M. Krützen: Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte

Cover
Titel
Klassik, Moderne, Nachmoderne.. Eine Filmgeschichte


Autor(en)
Krützen, Michaela
Reihe
Wissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: S. Fischer
Anzahl Seiten
826 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Hagener, Institut für Medienwissenschaft, Philipps-Universität Marburg

Marokko, Marienbad, Montauk – drei ungewöhnliche Orte, drei unkonventionelle Paare, drei Dreiecksgeschichten, so lässt sich Michaela Krützens neues Werk auf einen filmreifen Nenner bringen. Das Grundprinzip des Buches ist einfach und man kann es wie in einem High-Concept-Film in einem einzigen Satz zusammenfassen: Anhand von drei Filmen – „Casablanca“ (USA 1943, Michael Curtiz), „L’année dernière à Marienbad“ („Letztes Jahr in Marienbad“, Frankreich 1961, Alain Resnais,) und „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ („Vergiss mein nicht!“, USA 2004, Michel Gondry) – und 16 Merkmalen werden die im Titel genannten Erzählformen der Klassik, Moderne und Nachmoderne bestimmt und voneinander abgegrenzt. Dabei erschöpfen sich die Parallelen zwischen den drei Filmen nicht in der jeweiligen Großstruktur, sondern Wiederholungen und Differenzen zeigen sich bis in feinere Verästelungen hinein: Es handelt sich um „Dreiecksgeschichten, bei denen jeweils eine Frau zwischen zwei Männern steht“, um drei Filme, in denen „Verabredungen eine wichtige Rolle“ (S. 16) spielen, und die detaillierten Analysen, aus denen das Buch besteht, decken noch weitere Strukturähnlichkeiten auf, aber eben auch signifikante Abweichungen.

Die Autorin bekleidet seit 2001 eine Professur für Medienwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen in München, eine der wichtigsten deutschen Ausbildungsstätten für Filmpraktiker und Filmpraktikerinnen. Daraus erklärt sich auch ihr ausgesprochenes Interesse nicht nur an wissenschaftlichen Fragestellungen, sondern auch an jenem Grenzbereich zwischen Theorie und Praxis, den sie in ihrem Werk erkundet. So setzt das vorliegende Buch die Untersuchung populärer Erzählformen fort, die sie in „Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt“ und „Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood“ begonnen hatte, und schließt auch an die Figurenanalyse aus „Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des Hollywoodkinos“ an.1 Der Text liest sich sehr gut und ist stets um Klarheit bemüht, dabei durchaus redundant, aber auf ähnlich unauffällige Weise wie dies der Hollywoodfilm mit zentralen Informationen macht. Am ehesten könnte man Krützen also eine klassische Haltung zu ihrem Material attestieren, in der Transparenz und Folgerichtigkeit zentral stehen , anstatt die internen Widersprüche oder die logischen Schleifen herauszustellen und auch sprachlich nachzubilden. Dekonstruktive Zirkelschlüsse und sprachliche Arabesken sind ihr fremd, wiewohl Argumente aus Gilles Deleuze’ Kinobüchern ebenso prominent auftauchen wie poststrukturalistische Gedanken.

Es lohnt sich die 16 Merkmale, die die Analyse der drei Filme anleitet, komplett anzugeben, weil diese implizit den Zugriff des Buchs verdeutlichen. Im Einzelnen handelt es sich um die „Verkettung der Ereignisse“, wahlweise betitelt als Folgerichtigkeit, Abfolge und Gefüge (1), den Flashback bzw. seine Verweigerung (2), Redundanzen und Wiederholungen (3), die Zeitstruktur (4), den Ort und Raum (5), den Schnitt bzw. die Montage (6), die Selbstreflexivität („Film- bzw. Produkthaftigkeit“) (7), Informationen über die Produktion, also Paratextuelles, vor allem in textlicher Form, weniger Trailer und Plakate (8), den Spannungsbogen (9), den Vertrag mit dem Zuschauer (10), die interne Organisation in Akte und Nebenhandlungen (11), die Konzeption der Hauptfiguren (12) sowie ihr dramaturgischer Verlauf (13), die Erwartbarkeit und Abschätzbarkeit (14), die Geschlossenheit bzw. Offenheit der Handlung (15) und schließlich die Kommunikation der Figuren untereinander (16). Auch wenn man sicher einige Parameter zusammenfassen könnte (etwa 9 und 11 oder 12 und 13), so ergibt dies doch eine sinnvolle Kategorisierung, die sich insbesondere für Dramaturgie und narrative Struktur auf Mikro- und Makroebene interessiert – und weniger etwa auf solche Parameter wie Lichtgestaltung oder Schauspielstil blickt.

In einer Abfolge von handhabbaren Kapiteln mit 5–30 Seiten Länge, die jeweils einem einzelnen Aspekt gewidmet und die mit zahlreichen, leider nur briefmarkengroßen Abbildungen versehen sind, analysiert Krützen jeden der drei Filme auf 150–300 Seiten. Man kann das Buch also auch als detaillierte Einzelstudien zu drei kanonischen Filmen lesen oder einem einzelnen Aspekt durch die drei Filme hindurch folgen, indem man die jeweiligen Kapitel liest. Zudem ist der Text so strukturiert, dass in späteren Teilen immer wieder konstruktiv auf vorherige Erkenntnisse und Analysen verwiesen wird. Auf diese Weise wird das anfangs fast schon einschüchternd dick wirkende Buch handhabbar – sowohl für spätere Konsultationen wie auch für den Einsatz in der universitären Lehre.

Die drei im Titel genannten Großkategorien bezeichnen aus der filmhistorischen und filmtheoretischen Literatur bekannte Positionen, auch wenn die Spätmoderne gelegentlich als Postmoderne oder Postklassik firmiert. Dabei ist die Trias jedoch nicht als historische Abfolge von Stilepochen zu verstehen, sondern es handelt sich eher um Optionen, die sich in spezifischen historischen Konfigurationen entfaltet haben, dann aber vorhanden bleiben: „Die Moderne löst die Klassik nicht ab, sondern bietet seit ihrem Entstehen einen Gegenentwurf zu ihr.“ (S. 22) Krützen geht es jedoch weniger um die Bedingungen der Entstehung oder der Verstetigung von Klassik, Moderne und Nachmoderne, sondern um deren stilistisch-dramaturgische Bestimmung. In diesem Sinne ist das gewichtige Werk auch weniger historisch als analytisch zu verstehen, denn Kontexte der Filmindustrie Veränderungen der medialen Technologie oder der Kultur insgesamt spielen nur am Rande eine Rolle. Es ließe sich zudem danach fragen, ob die drei Großformen wirklich in sich derart geschlossen sind oder nicht doch an den Rändern ausfransen und auch ineinander übergehen. Zudem könnte man auf andere Bauformen verweisen, die unter anderem Blickwinkel ähnlich wichtig sind, aber im Buch nicht zur Sprache kommen, etwa die historische Avantgarde, das sowjetische Montagekino, der Essayfilm, das populäre Hindi-Kino (Bollywood) oder das heutige „slow cinema“ als globaler Trend von Berliner Schule bis zu Lav Diaz und Apichatpong Weerasethakul.

Folgerichtig entwirft dann auch das Fazit kein großes Gedankengebäude, sondern spielt den Ball an die Leserin und den Leser zurück, indem weitere mögliche dreischrittige Analysen vorgeschlagen werden – „Rebecca“ (USA 1940, Alfred Hitchcock), „Solaris“ (UdSSR 1972, Andrei Tarkovski) und „Inception“ (USA 2010, Christopher Nolan) als Filme, in denen die traumatische Vergangenheit mit einer Frau durchgearbeitet wird, oder „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (USA 1931, Rouben Mamoulian), „Persona“ (Schweden 1966, Ingmar Bergman) und „Fight Club“ (USA 1999, David Fincher) als filmischer Umgang mit Schizophrenie. In der Summe legt Krützen mit diesem Werk eine höchst willkommene Synthese einer ganzen Reihe von Debatten sowie produktive Beispielanalysen dreier Filme vor. Damit ist eine hervorragende Brücke zwischen der Filmwissenschaft und einem breiteren Publikum geschaffen, die allerdings eher analytische Impulse setzt als eine historische Auseinandersetzung zu bieten.

Anmerkung:
1 Michaela Krützen, Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt, Frankfurt am Main 2004; dies., Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood, Frankfurt am Main 2010; dies., Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des Hollywoodkinos, Frankfurt am Main 2007.

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