen und Verwaltungsdebatten zwei definierbare Parteien.

Zugleich betont Deecke – zu Recht – immer wieder die starke Kontinuität zwischen Kameralwissenschaften und Liberalismus, die quer zu ihrer ideengeschichtlichen Heuristik liegt. Es ist sogar eine besondere Stärke des Buches, diese Kontinuitäten in der Praxis und der Selbstwahrnehmung der Akteure plastisch deutlich zu machen. So ist es auf Seiten der Professoren gerade ihr hergebrachtes kameralwissenschaftliches Selbstverständnis, dass sie zur ständigen und direkten Intervention in praktische wirtschaftspolitische Konflikte animiert, statt sich dem Aufbau systematischer Gedankengebäude zu widmen. Auch in der Verwaltung setzen sich die interventionistischen Traditionen fort, ja sie steigern sich sogar im Bemühen, den liberalen Zustand durch möglichst durchgreifende Verwaltungsakte herzustellen. Dieser von den Akteuren kaum reflektierte Widerspruch prägt den deutschen Wirtschaftsliberalismus des frühen 19. Jahrhunderts in hohem Maße. Diese Erkenntnis ist an sich nicht neu, aber noch nie konnte man den liberalen Beamten des frühen 19. Jahrhunderts so gut beim Lesen, Denken und Handeln über die Schulter sehen wie bei Klara Deecke.