Review-Symposium A. Tooze: Sintflut

Cover
Titel
Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931


Autor(en)
Tooze, Adam
Erschienen
München 2015: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
719 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Baberowski, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Als sich die Tür zum ‚amerikanischen Jahrhundert’ im Januar 1917 öffnete, stand Wilson an der Schwelle bereit. Er kam nicht, um Partei zu ergreifen, sondern um Frieden zu stiften. Die erste wohl inszenierte Geltendmachung des amerikanischen Führungsanspruchs im 20. Jahrhundert zielte nicht darauf ab, zu gewährleisten, dass die ‚richtige’ Seite gewann, sondern darauf, dass keine Seite gewann.“ (S. 73)

Eine Tür öffnet sich, und Wilson steht an ihrer Schwelle, um der Welt den Frieden zu bringen. Er tut, was an der Zeit ist und wozu die Umstände ihn ermächtigen. Seit 200 Jahren schreiben Historiker im Modus der Teleologie und der Kausalität. Sie geben dem Leben der Verstorbenen einen Sinn, indem sie es mit dem Leben ihrer Vorfahren und Nachfahren verbinden und in eine Erzählung integrieren, die einen Anfang und ein Ende hat. Jedes Ereignis soll durch ein Geschehen verursacht werden, das ihm vorausliegt, und Strukturen sollen darüber entscheiden, wie sich diese Verursachung vollzieht. Niemand stellt die Frage, woher die Geschichte eigentlich weiß, was sie tun soll? Denn nur wenige Menschen können die Vorstellung ertragen, ihr Leben sei nichts weiter als eine Zusammensetzung von Augenblicken, die nichts miteinander verbindet. Sie wollen Sinn und Struktur, und sie erwarten, dass Historiker Erwartungen erfüllen. Man will nicht verunsichert werden, sondern lesen, was alle für gewiss halten: dass es einen historischen Prozess, ein Ende und einen Anfang gibt und dass zwischen Anfang und Ende ein kausaler Zusammenhang besteht.

Historiker dürfen unterschiedliche Geschichten schreiben, aber sie dürfen nicht gegen die Konventionen der Verursachungsprosa verstoßen, auf deren Beachtung sie sich verständigt haben. „Geschichte des Westens“, „Das Zeitalter der Extreme“, „Der dunkle Kontinent“ – so lauten die Titel, die Historiker ihren Büchern gegeben haben.1 Sie weisen den Leser schon darauf hin, dass es Gründe gab, warum alles so kommen musste, wie es kam. Aufklärung und Ignoranz, Licht und Dunkelheit. Zwischen diesen Polen bewegen sich die Erzählungen der Historiker. Ihre Bücher sind umfangreich, weil sie offenbar glauben, dass viel schreiben müsse, wer viel erklären will.

Nun also „Sintflut“, ein Buch aus der Feder des amerikanischen Wirtschaftshistorikers Adam Tooze. Er will nachweisen, dass nicht der Kommunismus und nicht der Faschismus, sondern der amerikanische Exzeptionalismus dem 20. Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt habe. Das 20. Jahrhundert sei ein amerikanisches Jahrhundert gewesen, auch wenn Lenin und Hitler versucht hätten, sich dem unausweichlichen Lauf des Unabänderlichen entgegenzustellen. Aus dem Weltkrieg seien die USA als eine unsichtbare Weltmacht hervorgegangen, die militärische Stärke überhaupt nicht benötigte, um die Geschicke der Welt nach Belieben zu lenken. Sie habe auf Kolonien und Schlachtschiffe verzichten können, weil ihre Wirtschaftsmacht allein ausgereicht habe, allen Staaten ihren Willen aufzuzwingen. Was immer die europäischen Mächte auch im Sinn gehabt hätten, sie hätten sich an der amerikanischen Vormachtstellung abarbeiten müssen. Aber wie entstand diese neue Weltordnung eigentlich und worauf gründete sie sich? Wie konnte es geschehen, dass die USA zum Universalreich des 20. Jahrhunderts wurden und warum scheiterten sie an ihrer selbst gestellten Aufgabe, den Frieden dauerhaft in die Welt zu bringen? Darauf gibt Tooze eine 600 Seiten lange Antwort.

In den Jahren des Ersten Weltkrieges seien die USA zu einer unsichtbaren Supermacht geworden. Zuerst habe sich das Zentrum der Finanzwelt nach Nordamerika verlagert. Die Regierungen Englands und Frankreichs hätten sich Geld von privaten Banken in den USA geliehen, um den Krieg gegen die Mittelmächte zu finanzieren. Ohne diese finanzielle Hilfe hätte die Entente nicht einmal das erste Jahr des Kriegs heil überstehen können. So aber sei die amerikanische Industrie für die Zwecke der Entente mobilisiert worden. Alle Aufträge, die sie aus Übersee erhalten habe, seien durch amerikanische Bankenkredite überhaupt erst ermöglicht worden. Die amerikanische Wirtschaft wuchs, und die Entente begab sich in die Abhängigkeit amerikanischer Banken. Aber die amerikanische Wirtschaft war nun von europäischen Aufträgen abhängig geworden. Die Regierung in Washington habe sich auf ihre Neutralität irgendwann gar nicht mehr berufen können, weil sie bereits ökonomisch in den großen Krieg verstrickt gewesen sei. Als die USA 1917 in den Krieg auf Seiten der Entente eingetreten seien, hätten sie ihre finanzielle Unterstützung mit der Auflage verbunden, dass Kredite aus den USA nur für Waren aus den USA ausgegeben werden durften. Die gegenseitige Abhängigkeit war also beschlossene Sache.

Nun lässt Tooze den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson auf die Bühne treten. Manche Historiker hätten Wilson für einen weltfremden Idealisten gehalten, dessen Programm, den Frieden in die Welt zu bringen, am Zynismus des alten Europa gescheitert sei, schreibt Tooze. In Wahrheit aber sei der amerikanische Präsident ein Realist gewesen, der die Gunst der Stunde genutzt habe, um das System der internationalen Beziehungen zu verändern. Er forderte einen Frieden ohne Sieg, und er machte die amerikanische Hilfe für die Entente von der Erfüllung dieser Verheißung abhängig. Die USA dürften nicht Partei ergreifen, weil sie nur als neutrale Macht den Frieden erzwingen könnten. Der Zyklus der Gewalt in der alten Welt müsse für immer unterbrochen werden, alles andere sei ein „Verbrechen an der Zivilisation“. Wilson sei keineswegs ein Träumer gewesen, sondern ein Machtpolitiker, der von der moralischen Überlegenheit seines Landes überzeugt gewesen sei. Die Erzwingung des Friedens und die Weltmachtstellung der USA gehörten zusammen. Niemand habe besser als Wilson gewusst, dass das Ende des Imperialismus der Anfang der amerikanischen Hegemonie in der Welt sein würde.

In der alten Welt habe man auf den Ruf des amerikanischen Präsidenten wie gewohnt reagiert. Das Ende aller geheimen Abkommen, ein Frieden ohne Sieg und das Selbstbestimmungsrecht der Völker habe für sich nur in Anspruch genommen, wer zum Sieg nicht mehr imstande war. Die deutsche Reichsregierung zwang die USA nicht nur, in den Krieg einzutreten, sie schlug die Friedensangebote Wilsons in den Wind, als ihre Armeen im Herbst 1917 im Osten spektakuläre militärische Erfolge erzielten. Erst als die Lage im Oktober 1918 aussichtslos wurde, bat sie um Vermittlung auf der Grundlage jener 14 Punkte, die Wilson im Jahr 1915 formuliert hatte. Wilson erkannte sogleich die Möglichkeiten, die sich ihm boten, um seinen Willen durchsetzen. Er antwortete der Reichsregierung, ohne die Verbündeten zu hören, und erklärte, Deutschland müsse den Nachweis erbringen, dass es den Weg zur Demokratie beschritten habe. Die Regierung in Berlin reagierte sofort. Der Kaiser musste ins Exil gehen, die Exekutive unterwarf sich dem Willen der Legislative.

Zu Beginn der Friedenskonferenz in Versailles im Januar 1919 erklärte Wilson, dass er nicht an der europäischen Politik und am europäischen Frieden, sondern am Weltfrieden interessiert sei. Deshalb dürfe es keinen Sieger geben. Wochen später kam die Enttäuschung. Es gelang Wilson nicht, Frankreich und England einen Frieden aufzuzwingen, den sie nicht wollten. Die Bestimmungen des Versailler Vertrages demütigten aber nicht nur die deutsche Regierung. Sie waren auch das Gegenteil aller Vorstellungen, die sich Wilson von der neuen Ordnung gemacht hatte.

Und dennoch sei der Anstoß Wilsons nicht folgenlos geblieben, glaubt Tooze. Die Friedensverhandlungen in Versailles seien mit der Gründung des Völkerbundes verknüpft gewesen, des ersten Versuchs, ein System der kollektiven Sicherheit und Prävention zu begründen und den Krieg als Mittel der Politik zu ächten. Überall auf der Welt hätten sich nationale Minderheiten auf die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten berufen, um ihr Verlangen nach Selbstbestimmung zu rechtfertigen. In den Mutterländern habe kein Politiker noch ignorieren können, was in den Kolonien gefordert worden sei. Im Zarenreich begehrten nationale Bewegungen gegen die Zentralregierung auf, in der Türkei verlangten Kurden, in Lybien die Nomadenstämme der Berber Autonomie und Selbstbestimmung. In England kam es schon während des Krieges zu einer Wahlrechtsreform, die den Kreis der Wähler ausweitete. Seither konnte die Regierung den Willen des Volkes nicht länger ignorieren, wenn es darum ging, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Lloyd George erklärte 1918, dass England keinen Krieg gegen die russischen Bolschewiki führen könne. Denn kein Wähler würde ihm noch glauben, dass ein Krieg gegen die Kommunisten ein Feldzug für die Freiheit sei.

Aber auch auf der internationalen Bühne habe der Anstoß Wilsons mehr bewegt, als mancher meint. Tooze glaubt, dass die Reparationsleistungen, die dem Deutschen Reich durch den Friedensvertrag auferlegt worden seien, nicht Ausdruck der Rache, sondern ökonomischer Vernunft gewesen seien. Man habe die britischen und französischen Steuerzahler entlasten müssen, die Wiederaufbau und Sozialleistungen niemals hätten finanzieren können. Immerhin habe die deutsche Regierung doch anerkannt, dass niemand anderes als sie selbst für die Kriegsschäden aufkommen musste. In London und Paris habe man verstanden, dass der Frieden mit Deutschland nur von kurzer Dauer sein würde, wenn ihn niemand erzwingen konnte. Alle Beteiligten wussten, dass nur die USA die Macht hatten, diesen Frieden zu garantieren.

Zwischen November 1921 und Februar 1922 kamen die Vertreter der Großmächte in Washington zusammen, um über die Rüstungsbegrenzung auf den Weltmeeren zu beraten. Die USA boten nicht nur an, alle Großkampfschiffe sofort zu verschrotten, sie setzten auch durch, dass die Tonnage der amerikanischen, britischen und japanischen Flotte im Verhältnis 5:5:3 fixiert werden müsse. Erstmals hatten die USA ihren Führungsanspruch offen demonstriert, und erstmals hatte sich ein europäischer Staat diesem Anspruch unterworfen und den USA das Recht zugestanden, die Regeln der internationalen Politik zu bestimmen.

In Deutschland wurde der Versailler Vertrag zwar als ein Dokument schändlicher Unterwerfung verstanden. Aber die führenden Politiker, so Tooze, hätten doch auch die Vorteile gesehen, der sich aus der Unterwerfung ergaben. Denn die Unterschrift unter den Vertrag sei überhaupt erst die Voraussetzung für die Entstehung jenes Systems kollektiver Sicherheit gewesen, mit deren Hilfe das Abkommen in Frage gestellt werden konnte. Alle imperialistischen Regierungen hätten ihre Außenpolitik auf neue Grundlagen gestellt, und deshalb seien sie auch imstande gewesen, miteinander im Gespräch zu bleiben. Deutschlands Politiker hätten darauf gehofft, dass die USA in Europa dauerhaft im Spiel bleiben würden, weil sie sich von ihrer Vermittlung erhofften, was ihnen die Siegermächte nicht zugestehen mochten.

Inzwischen aber hätten die Europäer begriffen, so Tooze, dass sie darauf angewiesen waren, miteinander zu kooperieren, und sie seien darin dem amerikanischen Vorbild gefolgt. Die Konferenz von Genua sei der erste Versuch gewesen, die Sowjetunion und Deutschland in ein System internationaler Beziehungen zu integrieren und Frankreichs Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Die Ruhrkrise war der Beweis dafür, dass es ohne eine gegenseitige Verständigung keinen dauerhaften Frieden geben würde, der Dawes-Plan im Jahr 1924 das Eingeständnis, dass von Kompromissen alle profitieren würden. Der Dawes-Plan regelte die Reparationsfragen auf eine Weise, die Deutschland und Frankreich zufriedenstellten, und er verschaffte der Regierung in Berlin jene amerikanischen Kredite, die sie überhaupt erst handlungsfähig machten. Gustav Stresemann habe begriffen, schreibt Tooze, dass Deutschland sich auf die amerikanische Hegemonie einstellen und den deutschen Markt für amerikanische Investitionen öffnen musste. Je mehr Kredite Deutschland aus den USA bekam, desto größer würde auch die Abhängigkeit beider Länder voneinander werden. Aus all diesen Einsichten sei am Ende das Projekt des geeinten Europa geboren worden. 1929 erklärte Stresemann gegenüber Briand, dass die Europäer keine andere Wahl hätten, als sich in einer Union zusammenzuschließen, um den Frieden zu sichern und den Weltmachtanspruch der USA herauszufordern.

Und was ist nun die Moral von der Geschichte? Die „abwesende Gegenwart“ der USA, glaubt Tooze, hätte die europäischen Mächte dazu gebracht, Frieden zu halten und ein System der kollektiven Sicherheit zu errichten, in dem die Interessen der einen mit den Wünschen der anderen in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Wilsons Idee vom Weltfrieden unter amerikanischer Herrschaft sei eine höhere Form des Realismus gewesen, dem sich die Europäer aus eigenem Interesse am Ende unterworfen hätten. Hätten die USA über eine Strategie verfügt, um dieses Programm zum Erfolg zu führen, so muss man Tooze wohl verstehen, hätte der Zweite Weltkrieg verhindert werden können, die Europäische Union wäre vor ihrer Zeit entstanden. Denn die neue Ordnung sei in den Augen ihrer Repräsentanten stabil gewesen, und deshalb seien Hitler und Trotzki so mutlos gewesen. „Was nach dem Ersten Weltkrieg aufkam, war eine multipolare, polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung. Und bei dieser Suche stützte sich das Kalkül aller Großmächte auf einen zentralen Faktor: die Vereinigten Staaten.“ (S. 37)

Aber diese Rechnung ging nicht auf, weil der Ideologie der Einzigartigkeit keine Strategie gefolgt sei. Und so hatten die Nationalisten in Europa leichtes Spiel, ihre Vision der Vergeltung und der ethnischen Säuberung zu verwirklichen. Fast überall in Europa setzten sie sich am Ende gegen die Anwälte der Verständigung durch, weil sie immerhin darauf verweisen konnten, dass die neue Ordnung an der Bewältigung der großen Wirtschaftskrise gescheitert war. Aber selbst darin gaben Nationalisten, Faschisten und Kommunisten nur Antworten auf Fragen, die die amerikanische Herausforderung aufgeworfen hatte, schreibt Tooze. Und dennoch war ihr Aufbegehren vergeblich, und sie wussten, dass sie verlieren würden: die einen 1945, die anderen 1989. Die Macht der USA beruhte auf moralischer Autorität, militärischer Stärke und wirtschaftlicher Überlegenheit. Was hätte man dagegen schon ausrichten können? Man könnte mit Tooze auch sagen, dass der amerikanische Weltmachtanspruch überhaupt nicht herausgefordert werden konnte. Man konnte sich allenfalls an ihm abarbeiten.

Was sollen Historiker mit dieser Interpretation anfangen? Es kommt darauf an, was man wissen will. Wer eine Antwort auf die Frage erwartet, warum die USA in den Jahren des Ersten Weltkrieges zur Weltmacht wurden und warum Europa im System der internationalen Beziehungen an Bedeutung verlor, wird in diesem Buch manches finden, was er noch nicht wusste. Wer aber wissen will, warum Nationalisten und Kommunisten den Sieg über die liberale Ordnung davontrugen, wird sich mit dem Hinweis, die USA hätten keine Strategie verfolgt, kaum zufrieden geben können. Denn die internationale Ordnung war keineswegs stabil, die Racheengel nicht schwach, sondern stark. Wie mächtig die USA auch immer gewesen sein mochten – im Horizont der Zeitgenossen stellte die Russische Revolution alles in den Schatten, was bislang geschehen war. Der Bürgerkrieg kostete Millionen Menschen das Leben, Millionen flüchteten aus dem Land, ethnische Säuberungen und Hungerepidemien dezimierten die Bevölkerung des untergegangenen Imperiums. Inmitten der Gewalt versuchten die Bolschewiki, mit harter Hand eine Ordnung zu errichten, die sich als Antwort auf alle ungelösten Fragen verstand.

Niemand in Europa konnte ignorieren, was dort geschah. Die einen fürchteten sich vor der elementaren Gewalt, die in der Sowjetunion zum Stil der Politik geworden war, die anderen sahen in den Bolschewiki Heilsbringer, die Wirtschaftskrisen, Armut und soziale Ungleichheit aus der Welt schaffen würden. Nach den Exzessen des Ersten Weltkriegs war die Ordnung des Liberalismus diskreditiert, und sie hatte auch nach dem Ende des Krieges keines ihrer Versprechen einlösen können. Der Kommunismus war eine Bedrohung, der sich alle Nachkriegsgesellschaften stellen mussten. Manche begegneten ihm mit sozialen Reformen, andere sahen im Faschismus und im Nationalsozialismus die Antwort auf alle Fragen. In der Zwischenkriegszeit gab es in Europa fast nur noch autoritäre Ordnungen, die sich als Alternative zum Kommunismus verstanden. Wie hätte eine Strategie aussehen sollen, die dieser Entwicklung gerecht geworden wäre? Denn es kommt nicht darauf an, was der Fall ist, sondern wie Menschen wahrnehmen, was der Fall ist. Davon weiß dieses Buch gar nichts zu erzählen. Die einzigen Menschen, die in ihm überhaupt in Erscheinung treten, sind Woodrow Wilson, Lloyd George, Georges Clemenceau und Gustav Stresemann. Sie erkennen, was an der Zeit ist, und sie handeln so, wie es die Zeit von ihnen verlangt. Und was tun ihre Gegner? Sie handeln, indem sie auf die amerikanische Herausforderung mit Ablehnung antworten.

Aber haben wirklich alle Akteure das Gleiche gesehen? Es fällt schwer, das zu glauben. Stalin und Hitler waren Bewunderer amerikanischer Effizienz, aber Verächter der Demokratie, die sie für eine Staatsform der Vergangenheit hielten. So aber urteilten in Europa nicht nur Faschisten und Kommunisten. Aus der Perspektive vieler Menschen in Europa waren die Sowjetunion und die faschistischen Regime die eigentlichen Herausforderungen, auf die sie eine Antwort finden mussten. Von den USA wussten sie nichts. Aber dieses Unwissen hatte eine Bedeutung dafür, wofür und wogegen sie sich entschieden. So gesehen könnte man auch vom sowjetischen Jahrhundert sprechen, und manche amerikanische Zeitgenossen hätten diesem Urteil wahrscheinlich zugestimmt.

Warum schreiben Historiker umfangreiche Bücher, wenn sie doch auf wenigen Seiten erklären könnten, worauf es ihnen ankommt? Wahrscheinlich ist es die Befürchtung, man werde von anderen Historikern nicht Ernst genommen, die sie dazu verleitet, geschwätzig zu werden. Tooze ist kein Schriftsteller, kein Erzähler. Seine Prosa ist umständlich, ungenau, seine Sätze sind sperrig bis zur Unverständlichkeit. Er weicht vom Thema ab, in manchen Kapiteln beschreibt er, was man schon weiß oder was man nicht wissen muss, um sein Argument zu verstehen. So wird die Lektüre zur Qual. Auch Geschichtsschreibung darf unterhaltsam sein. Sie ist eine Kunst, die auf Wissen beruht, und auf der Begabung, dieses Wissen in eine literarische Form zu bringen. Wer braucht schon einen Historiker, der zwar viel weiß, aber nicht davon erzählen kann?

Anmerkung der Redaktion: Eine Übersicht über das Review-Symposium zu Adam Tooze: Sintflut finden Sie hier: <http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2859>.

Anmerkung:
1 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, 4 Bde., München 2009-2015; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000.

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