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Titel
Gift in der Nahrung. Zur Genese der Verbraucherpolitik Mitte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Stoff, Heiko
Erschienen
Stuttgart 2015: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Offermann, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Prozesse der Verschränkung von Ernährung und Gesundheit stellen ein aktuelles und überaus fruchtbares kulturgeschichtliches Forschungsfeld dar.1 Es verbindet eine Vielzahl von Perspektiven und disziplinären Zugängen. Das Thema berührt Fragen der Wissenschafts- und Medizingeschichte, der Körper- und Geschlechtergeschichte, der Konsum- und Umweltgeschichte, aber auch der Wirtschafts- und Rechtsgeschichte. Eine wichtige Phase der Transformation und Neujustierung des Konnexes von Ernährung und Gesundheit untersucht Heiko Stoff in seiner aktuellen Monographie „Gift in der Nahrung“. Dabei knüpft er in vielerlei Hinsicht an die Forschungen aus dem Zusammenhang seiner 2012 veröffentlichten Habilitation an.2 Während er sich dort einer Wissenschaftsgeschichte der „Wirkstoffe“ widmete, untersucht er nun die Gruppe der „Fremdstoffe“.

Dieser Begriff bezeichnete seit dem 19. Jahrhundert allen voran synthetische Konservierungs- und Farbstoffe. Der Autor erläutert das Aufkommen solcher Stoffe im Kontext der Industrialisierung, Technisierung und Globalisierung der Nahrungsmittelproduktion und -distribution seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So erlaubte erst die Entwicklung effektiver synthetischer Konservierungsstoffe den massenhaften unbeschadeten Transport vieler Nahrungsmittel über transkontinentale Entfernungen hinweg. In Reaktion auf die neuen chemischen Möglichkeiten der Lebensmittelindustrie wurde um die Fremdstoffe herum ein Dispositiv errichtet, das auf deren Erforschung, Kontrolle und Regulierung abzielte. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden diese Stoffe in Deutschland vor allem unter dem Aspekt der Verfälschung und der damit einhergehenden Täuschung der Verbraucher/innen problematisiert. Nachdem die gesundheitliche Bedeutung bereits zunehmend an Relevanz gewonnen hatte, dominierte dieser Aspekt von nun an die Debatten. Heiko Stoff erweitert hier seinen Blick um eine transnationale Perspektive und stellt fest, dass es sich bei diesen Entwicklungen nicht „um einen weiteren deutschen Sonderweg“ gehandelt habe (S. 29). Vielmehr seien um 1900 „Konservierungsmittel und Farbstoffe […] in allen Industriestaaten in den Fokus öffentlicher Sorge, legislativer Maßnahmen sowie staatlicher und wissenschaftlicher Kontrolle geraten“ (S. 30).

Der Schwerpunkt des Buchs liegt aber auf der Zeit nach 1945 und der Bundesrepublik. Die Studie greift zwar immer wieder bis ins 19. Jahrhundert zurück, doch fokussiert sie vor allem eine Diskontinuität im Umgang mit Fremdstoffen in den 1950er-Jahren, die der Verfasser pointiert an einer Novelle des westdeutschen Lebensmittelgesetzes im Jahr 1958 festmacht. Es geht ihm um die Genese eines neuen Gefüges der Verbraucherpolitik, das Fremdstoffe insbesondere als unnatürliche krebserregende Giftstoffe problematisierte und sich durch eine veränderte Konstellation alter und neuer Akteur/innen auszeichnete. Zu diesem Gefüge gehörten nicht nur die Stoffe selbst und das über sie produzierte Wissen, sondern auch eine Vielzahl an Personen, Institutionen und Verbänden. In den Blick geraten Lebensmittelchemiker/innen, Mediziner/innen, Politiker/innen, die Ernährungsindustrie und ihre Lobbyist/innen, DFG-Kommissionen zu Farb- und Konservierungsstoffen, die radikal puristische Vitalstoffgesellschaft (1954 von einem Chemiker gegründet), die massenmediale Berichterstattung sowie die Figur des Verbrauchers bzw. der Verbraucherin. Diese war im Gefüge der Verbraucherpolitik – der sie immerhin ihren Namen verlieh – stets imaginativ präsent, indem sie von Anderen als zu schützendes und gleichzeitig aufzuklärendes Subjekt oder auch als Repräsentantin des vermeintlichen Allgemeinwohls gegenüber den egoistischen Partikularinteressen der Wirtschaft vorgestellt wurde. Zugleich agierten Verbraucher/innen in diesem Gefüge auch politisch organisiert in Form von Verbänden. Schließlich hat die ordoliberale Ausrichtung der Bundesrepublik dazu geführt, dass den Konsument/innen ein besonderes Gewicht in der politischen Entscheidungsfindung zukam, was die Herausbildung der Verbraucherpolitik als eines eigenen Feldes entscheidend begünstigte.3

Die gut 200 Seiten umfassende Studie ist in zwei Hauptkapitel mit jeweils fünf bzw. sechs Unterkapiteln gegliedert. Während der Autor im ersten Teil („Schleichende Gifte“) vor allem die Wissensproduktion über (Fremd-)Stoffe untersucht, entwirft er seine Geschichte im zweiten Teil („Verbraucherpolitik“) ausgehend von den an der Regulierung der Stoffe beteiligten Akteur/innen, Verbänden und Institutionen. So widmet er sich zunächst den Nähr- und Wirkstoffen, insbesondere den Vitaminen. Erst durch die Betonung einer vitaminreichen und damit als gesund angesehenen Ernährungsweise um 1900 konnten synthetische Konservierungs- und Farbstoffe als Fremd- und Giftstoffe an Kontur gewinnen. Vor allem für eine lebensreformerische Ernährungslehre waren sie es, die die Vitamine und damit die Gesundheit bedrohten. Heiko Stoff weist auf die negative Semantik hin, die der Fremdstoffbegriff im Verlauf der Debatten erhielt. Der Begriff zielte auf eine möglichst klare Differenz zwischen Eigenem und Fremdem. Denn das positiv besetzte, oft mit Natürlichkeit assoziierte Innere schien von einem negativ besetzten Außen in seiner Existenz bedroht zu sein. Diese Bedrohung wurde in erster Linie darin gesehen, im Inneren des Körpers Krebs zu verursachen. Die zunehmende Problematisierung von Fremdstoffen als krebserregend seit den 1930er-Jahren bewirkte dem Autor zufolge dann eine semantische Verschmelzung der Fremd- und Giftmetaphorik.

Für die weitere Debatte um Fremdstoffe kam der Ende der 1940er-Jahre konzipierten Krebstheorie von Hermann Druckrey eine zentrale Bedeutung zu. Bei seiner Summationsthese ging Druckrey davon aus, dass die Krebswirkung einer konsumierten Substanz nicht von der Größe der Einzeldosen abhänge, sondern von der im Verlauf eines Lebens akkumulierten Gesamtmenge. Auch nach einmaliger Exposition bleibe die krebserregende Wirkung eines Stoffs im Organismus irreversibel bestehen und summiere sich bei weiteren Expositionen bis hin zur kritischen Gesamtdosis, die dann Krebsgeschwüre entstehen lasse. Daraus folgerte Druckrey, dass es keine unterschwelligen und damit ungefährlichen Dosen krebserregender Stoffe geben könne.

Die erwähnte Gesetzesnovelle von 1958 folgte dieser Modellierung der Fremdstoffe. Zum einen sah sie keine Grenzwerte für bereits nachweislich krebserregende Stoffe vor. Zum anderen funktionierte das Lebensmittelgesetz nun nach dem Verbotsprinzip und „unterschied sich damit fundamental von der vorherigen Gesetzgebung“ (S. 82). Die Beweislast wurde umgekehrt, indem an die Stelle eines nachträglichen Verbots neuer Fremdstoffe (wenn deren Schädlichkeit nachgewiesen werden konnte) nun die durch vorherige Tests zu begründende Zulassung trat. Und im Rahmen der Summationsthese konnten nur aufwendige Langzeitstudien die Unbedenklichkeit eines Stoffs nachweisen. Damit institutionalisierte das Gesetz eine Verbraucherpolitik, die auf eine stark beschränkte Verwendung von Fremdstoffen und auf eine strikte Risikovermeidung abzielte.

Im zweiten Hauptkapitel beschreibt Heiko Stoff die Entstehung und weitere Entwicklung wichtiger Institutionen der Verbraucherpolitik. Dabei hebt er insbesondere auf deren Rolle im komplexen Aushandlungsprozess ab, der zur Gesetzesnovelle von 1958 führte. Aus geschlechterhistorischer Perspektive interessant ist die Koalition zwischen zahlreichen Hausfrauenverbänden sowie den weiblichen Abgeordneten von CDU / CSU, SPD und FDP, die bereits seit Anfang der 1950er-Jahre eine Novelle des Lebensmittelgesetzes forderten und vorantrieben. Der Autor kann zeigen, dass die Frauen in Parlamentsdebatten erfolgreich auf eine spezifisch weibliche Autorität und „Expertise der Hausfrau für Fragen der Ernährung und des Konsums“ (S. 193) verwiesen. Damit ordneten sie sich in einen seit dem 19. Jahrhundert zirkulierenden Diskurs ein, der das Konsumieren als weibliche Praxis begründete und es mit dem Narrativ der Hausfrau als Hüterin des Wohls und der Gesundheit der Kernfamilie verband.

Der Blick über 1958 hinaus zeigt, dass die gemäßigt puristisch-lebensreformerischen Positionen, die der Gesetzesnovelle und auch Druckreys Krebstheorie zugrunde lagen, sukzessive aus den staatlichen Institutionen der Verbraucherpolitik verdrängt wurden. Diesen Übergang untersucht der Autor in einem besonders lesenswerten Kapitel zur „gescheiterte[n] Globalisierung einer Fremdstoffpolitik der Risikovermeidung“ (S. 122) ebenfalls in transnationaler Perspektive. Er schildert, wie sich seit Anfang der 1960er-Jahre innerhalb von Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation und dann auch auf europäischer und nationaler Ebene eine Abkehr von der Summationsthese und eine Hinwendung zum Modell des „Acceptable Daily Intake“ vollzog. Dieses unterstellte keine sich irreversibel summierenden kanzerogenen Wirkungen mehr, sondern ging von der reversiblen Wirkung unterschwelliger Dosen aus. Damit war es möglich, für die Aufnahme schädlicher Fremdstoffe Grenzwerte festzulegen. Verbraucherpolitik basierte nun nicht mehr auf der Vermeidung, sondern auf der Kalkulation von Risiken. Der Autor deutet diese Umorientierung im Gefüge der Verbraucherpolitik als Anpassung an wirtschaftliche Interessen der Lebensmittelindustrie bzw. als das Resultat einer effektiven Lobbyarbeit.

Heiko Stoff hat eine sehr material- und detailreiche Studie vorgelegt, die das Feld der Verbraucherpolitik hinsichtlich der Regulierung von Fremdstoffen in seiner Breite erschließt. Dieser Blick in die Breite geht mit einer bisweilen leicht enzyklopädisch anmutenden Darstellung einher. Beim Rezensenten stellte sich mitunter der Wunsch nach einer genaueren Leserführung ein, um im Dickicht an Namen, Institutionen, zeitlichen und systematischen Zusammenhängen mehr ordnende Schneisen zu finden. Unter den ausgewerteten Quellen sind die Artikel der überregionalen Qualitätspresse hervorzuheben, die es Stoff gestatten, einzelne Diskursfäden zusammenzuführen und spezifische Konstellationen innerhalb des untersuchten Gefüges genauer zu profilieren. Als besonders fruchtbar erscheinen die Ansätze einer transnationalen Perspektivierung der beschriebenen Prozesse. Gerade die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse und neuen Fragen sind erhellend; sie können weitere Forschungen anregen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Detlef Briesen, Das gesunde Leben. Ernährung und Gesundheit seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010; rezensiert von Christian Sammer, in: H-Soz-Kult, 22.06.2012, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-18966> (25.08.2015). Auch wenn Briesen Studie konzeptionelle Schwächen aufweist, bietet sie einen guten Überblick zu den Entwicklungen in den USA und in (West-)Deutschland.
2 Vgl. Heiko Stoff, Wirkstoffe. Eine Wissenschaftsgeschichte der Hormone, Vitamine und Enzyme, 1920–1970, Stuttgart 2012; rezensiert von Christoph Kopke, in: H-Soz-Kult, 27.05.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19507> (25.08.2015).
3 Siehe auch Nepomuk Gasteiger, Der Konsument. Verbraucherbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz 1945–1989, Frankfurt am Main 2010.