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Titel
Demokratie. Geschichte - Formen - Theorien


Autor(en)
Vorländer, Hans
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 7,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Demokratien haben Konjunktur. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1990/91 scheint es, als ob moderne Gesellschaften Demokratie und Marktgesellschaft typischerweise miteinander verbinden. 1974 waren etwa 30 Prozent aller Staaten liberale Demokratien, heute sind es bereits zwei Drittel aller Staaten. Ist die kapitalistische Demokratie also zur politischen Norm geworden, der gegenüber sich alle anderen Staatsformen im Zustand prinzipieller Illegitimität befinden? Hatte Martin Kriele recht, als er nach 1990 von einer „demokratischen Weltrevolution“ sprach? Ist die liberale Demokratie alternativlos? Hans Vorländers Überblicksdarstellung zur Demokratie erinnert an die historischen und systematischen Voraussetzungen dieses politischen Ordnungsmodells. Im Durchgang durch die Ideengeschichte von Kleisthenes bis Kielmansegg schildert er die Entstehung, Entwicklung und die inneren Sachprobleme der Demokratie.

Verstärkt wird das Interesse an der Geschichte und Theorie der Demokratie durch die europäische Integration und ihre Verfassungsentwicklung. Wenn gerade in diesen Tagen über die eine Verfassung der Europäischen Union entschieden wird, dann steht die Frage nach ihrem Demokratiegehalt oben auf der Tagesordnung. An dieser Frage hängt aber auch der „Legitimitätsglauben“ (Max Weber), der der Europäischen Union von ihren Bewohnern entgegengebracht wird. Die Geschäftsgrundlage des Nationalstaates, die Identität von politischem Raum, Sozialraum und Wirtschaftsraum, also die Einwirkungsmöglichkeit der Politik auf die Sozialstruktur und die Wirtschaft ist durch die Globalisierung des Kapitalmarktes verschwunden. Nach Claus Offe entreißt die Globalisierung „Wachstum, Beschäftigung und soziale Sicherheit“ der „einklagbaren Verantwortlichkeit von Regierungen“. 1 Gedeiht also Demokratie nur in nationalstaatlicher Einhegung und wird sie gegenstandslos, wenn Grenzen durchlässig und porös werden? 2

Vorländer, Fachvertreter für Politische Theorie an der Technischen Universität Dresden, zeichnet dennoch unangekränkelt von diesen Problemen ein optimistisches Zukunftsbild der Demokratie, solange sie ihre Grenzen kennt. Schließlich ist die Demokratie entstanden in engmaschigen Sozialräumen. Die Athener Bürger versammelten sich zur direkten Herrschaftsausübung in der Ekklesia (Volksversammlung). Den sozialräumlichen Bedingungen von Demokratie räumt der Autor einen zentralen Stellenwert in den weiteren historischen Ausführungen zur Demokratiegeschichte im 18. Jahrhundert ein, vor allem in den Vereinigten Staaten anhand der Verfassungsdebatten und der ‚Federalist papers‘. Im historischen Durchgang steht damit vor allem der Gedanke der Demokratie als einer Methode des Regierens im Mittelpunkt, die in Mischverfassungen, repräsentativen und direkten Modellen und „checks and balances“ immer wieder neu abgewandelt wird. Erhellend ist dabei der Hinweis auf die Verwandtschaft der Antifederalists mit der Demokratietheorie Rousseaus, der von einer identitären Konzeption von Volkssouveränität ausging, in der Fraktions- und Parteibildungen dem allgemeinen Willen gegenüber als prinzipiell abträglich galten. Mit den Federalists dagegen begann die Integration von Interessenvielfalt und „unterschiedlichem Gebrauch der Vernunft“ (S. 64) in die Demokratietheorie.

Noch in anderer Hinsicht stellte die Kontroverse zwischen ‚Federalists‘ und ‚Antifederalists‘ eine Wende in der Demokratietheorie dar. Die Antifederalists standen der Tradition demokratischer Bürgertugend näher, die einen dichten Kommunikationszusammenhang wie in den Townhall Meetings der Neuenglandstaaten voraussetzten. Dagegen entgrenzten die Federalists das Demokratiemodell zum ersten Mal auf einen großflächigen Staat, wo diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben sein konnten. Das Problem der Organisation von Demokratie ohne eindeutig geteilte Bürgertugend lösten die Federalists durch eine Kombination repräsentativer Institutionen, die von unmittelbarem Volkseinfluss frei waren, und einer doppelten Gewaltentrennung. Madisons Satz „Ambition must be made to counteract ambition“ (S. 64) wurde zum Programm der Entlokalisierung von Demokratie im Zeitalter sich differenzierender Interessen, die nunmehr gegen Rousseau als prinzipiell legitim angesehen wurden. Damit sind zwei Leitmotive vorgegeben, die die weitere Geschichte der Demokratie im 19. und 20. Jahrhundert bestimmten: die Verbindung von Gleichheit, allgemeinem Volkswillen und Partikularinteressen einerseits und die Kombination von indirekter, repräsentativer und direkter Demokratie andererseits.

Nicht nur in der Geschichte, auch in der Gegenwart erzeugen Demokratien „ihre Probleme zu einem guten Teil selbst“ (S. 117). Joseph Schumpeters Definition von Demokratie ging davon aus, dass der Volkswille nicht nur eine Bedingung des demokratischen Prozesses, sondern mindestens ebenso sehr sein Ergebnis ist. Demokratie erschien ihm daher als Elitenkonkurrenz und Führungsauslese. „Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben.“ (S. 110) Der Autor sieht in Schumpeters Demokratiedefinition eine realistische Auffassung von Demokratie. Demokratie wird damit auf den Kampf um Wählerstimmen reduziert. Einmal im Amt enttäuschen allerdings die Gewählten die Erwartungen der Stimmbürger. Vorländer folgert realistisch: „Der demokratische Legitimationszusammenhang behindert bisweilen die demokratische Effizienz.“ (S. 117)

Eine derartig intrinsische Betrachtungsweise realistisch zu nennen, verkennt indessen die extrinsischen Voraussetzungen des demokratischen Legitimationszusammenhanges. Nur intrinsisch ist etwa die Annahme einer „Selbstpreisgabe der Demokratie“ von Weimar (S. 82) sinnvoll. Tatsächlich sind für das Ende der Weimarer Demokratie aber mindestens ebenso sehr ihre Feinde von rechts und links verantwortlich. Nicht alle Weltanschauungen konkurrieren innerhalb der Demokratie. Manche konkurrieren auch gegen sie. Die Demokratie hatte und hat ihre Feinde. Der intrinsische „Realismus“ der Demokratietheorie Schumpeters erkauft seine Nüchternheit mit sozialmoralischer Enthaltsamkeit.

Dabei sieht Vorländer die Notwendigkeit vorpolitischer Bedingungen von Politik. Das Politische erklärt und legitimiert sich genauwenig von selbst wie die Demokratie. Es setzt vorpolitische, aus der kulturellen Praxis stammende, gemeinsame Wertladungen voraus, die es nicht erzeugen kann und auf die auch die Demokratie angewiesen bleibt. Der Autor fasst diesen Zusammenhang unter dem Begriffspaar ‚formell‘ und ‚informell‘. „Die Demokratie beruht demnach auf dem Zusammenwirken von informeller Meinungsbildung und verfasster Willensbildung, auf der Kooperation parlamentarisch-repräsentativer und authentischer Verständigungsprozesse im außerparlamentarischen, gesellschaftlichen Bereich.“ (S. 116) Demokratie gedeiht in der Zivilgesellschaft. Das „Funktionieren“ von Demokratie wird nicht durch die Regeln des demokratischen Prozesses selbst garantiert. Ihre Voraussetzungen gehen auch über die Marktwirtschaft hinaus, wie Vorländer in seinem Kriterienkatalog zum Schluss betont. Vorländer bleibt stark seinem Fach verbunden, wenn er die „schützende Hülle territorialer Bindung“ für demokratische Verfahren und Entscheidungen immer wieder stark macht (S. 125). Mindestens genauso wichtig für die Demokratiefähigkeit sind ihre kulturellen und sozialen Voraussetzungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Offe, Claus, Herausforderungen der Demokratie. Zur Integrations- und Leistungsfähigkeit politischer Institutionen, Frankfurt am Main 2003, S. 278-80.
2 Vgl. Guéhenno, Jean-Marie, Das Ende der Demokratie, München 1994.