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Titel
Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1972–1973. Herausgegeben von Bernard E. Hartcourt. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger


Autor(en)
Foucault, Michel
Erschienen
Berlin 2015: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Berthold Vogel, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen / Hamburger Institut für Sozialforschung

Michel Foucault (1926–1984) hatte ein obsessives Verhältnis zur Strafe. Gesellschaft war für ihn die Physik des Disziplinierens, des Aus- und Einschließens. In Gesellschaft zu sein bedeutet, Grenzen zu ziehen und begrenzt zu werden, zu unterwerfen und unterworfen zu sein. Die Apparaturen des Zwangs und die Mechanik der Macht sind allgegenwärtig. Die sozialen Helden Foucaults waren daher die Undisziplinierten und die Undisziplinierbaren, die Strafgefangenen und die Subversiven. Das alles macht den besonderen Foucault-Touch aus. Die Strafgesellschaft ist in uns und um uns. Das Gefängnis ist keine Institution der Bewirtschaftung des abweichenden Verhaltens, sondern eine Gesellschaftsform.

Wer diesen Touch und Ton sucht, der wird nicht enttäuscht sein, wenn er die Vorlesungen zur Hand nimmt, die Foucault zu Beginn der 1970er-Jahre am Collège de France gehalten hat. Wer „Überwachen und Strafen“, erschienen im Jahr 1975, als markantes soziologisches Schlüsselwerk betrachtet, das uns die Moderne in ihrer disziplinierenden Macht verstehen lässt, der findet in dem vorliegenden Band eine Reihe interessanter Vorarbeiten, die sich vor allem auf die soziale Praxis des „Strafens“ konzentrieren. Die Vorlesungen Foucaults wurden mit Kassettenrecordern aufgenommen und anschließend weitgehend wortgetreu verschriftlicht. In den transkribierten Lektionen ist deutlich zu spüren, dass sich Foucault zu Beginn des Jahres 1973 in die thematische Trias Macht, Disziplin und Strafe einübt. Er systematisiert, wiederholt und bekräftigt Argumentationsfiguren. So entsteht im Laufe der Semesterwochen das eherne Gehäuse der Strafgesellschaft.

Doch selbst wer dieser strafgesellschaftlichen Hermetik Foucaults zurückhaltend gegenübersteht, der kommt in dem Band, der 13 vorzüglich übersetzte und mit einem beeindruckenden Anmerkungsapparat versehene Vorlesungstranskripte enthält, durchaus auf seine theoretischen Kosten. Denn Foucault entwickelt im Laufe seines Vorlesungsprogramms nicht nur ein furioses Plädoyer, die Gesellschaft von ihren Straf- und Disziplinsystemen her zu denken. Die Vorlesungen zur Strafgesellschaft können auch als substantieller Beitrag zu einer Rechtssoziologie der Moderne gelesen werden. Das Recht ist bei Foucault ein basales Konstitutionsprinzip der sich etablierenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Es durchdringt und formiert die ökonomischen Verhältnisse. So ist der Aufstieg bürgerlicher Lebens- und kapitalistischer Wirtschaftsformen mit neuen Systemen des Strafens, der Sanktionierung und der Herrschaft verknüpft. Foucault richtet dabei seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Institutionen des Rechts (das Gefängnis!), sondern auch auf (Straf-)Praxen und Akteure des Rechts. Die Disziplinargesellschaft ist die Geschichte der Genese von Rechtssubjekten, die dem Recht nicht wie in einer feudalen Gesellschaftsordnung fremd und abweisend gegenüberstehen, sondern die sich vielmehr die repressiven Zwangsapparate einverleiben. Die Wirksamkeit des Rechts besteht in der Inkorporation und Habitualisierung seiner Normen.

Ganz auf dieser Linie der Subjektivierung des Rechts werden, wenn es um die Geburt des Gefängnisses geht oder um die Figur des Gefangenen, nicht abweichende Formen sozialen Verhaltens und deren Pönalisierung erklärt, sondern die Positionen der Subjekte in einem System der Bestrafung, der Macht und der Disziplinierung. Die Genese des Rechts, ob Familienrecht, Arbeitsrecht oder Strafrecht, enthält in diesem Sinne auch kein Freiheitsversprechen. Das Recht kennt für Foucault keine öffnenden, die eigenen Handlungsspielräume erweiternden Potentiale. Die Emanzipation der Einzelnen liegt in ihrem Ausweichen und Umgehen der Normen sowie in der Subversion des bestehenden Rechts.

So folgt das Vorlesungsprogramm Foucaults einer wohlgeordneten Dramaturgie. Die Rechts- und Strafsysteme der Neuzeit von der Folter über die Beschlagnahme bis zur Verbannung und Einsperrung sind seine Referenzpunkte. Wer die Strafgesellschaft zum Thema macht, dem geht es um die Ordnung des Krieges der Bürger untereinander und um die Ordnung der Torturen. Der Kriminelle ist dabei nicht mehr abweichender Teil der Gesellschaft, er ist deren Feind, der zu bekämpfen ist. Während zunächst die unterschiedlichen Spielarten der Strafsysteme vor der Hörerschaft ausgebreitet werden, macht Foucault recht bald darauf aufmerksam, dass sich mit der Erfindung des Gefängnisses die Dinge grundlegend ändern. Folter, Hinrichtung und Schauprozess verschwinden von der gesellschaftlichen Bühne. Hier entwickelt sich nicht nur ein neuer Strafapparat, sondern auch ein grundlegend verändertes Sozialmodell der Regierung und Gestaltung der Gesellschaft. Der Schlüsselbegriff für Foucault ist der Begriff der „Beschlagnahme“.

Das Gefängnis ist das Modell. Es setzt sich als stilbildende „Institution der Beschlagnahme“ (S. 290) durch. Die Gefängnisse sind kein strafrechtlicher Sonderfall oder gar der Ausdruck einer allmählichen Zivilisierung des Strafwesens – nach Jahrhunderten der Hinrichtungen, der öffentlichen Folterungen und der Zurschaustellung geschundener Leiber. Neben Kloster, Fabrik, Schule und Collège ist das Gefängnis „nur“ ein weiterer Ort der Herrschaft und der Unterwerfung. Markt und Staat bringen im sich etablierenden Kapitalismus seriell Institutionen der Beschlagnahme hervor. Foucault behauptet hier keine Allianz von Kapital und Politik; er will vielmehr zeigen, dass die neue Gesellschaftsordnung (die seinetwegen auch Kapitalismus genannt werden kann) Institutionen formiert, die ähnlich gebaut sind – unabhängig davon, ob sie kulturelle, wirtschaftliche, juristische, sozialpflegerische oder politische Zwecke verfolgen. In diesem Sinne verliert das Gefängnis mitsamt dem juristischen Strafsystem seine Sonderrolle. Es fügt sich vielmehr ein in die Institutionen der Kontrolle, der Verwaltung, der Zurechtweisung und der repressiven Rhythmisierung des Sozialen. Die Strafgesellschaft ist daher kein anomisches Gebilde von Tribunal und Rache, sondern ein Produkt von Kalkül und Überzeugung.

Die „Institutionen der Beschlagnahme“, die sich als ökonomische und juristische Ordnungsform durchsetzen, erfüllen gesellschaftliche Grundfunktionen. Eine zentrale Funktion ist es, die Kontrolle über die Zeit zu gewinnen. Es geht um die Einhegung von Glücksspiel und Kneipenbesuch, von Faulheit und in den Tag leben. Die Fabrik, das Krankenhaus oder die Schule übernehmen in ähnlicher Weise wie das Gefängnis die Kontrolle über das Leben. Es geht in diesen Institutionen nicht nur um die Herstellung von bestimmten Produkten oder Dienstleistungen, um Gesundheit oder Bildung. Als Infrastrukturen greifen sich Schule oder Krankenhaus, Fabrik oder Gefängnis „aus dem Leben gewisse Punkte heraus, nämlich im Allgemeinen den Körper, die Sexualität und die zwischenmenschlichen Beziehungen“ (S. 292). In die institutionellen Grundfunktionen der Arbeit, der Pflege und des Lernens mischen sich „Beschlagnahmen“, die den Alltag, die Freizeit, die Gestaltung der sexuellen und familiären Beziehungen in den Griff zu bekommen versuchen. „Die Beschlagnahmeinstitution hat […] die Funktion, das Soziale herzustellen. Zwischen den Klassen, bei denen die Systeme der Beschlagnahme greifen, und dem Staat, auf den sie sich stützen, haben diese Systeme – unter anderem – die Aufgabe, ein Gesellschaftsbild, eine gesellschaftliche Norm zu erzeugen. Die Beschlagnahmeinstitutionen stellen etwas her, was gleichzeitig Verbot und Norm ist und Wirklichkeit werden soll: Sie sind Institutionen der Normalisierung.“ (S. 295)

Kalkül und Überzeugung – die Strafgesellschaft normalisiert. Die sozialen Verhältnisse werden durch Fabrik und Arbeitersiedlung, durch Bildung und Berufswahl, durch „Überwachen und Strafen“ einer „ununterbrochenen Judikatur“ (S. 296) unterzogen. Die Gesellschaftsmitglieder unterliegen einer richtenden Instanz, „die urteilt, Strafen verhängt oder Belohnungen gewährt“ (ebd.). Überall in der Gesellschaft, wohin wir uns auch bewegen, an wen wir uns auch wenden, ist eine solche richtende Instanz am Werk. Das soziale Leben ist eine wohlgeordnete Abfolge von Beurteilungen und Zu-Richtungen. Dort, wo Individualisierung wächst, ist – im Verständnis Foucaults – die Normierung nahe.

Foucault zu lesen hat zweifelsohne etwas Suggestives. Bei der Lektüre der Vorlesungstranskripte kann man es sich gut vorstellen, dass Foucault in seinen Vorlesungen – noch mehr als in seinen Schriften – etwas Bezwingendes, ja selbst etwas In-Beschlag-Nehmendes hatte: die Kritik der Macht, die Rebellion gegen die Apparate, das Aufbegehren gegen Integration und Institution – das hat Wucht. Gerade in Zeiten, in denen alles nach „Bildung“ ruft, in denen das gesunde Leben auf eigenen Wunsch der Subjekte von Apple und Google gemessen und vermarktet wird, in denen „Integration“ zum unhinterfragten politischen Mantra gegenüber allen „Fremden“ geworden ist – in solchen Zeiten tut Foucault-Lektüre gut. Sie tut selbst denen gut, die sehr ernsthaft und wohl begründet daran zweifeln, dass öffentliche Güter, staatliche Infrastrukturen oder Betriebe und Unternehmen nur über den Leisten der Strafgesellschaft gezogen werden können.

Foucaults Invektiven, die in „Die Strafgesellschaft“ vorgetragen werden, sind zwar von einer aufreizenden Reduktion: Wer sich in Gesellschaft begibt, kommt in einer Disziplinaranstalt an (und gegebenenfalls auch um). Denn unsere Hirne und Herzen sind ganz und gar von den Dispositiven des Strafens und der Disziplinierung umfasst. Und dennoch ist diese Bereitschaft Foucaults, die sozialen Dinge und Beziehungen auf einen Punkt zu reduzieren, normativ wertvoll. Denn sie sorgt heute stärker als noch in den frühen 1970er-Jahren für einen anderen Ton in der Debatte. Während die ökonomischen und politischen Eliten smarte Technik stolz und selbstgewiss als sozialen Fortschritt betrachten, tönen die Vorlesungen Foucaults mit unveränderter provokativer Kraft wie ein Ruf aus fernen Zeiten: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ (Ton Steine Scherben, 1970/71). Liefern Foucaults Vorlesungen zur Strafgesellschaft den subversiven Soundtrack zur Inkorporierung des Digitalen?