Cover
Titel
Churchill.


Autor(en)
Keegan, John
Erschienen
Anzahl Seiten
182 S.
Preis
£14.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

In den vergangenen Jahren ist Winston Churchill unvermutet ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Nicht erst die unlängst in Deutschland geführte und in Großbritannien aufmerksam rezipierte Debatte, über seine Rolle im Bombenkrieg hat Churchill ins Zwielicht gerückt. Zuvor bereits warfen konservative britische Historiker wie John Charmley die Frage auf, ob ihr Land wirklich gut beraten war, kompromisslos gegen Hitler auszuharren und den Krieg heim zu dessen Verursachern zu tragen. Immerhin verausgabte sich Großbritannien bei dieser Operation vollkommen und – so zugespitzt die These der Churchill-Revisionisten – sank in der Folgezeit zu einem Klientenstaaten von Washingtons Gnaden ab. Das Empire wich einem Commonwealth, das kaum mehr als einen schwachen Abglanz einstiger Größe darstellte und allenfalls die vergleichsweise rasche Metamorphose von einer Welt- zu einer an der europäischen Peripherie angesiedelten Regionalmacht abfedern half. Der um kontrafaktische Virtuosität nicht verlegene Historiker Niall Ferguson dehnte diese Denkfigur gar auf den Ersten Weltkrieg aus und beschrieb die britische Intervention als die Wahl verhängnisvoll falscher Prioritäten. Bei einem Sieg des kaiserlichen Deutschland sähe nämlich die Welt, in der wir heute leben, nicht viel anders aus als unter der Einwirkung Brüsseler Direktiven. 1

Demgegenüber unternimmt John Keegan erst gar nicht den Versuch, an jenem Sockel zu rütteln, auf dem Churchill als „Retter“ der Nation seit Kriegsende steht. In seiner schmalen biografischen Skizze umreißt der neben Michael Howard bedeutendste britische Militärhistoriker die wichtigsten Stationen im Leben Churchills. Keegan, einem weiteren Publikum durch seine Artikel im „Daily Telegraph“ bekannt, verzichtet, von einer knapp bemessenen Bibliographie abgesehen, auf einen wissenschaftlichen Apparat und konzentriert seine elegante Prosa auf die Fixsterne am politischen Firmament Churchills. Trotz des panegyrischen Zuschnitts des essayistisch gefärbten Bandes lohnt die Lektüre, denn Keegan gelingen eindringliche Vignetten, die zentrale Aspekte einer facettenreichen Persönlichkeit ebenso anschaulich wie schnörkellos verdichten. Drei Momente stechen dabei heraus.

Churchill begann seine öffentlichkeitswirksame Existenz als Soldat. Bei Einsätzen auf Kuba, im Sudan, in Indien und Südafrika verknüpfte er militärisches Draufgängertum mit einem feinen Gespür für die Möglichkeiten der Werbung in eigener Sache. Als Korrespondent an vorderster Front versorgte er die Leser zuhause mit Informationen aus erster Hand. Seine Bücher über die Feldzüge, an denen er selbst teilgenommen hatte, wurden zu Bestsellern und halfen ihm dabei, eine politische Karriere zu lancieren. Die Flucht aus burischem Gewahrsam 1899 machte ihn mit einem Schlag zu einer Zelebrität. Ein knappes Jahr später konnte Churchill die politischen Früchte ernten und als konservativer Unterhausabgeordneter an das Erbe seines ehrgeizigen Vaters Randolph anknüpfen. Die Faszination, die zeitlebens von kriegerischen Abenteuern ausging, ließ Churchill jedoch nicht zu einem Militaristen mutieren. Seine Fronterfahrung gerade in Südafrika verschaffte ihm Einblicke in die verheerenden Folgen eines mit moderner Technik exekutierten Massenkriegs. Er warnte seine Regierung deshalb bereits 1901 vor einem Spiel mit dem Feuer und riet ihr, statt der Verwicklung in kontinentaleuropäische Händel die fortgesetzte Dominanz der britischen Flotte zu suchen und so den angestammten Platz im Konzert der Weltmächte zu sichern. Die Churchill-Revisionisten haben dagegen gewiss nichts einzuwenden. Eine weitere Lehre des Burenkriegs konnte Churchill als Unterstaatssekretär im Kolonialamt 1907 in die Praxis umsetzen. Die rasche Gewährung der Selbstverwaltung für die rebellischen burischen Territorien Transvaal und Oranje-Freistaat entsprach seinem Respekt vor dem gallant fechtenden Kriegsgegner. 2 Churchill schätzte den Kampf mit offenem Visier und erhob Großmut nach dem Sieg in einem soldatischen Ringen zur obersten Maxime seines militärisch-politischen Denkens. Selbst der IRA-Führer Michael Collins kam in den Genuss Churchill´scher Sympathie, da der Osteraufstand 1916 die irische Frage nach einer jahrzehntelangen Latenzphase in ein unzweideutiges Schlachtfeld mit klaren Fronten verwandelte. Für Gandhi hatte Churchill indes nur Verachtung übrig, da es der Philosophie des gewaltlosen Widerstands so gänzlich an soldatischer Gradlinigkeit mangelte. 3 In eine ähnliche Kategorie muss die Bevölkerung Hitler-Deutschlands gefallen sein. Keegan streift den Bombenkrieg kurz mit dem Hinweis, dass Churchill im Frühjahr 1943 beim Anblick der durch die alliierten Attacken angerichteten Schäden erschreckt ausrief: „Sind wir Tiere?“ (S. 152). Dennoch wurde die Kampagne fortgesetzt und das britische Bomberkommando von Churchill ausdrücklich gelobt. Bereits in der Anfangsphase des Krieges hatte der neue Premierminister freilich „einen der brutalsten Akte staatlicher Politik“ (S. 126) begangen, als er die Versenkung der, vor der Küste Nordafrikas ankernden Flotte, Vichy-Frankreichs anordnete. Dabei verloren im Juli 1940 1200 französische Matrosen ihr Leben.

Als Churchill 1907 den ehemaligen Burenrepubliken das Recht zur internen Selbstverwaltung verkündete, gehörte er der liberalen Regierung Campell-Bannerman an. Im Frühjahr 1904 hatte der Sproß eines der vornehmsten Geschlechter des Königreichs den Tories aus Protest gegen deren Handels- und Sozialpolitik den Rücken gekehrt. Churchill war ein Protagonist des Freihandels und sträubte sich gegen die im Umkreis Joseph Chamberlains populäre Forderung nach Importzöllen zum Schutz der heimischen Wirtschaft und zur tieferen Integration des Empire. Daß es Churchill in der Ära des Thatcherismus als konservativer Säulenheiliger besonders schwer hatte, hing vor allem mit der im aktuellen politisch-ökonomischen Diskurs fremdartig anmutenden Verquickung von Freihandel und fortschrittlicher Sozialpolitik zusammen. Churchill sah in Importzöllen die Preistreiber par excellence, von denen letztlich nur einige Industrielle profitierten. Als liberaler Handelsminister schärfte Churchill zwischen 1908 und 1910 sein Profil als „Sozialrevolutionär“ (S. 62). Churchills Initiativen für eine bessere allgemeine medizinische Versorgung, für Arbeitszeitverkürzungen und die Einführung eines Arbeitslosengelds werden heute freilich meist auf das Konto seines sich weitaus radikaler gebärdenden Kollegen Lloyd George gebucht. Dass Churchill noch 1951 im Wahlkampf gegen das Image des sozialen Konterrevolutionärs kämpfen musste, hat im wesentlichen drei Gründe. Erstens wurde sein innovatives Engagement für soziale Reformen überschattet von der kurzen Amtszeit als Innenminister 1910/11. Damals befahl Churchill den Einsatz von Truppen gegen streikende walisische Bergarbeiter, von denen zwei ums Leben kamen. Die Labour Party verstand es, die Erinnerung an diese „Märtyrer“ der Arbeiterbewegung wach zu halten und Churchill das Etikett des Reaktionärs anzuheften. Zweitens entsprangen Churchills sozialpolitische Initiativen einer paternalistischen Denktradition, die im Zeitalter des bürokratisch organisierten Wohlfahrtsstaats hoffnungslos anachronistisch erschien und hinter der zudem unlautere Motive gewittert wurden. Drittens überstrahlte gleichzeitig der Ruhm des Kriegshelden alle anderen politischen Leistungen Churchills. Sein Credo der „Tory democracy“, das er für zwei Jahrzehnte bei den Liberalen in besten Händen wähnte, wurde allmählich zum politischen Gemeingut, das ihn nicht sonderlich von anderen ideologischen Strömungen abhob. Die in der britischen Geschichtswissenschaft seit anderthalb Jahrzehnten kontrovers diskutierte Frage nach den Ursachen des wirtschafts- und sozialpolitischen Konsenses zwischen 1945 und 1979 könnte man daher zumindest partiell beantworten mit dem Hinweis auf die schon vor 1945 nicht von einer Partei allein monopolisierten Reformimpulse.

Das dritte Charakteristikum der öffentlichen Existenz Churchills ist dessen unbeirrbarer Glaube an den „moralischen Partikularismus“ (S. 56) Großbritanniens. Dieser kam nirgendwo so plastisch zum Ausdruck wie in Churchills Reden während des Zweiten Weltkriegs. Die zu geflügelten Worten avancierten Formulierungen der „Finest Hour“ oder des „Never Surrender“ haben sich der Nachwelt tief eingeprägt. Das bis heute fortwirkende Sonderbewusstsein, das sich aus der exzeptionellen historischen Kontinuität der insularen Geschichte ableitet, gewann in Churchills Reden jedoch zugleich eine ins Universelle zielende Dimension. Die in Großbritannien bereits verwirklichten Freiheiten sollten nach dem Sieg über die Tyranneien auch den Feinden zuteil werden. Während sich Hitler seit Kriegsbeginn bei seinen raren öffentlichen Auftritten darauf beschränkte, wüste Beschimpfungen und ungezügelte Drohungen auszustoßen, bemühte sich sein britischer Widersacher, selbst Kollaborateuren den Rückweg in die Gemeinschaft zivilisierter Nationen nicht abzuschneiden und den britischen Wertekanon als verlässlichsten Kompass für eine Neuorientierung zu offerieren. Andererseits schien das „Standing Alone“ zwischen der Kapitulation Frankreichs und dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, als sogar Churchill im Kontext des Rückzugs von Dünkirchen für wenige Tage einen Ausgleich mit Hitler erwog, die britische Einzigartigkeit fulminant zu beglaubigen. Churchills erneuter Anschluss an die Tories 1924 stand im Zusammenhang mit seiner Furcht vor den vermeintlich kollektivistischen und unpatriotisch internationalistischen Tendenzen innerhalb der aufstrebenden Labour Party, welche die Liberalen überflügelt und erstmals eine Regierung gebildet hatte. Der 1941 unumgängliche Kompromiss mit dem kommunistischen Kremlherrn konnte deswegen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Churchill Totalitarismen jeglicher Provenienz als Todfeinde des ‚British way of life’ betrachtete. Mit seiner berühmten Rede in Fulton 1946 agierte Churchill deshalb als Stichwortgeber des Kalten Kriegs. In seiner zweiten Amtszeit als Premierminister von 1951 bis 1955 versuchte er dennoch, über den Eisernen Vorhang hinweg mit der anderen Seite im Gespräch zu bleiben, um die zu Beginn des Jahrhunderts selbst erlebten Schrecken des modernen Kriegs unter Quarantäne zu halten.

Dass der Churchill-Kult in Großbritannien merklich nachgelassen hat, liegt, so Keegan, nicht zuletzt am durchschlagenden Erfolg der Churchill’schen Rhetorik. Die von ihm am Tiefpunkt des Krieges popularisierte Version der britischen Freiheitsgeschichte gerann zu einer „nationalen Saga“ (S. 171), die nicht länger auf ihren Urheber rekurrieren musste. Wenn aber Tony Blair heute die angloamerikanische Vorwärtsverteidigung westlicher Freiheiten mit dezidiert moralischem Duktus rechtfertigt, klingt darin jenes Quentchen Autosuggestion an, das Keegan in Churchills Mobilisierung der englischen Sprache für den Kriegseinsatz entdeckt. Der „romantische Historizismus“ (S. 167) Churchills mag ein anderer Grund sein, weshalb sich die Gedankenwelt des Kriegspremiers nicht ohne weiteres für den politischen Alltag der Gegenwart eignet. Sein verbissener Kampf gegen das Indiengesetz von 1935, mit dem die Selbstverwaltung auf dem Subkontinent ausgedehnt wurde, trug wesentlich dazu bei, Churchill in den entscheidenden Jahren vor Kriegsbeginn in die vielbeschriebene „politische Wildnis“ zu verbannen. An den administrativen Niederungen des Empire vermochte sich Churchill nie zu berauschen. Aber für flamboyante Extratouren taugte es allemal, auch wenn sich Churchill mit ihnen bestenfalls den Status eines verwegenen Sonderlings reservierte. Dass der „Imperialist“ Churchill in Keegans auf die historisch folgenreichen Aspekte im Leben des politischen Solitärs abhebender Darstellung kaum Erwähnung findet, ist deshalb nur konsequent.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu Charmley, John, Churchill. The End of Glory, London 1993, sowie Clark, Alan, The Tories. Conservatives and the Nation State 1922-1997, London 1998, und Ferguson, Niall, Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999.
2 Als Premierminister Attlee im Juli 1947 das indische Unabhängigkeitsgesetz ins Parlament einbrachte, erinnerte er an diese vier Jahrzehnte zurückliegende Episode, um dem grollenden Oppositionsführer Churchill eine Brücke in die postimperiale Zukunft zu bauen. Churchill zog es freilich vor, nicht an dieser Debatte teilzunehmen und überließ die konservative Replik Harold Macmillan, der als Premierminister ab 1957 die Dekolonisation forcieren sollte. – Attlees Rede in Parliamentary Debates. House of Commons, Official Report, Fifth Series, Volume 439, Spalte 2441-2457.
3 Aus dieser Perspektive verblüfft es daher nicht, dass Churchill wenige Jahre nach dem Krieg ein Ende der Kriegsverbrecherprozesse gegen Wehrmachtsgeneräle forderte. Vgl. hierzu seine Rede in Llandudno am 9. Oktober 1948, in: Churchill, Winston, Europe Unite. Speeches 1947 and 1948, London 1950, S. 407-424.

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