S. Gruzinski: Drache und Federschlange

Cover
Titel
Drache und Federschlange. Europas Griff nach Amerika und China 1519/20


Autor(en)
Gruzinski, Serge
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Trakulhun, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Im Jahr 1519 bekommt Moctezuma Xocoyotzin, „Kaiser der Azteken“, zum ersten Mal Besuch aus Spanien. Am 8. November stehen Hernán Cortés und seine Soldaten vor den Toren der mexikanischen Hauptstadt Tenochtitlan. Nur wenig später, im Juni 1520, betritt eine offizielle portugiesische Delegation unter der Führung von Tomé Pires chinesischen Boden, um Kaiser Zhengde die Aufnahme von Handelsbeziehungen anzubieten. In Mexiko mündete die interkulturelle Begegnung bekanntlich bald in der Zerschlagung des aztekischen Reiches und der Kolonisierung Mittelamerikas durch die spanischen Eroberer. In China verlief die Geschichte ganz anders. Hier wurden die Portugiesen entweder hingerichtet oder man steckte sie in den Kerker, schloss die Tür ab und warf den Schlüssel weg. Pires selbst entging dem Schicksal seiner Landsleute, sah seine Heimat aber nie wieder. Die chinesischen Behörden verboten ihm, das Land zu verlassen und verbannten ihn in die chinesische Provinz Jiangsu, wo sich seine Spur verliert. Cortés wurde zur Symbolfigur der spanischen Unterwerfung der Neuen Welt (im Guten wie im Schlechten), Tomé Pires dagegen wurde vergessen. Und doch wurden in beiden Fällen Weichen gestellt, die den Fortgang der Weltgeschichte bestimmen sollten. Am Widerstand Chinas und später auch Japans, meint Serge Gruzinski in seinem Buch Drache und Feuerschlange, scheiterten die weltumspannenden Ambitionen der spanisch-portugiesischen Krone. So entstand ein "euroamerikanische[r] Westen" (S. 303), während Asien zum Anderen Europas wurde.

Gruzinski spricht an mehreren Stellen seines Buches deutlich aus, welche Gründe seiner Meinung nach für den unterschiedlichen Ausgang europäischer Expansionsversuche in beiden Weltgegenden ausschlaggebend waren. Sie seien nicht bei Spaniern oder Portugiesen zu suchen, sondern bei ihren Gegnern: Die politische Zersplitterung der mesoamerikanischen Welt vor der Ankunft der Spanier, das schwache Immunsystem der Amerikaner, die überlegene Bewaffnung der Fremden und deren brutale Rücksichtslosigkeit hätten den Untergang des mexikanischen Reiches unabwendbar gemacht. In China hingegen hätten es die Portugiesen von Beginn an mit einer zermürbenden Imperialbürokratie zu tun gehabt, die ihnen zuerst ihre Bewegungsfreiheit nahm, sie dann politisch kaltstellte und schließlich vernichtete. Diese Unterschiede waren welthistorisch folgenreich. In Amerika begann mit Cortés das Zeitalter der europäischen Kolonialherrschaft, in China dagegen blieb die portugiesische Expedition von 1520 eine Fußnote der Diplomatiegeschichte.

Diese Einsichten sind nicht neu. Gruzinski bettet sie jedoch in eine Geschichte der Globalisierung ein, die er nicht als Expansionsgeschichte Europas, sondern möglichst quellennah vor allem aus der Perspektive der "Anderen" schreiben will. Dafür schöpft der Autor, der ein Experte für die Geschichte Lateinamerikas ist, aus einem Fundus zeitgenössischer amerikanischer, portugiesisch-spanischer und (soweit diese in europäischen Sprachen vorliegen) chinesischer Zeugnisse. Seine Erzählung wird vom steten Wechsel des Blickwinkels vorangetrieben. Die alternierenden Handlungslinien in Europa, Mexiko und China werden immer wieder in einer Art Parallelmontage gegeneinandergestellt. Auf diese Weise erfährt man viel über die Vorstellungswelten der Indios, die Hybris der europäischen Konquistadoren und ebenso manches über die möglichen Motive der chinesischen Beamten, die alles dafür taten, den "Barbaren aus dem Westen" ihre Grenzen aufzuzeigen.

Mit einem gewissen Erstaunen stellt Gruzinski fest, wie wenig Interesse die Chinesen den europäischen Fremden letzten Endes entgegengebracht haben. Während Spanier und Portugiesen (und nach ihnen die protestantischen Kolonialmächte) einigen Aufwand betrieben, selbst die entferntesten Weltgegenden umfassend zu beschreiben, und während auch die amerikanischen Ureinwohner bald dazu gezwungen waren, sich mit ihren neuen Herren auseinanderzusetzen, machten sich die Chinesen nicht einmal die Mühe herauszufinden, woher die portugiesischen Gesandten genau gekommen waren. Tatsächlich muss man im europäisch-chinesischen Verhältnis dieser Zeit von einer manifesten Asymmetrie der Wahrnehmungen sprechen, denn der seit dem 16. Jahrhundert stetig wachsenden Zahl an europäischen Chinaberichten stehen nur wenige zeitgenössische chinesische Zeugnisse gegenüber, die sich mit Europa beschäftigen.

Der schroffe Ethnozentrismus der Chinesen wurde von Europa als borniert und fremdenfeindlich empfunden. Heute wird ihr offenes Desinteresse an kulturellem Austausch sogar häufig als ein Grund genannt, warum China gegenüber Europa auf dem Weg in die "Moderne" schließlich ins Hintertreffen geraten ist. Beides mag richtig sein, doch haben die Chinesen die Gefahr, die im 16. Jahrhundert von den Portugiesen ausging, offensichtlich schnell erkannt und erfolgreich beseitigt. Zudem erinnert Gruzinskis Buch auch daran, dass Chinas selbstgewählte Distanz zu Europa mehr als dreihundert Jahre lang politisch gut funktioniert hat. Die spanisch-portugiesischen Kolonialherren mussten ihre Pläne zur Eroberung Chinas bald begraben. Vorübergehend wurde China sogar zu einem Vorbild für Europa. Philosophen und Schriftsteller wie Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff oder Voltaire bewunderten die Stabilität des fernöstlichen Imperiums und die Dauerhaftigkeit seiner staatlichen Strukturen. Erst durch die Opiumkriege im 19. Jahrhundert gelang es den europäischen Mächten, dem Reich der Mitte vorübergehend ihren Willen aufzuzwingen.

Gruzinski rekonstruiert die Ereignisse von 1519/20 konsequent im Denkhorizont der Zeitgenossen und versucht, sie möglichst dicht zu beschreiben. Das Verdienst seines ursprünglich 2012 auf Französisch erschienenen Buches besteht dabei weniger in der Entdeckung zuvor unbekannter Zusammenhänge oder Quellen, die diese frühe Phase weltweiter Verflechtungen in ein neues Licht stellen würden, sondern vielmehr im Bestreben, das "Zeitalter der Renaissance" gleichsam polyzentrisch zu behandeln. Gruzinski ist in der Darstellung ausdrücklich um Ausgewogenheit bemüht: Die fernen, weil zumeist indirekt übermittelten Stimmen der Mexikaner finden bei ihm ebenso Gehör wie die Ansichten chinesischer Augenzeugen und Chronisten, und natürlich kommen auch die spanisch-portugiesischen Akteure angemessen zu Wort. Allerdings stößt das Verfahren dort an Grenzen, wo die historische Überlieferung fehlt. Das Einfühlungsvermögen des Historikers ist dann auf Mutmaßungen angewiesen. Das Bild, das bei Gruzinski vom Beginn der Globalisierung entsteht – 1521 ist das Todesjahr des ersten Weltumseglers Ferdinand Magellan – bleibt daher in mancher Hinsicht noch fragmentarisch, zuweilen auch psychologisierend-spekulativ, ist aber zugleich auch so komplex und vielschichtig, dass Gruzinski mehr als nur eine weitere Geschichte der Ausbreitung europäischer Macht in der Welt erzählt. In der Frühneuzeitforschung (zumal der deutschsprachigen) ist diese Perspektive noch eher ungewohnt. Darum kann „Drache und Feuerschlange“ gerade hier nachdrücklich als Anregung empfohlen werden, die Epoche stärker als bisher auch in ihren weltweiten Bezügen zu betrachten.

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