Cover
Titel
Nebenfolgen in der Geschichte. Eine historische Soziologie reflexiver Modernisierung


Autor(en)
Steiner, Benjamin
Reihe
Historische Zeitschrift, Beihefte N.F. 65
Erschienen
Anzahl Seiten
141 S.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Timothy Goering, History Department, Harvard University

„Die ehemals so fruchtbare Allianz zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft bedarf einer Neuauflage“ (S. 17). So beginnt Benjamin Steiners kleines Buch, in dessen Zentrum die Frage steht, ob sich das Nebenfolgentheorem der Theorie reflexiver Modernisierung als Werkzeug historischer Analyse eigne. Ulrich Becks Soziologie für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen, ist ein spannendes und lobenswertes Unterfangen. Was genau ist dieses Nebenfolgentheorem und welche Dienste könnte es der Geschichtswissenschaft anbieten? „Unter Nebenfolgen werden hier solcherlei Konsequenzen verstanden, die das ‚Kohärenzgefüge‘ und das Gefühl der Einheit einer Gesellschaft und Epoche grundsätzlich unterwandern“ (S. 19). Damit stehen makrohistorische Wandlungsprozesse im Blickfeld, nicht Handlungen individueller Akteure. Das ist eine sehr wichtige Einschränkung, vor allem für Historiker. Denn wenn Historiker meist über Nebenfolgen sprechen, so tun sie dies nicht ausschließlich aus einer makrohistorischen Perspektive, sondern haben häufig individuelle Handlungen vor Augen. Es geht in Steiners Buch aber nicht um das geschichtstheoretisch relevante Thema von unbeabsichtigten Folgen intentionaler Handlungen in der Geschichte, wie sie zum Beispiel Hermann Lübbe einmal thematisiert hat.1 Es geht vielmehr um hintergründige Mechanismen großer Epochenumbrüche und langjähriger Transformationsprozesse. „Als Werkzeug für den Historiker“, schreibt Steiner, „eignet sich der Nebenfolgenbegriff nur in einer groben Art und Weise; genauerer und empirischer Überprüfung hält er nicht stand“ (S. 19).

Steiner ruft Historiker dazu auf, den Blick auf die Geschichte durch die „Nebenfolgen-Brille“ (S. 34) zu schärfen und von den Hauptdiskursen auf ihre Nebendiskurse zu fokussieren. Mit diesem Blickwechsel könne die Geschichtswissenschaft die Eierschalen überholter Theorien beseitigen. In Steiners Augen lastet die Modernisierungstheorie noch immer wie ein Alp auf den Gehirnen vieler Historiker. Mit dem Nebenfolgentheorem aber habe man jenseits aller modernisierungstheoretischer Annahmen ein „heuristisches Modell, mit denen historischer Wandel darstellbar ist.“ (S. 33)

Wer nach makrohistorischen Nebenfolgen Ausschau halte, so Steiners zentrale These, sollte am Epochenbeginn nicht nur nach den angekündigten Absichten einer Umbruchsbewegung fragen, sondern auch nach den peripheren Diskursen über Nebenfolgen, die am Ende einer Epoche in den Fokus treten und zum umwälzenden Aufbruch dienen. Die grobe Idee dieses Musters ist einfach: Jede neue Gesellschaftsordnung erzeugt Nebenfolgen, die zunächst eine Zeit lang umhergeistern, dann aber in Umbruchszeiten die ursprüngliche Ordnung heimsuchen und eine Neuordnung forcieren. Jede Neuordnung gebiert jedoch neue Nebenfolgen, die wiederum die Ordnung in Frage stellen und neue Umbrüche und Neuordnungen produzieren. Neuordnung gebiert Nebenfolgen, Nebenfolgen forcieren Neuordnung – eine Art struktureller Vatermord ad infinitum. Und keine Ordnung könnte jemals so total sein, dass sie nicht irgendwann nolens volens sich selbst einen Strick aus ihren eigenen Nebenfolgen dreht. Wer den Diskursen über Nebenfolgen Beachtung zolle, so Steiner, schärfe den Blick für historischen Wandel.

Um von der Theorie zur Praxis zu stoßen, wählt Steiner vier kurze historische Fallbeispiele. (1) Zunächst untersucht er die sogenannte „Krise“ des Historismus, die sich seit den 1890er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg erstreckte. (2) Danach nimmt er den Epochenbruch um 1800 unter die Lupe. (3) Als drittes Beispiel wählt Steiner das Epochenjahr 1517 und diskutiert die Rolle des Bauernkriegs. (4) Schließlich springt die Untersuchung zurück in die Antike und untersucht die Krise der athenischen Demokratie. Aufgrund der Kürze dieser Rezension konzentriere ich mich ausschließlich auf das dritte Fallbeispiel.

Ein scheinbar klarer Fall einer gesellschaftlichen Neuordnung ist die Reformation. Luther unterwanderte schließlich mit seiner Lehre die kirchlichen Autoritäten und löste eine Kettenreaktion aus, die politische, geistliche und gesellschaftliche Strukturen aufbrach. Für Steiner steht in der Mitte von Luthers Kernkritik die Koinzidenz von geistlicher und weltlicher Herrschaft, und seine Hauptforderung war die Erneuerung ausschließlich der geistlichen Herrschaftsordnung. Eine schwerwiegende unbeabsichtigte Nebenfolge dieser Forderung sei allerdings, dass seine Schriften als Aufruf verstanden wurden, auch die Legitimität weltlicher Obrigkeiten in Frage zu stellen. Während also die Hauptdiskurse der Reformation scheinbar um Erneuerung der geistlichen Herrschaftsordnung und um soteriologische Fragen kreisten, sei der Bauernkrieg von 1525 als unbeabsichtigte Nebenfolge der Reformation ausgebrochen. In dem Flugblatt der „Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“ der Memminger Bauern bezog man sich schließlich auf Luthers Schriften als religiöse Legitimation. Luther sprach sich aber bekanntlich gegen den Bauernkrieg aus. Für ihn koinzidierte die geistliche Freiheit jedes Christen nicht immer mit der sozialpolitischen Freiheit aller Bürger, Bauern oder Knechte.

Für Steiner stellt Luthers Position in dieser Begebenheit einen großen Widerspruch dar, den Luther für sich nur so auflösen konnte, so Steiner, indem er den Bauernkrieg als teuflische Perversion seiner Lehre deklarierte. Dass Luther den Bauernkrieg so für sich entknotete, ist für Steiner ein Indiz eines Nebenfolgenbewusstseins. Die Figur des Teufels liest Steiner als eine „Metapher für die Nebenfolgen“ (S. 80). Mit der Figur des Teufels hatte Luther ein erlösendes Erklärungsmuster zur Hand, womit er sich der Last der Nebenfolgen seiner theologischen Position entledigen konnte.

Steiners Darstellung von Luther und der Reformation ist zwar hochgradig interessant, aber als historische Erklärung des Sachverhalts weder hinreichend noch ganz überzeugend. Dass Luthers Lehre und Schriften als „die Reformation“ gleichgesetzt werden, ist in der Forschung längst nicht mehr Standard. Und dass der Teufel ein „Ausdruck des spätmittelalterlichen Nebenfolgenbewusstseins“ (S. 84) sei, ist eine gewagte, fast spielerische These, die bedeutende theologie- und ideengeschichtliche Aspekte des Teufelsglaubens ignoriert. Steiners Bemerkungen über Luthers angeblich widersprüchliche Position sind zudem eine nahezu psychohistorische Erklärung, und es überrascht, dass der Leser der Einleitung entnimmt, dass das Nebenfolgentheorem eine makrohistorische Perspektive hat, in diesem Fallbeispiel aber auf eine mikropsychologische Erklärung verwiesen wird. Insgesamt sind Steiners Ausführungen durchaus anregend, doch der explanative Mehrwert des Nebenfolgentheorems für die Beschreibung des historischen Wandels im 16. Jahrhundert bleibt vage. Als Historiker wünscht man sich eine stärkere Einhegung zahlreicher Theorieannahmen, die deduktiv auf die historischen Zusammenhänge projiziert werden.

Anderes und Ähnliches könnte über die weiteren Fallbeispiele gesagt werden. Aus Platzgründen gehe ich aber am Ende auf ein anderes theoretisches Problem ein. Problematisch ist, dass Steiner die zentrale konzeptionelle Kategorie seiner Überlegungen nicht explizit thematisiert, die der Begriff einer Nebenfolge logisch voraussetzt – nämlich Kausalität. Damit schleichen sich Unklarheiten ein, denn Steiner unterscheidet nicht zwischen der kausalen Wirkungskraft von Ideen im Vergleich zu Handlungsereignissen. Das ist ein Problem, denn damit etwas überhaupt als Nebenfolge verbucht werden kann, muss es kausal aus einem ursprünglichen Zustand gefolgt sein. Hängt der erste Zustand nicht kausal mit dem zweiten zusammen, spricht man nicht von einer Nebenfolge, sondern von einem eigenen, unabhängigen Zustand. Handlungen und Ereignisse können selbstverständlich kausal zusammenhängen, aber Ideen nicht. Sie stehen vielmehr in kontingenten und modalen Zusammenhängen, nicht aber in kausalen. Und deshalb muss man strenggenommen sagen, dass Handlungen und Ereignisse Nebenfolgen haben können, Ideen aber nicht. So können auch nur Handlungen und Ereignisse eine Ordnung nachhaltig ins Wanken bringen, nicht aber allein Ideen. Nur diejenigen Ideen, die konstitutiv sind für eine Handlung und die als Handlungsgründe handlungsleitend werden, spielen in den Nebenfolgen eine Rolle.

Damit werden einige historische Analysen Steiners (wenn auch nicht alle) in Frage gestellt. Die theologischen Ideen des Bauernkriegs mögen beispielsweise Ähnlichkeiten aufweisen zu Luthers reformatorischen Leitideen, aber zu implizieren, sie seien eine Nebenfolge, geht zu weit und vermengt den kategorialen Unterschied zwischen Ideen und Ereignissen. Leider diskutiert Steiner weder die Unterscheidung zwischen Ideen, Handlungen und Ereignissen noch die Rolle der Kausalität für das Nebenfolgentheorem. Eine schärfere Differenzierung dieser analytischen Kategorien wäre hilfreich gewesen.

Auch wenn kritische Zweifel meist stärker wiegen als Zustimmung, muss hervorgehoben werden, dass Steiner ein anregendes Buch geschrieben hat, das bei anderen Lesern mehr Zustimmung finden könnte. Alle, die sich mit historischem Wandel beschäftigen, sollten sich Zeit nehmen, dieses kleine Buch zu lesen. Eine fruchtbare Allianz zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft wäre sehr zu wünschen und man kann nur hoffen, dass mehr Schritte in diese Richtung gemacht werden.

Anmerkung:
1 Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel 1977, S. 54ff.

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